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Die Augen

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10.02.2000
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Die Augen

Ein Blick. Aus einem Dutzend Blicke und doppelt so vielen Augen. Welcher trifft mich? Seiner. Nicht die der anderen. Deren Blicke haben sich an Karin geheftet. Auf das kleine Schwarze, auf 85D, Kleidergröße 36, die Trennlinie von Kleid und Haut eine Handbreit über den Knien. Setzt sie sich? Rutscht es hoch? Das Starren ist penetrant aufdringlich. Seiner jedoch fixiert mich. Und ich ihn. Es ist gruselig heiß. Karin hat das Schwarze geschenkt bekommen von ihrer Schwester. Sie sieht fantastisch aus. Allerdings sieht sie auch in allen anderen Klamotten fantastisch aus. Karin starrt zurück und ein Kerl nach dem anderen dreht sich weg, sucht Alternativen. Die halb abgebrannte Kippe im Aschenbecher, gerissene Fingernägel, den Billardtisch, ein Glas. Verstohlene Seitenblicke werden daraus. Julchen kommt, die Chefin.
»Hi, ihr beiden, was kann ich euch bringen?«
»Ein Bitter Lemon für mich, bitte!«, sagt Karin, nimmt einen Bierdeckel vom Stapel und legt ihn vor sich.
»Für mich einen großen Milchkaffee, bitte!«
»Klar«, bestätigt Julchen und sieht mich an. »Wenn es nächsten Sonntag so scheiße heiß ist, verlegen wir die Lesung um eine Woche, oder?«
»Kein Problem. Wird ja auch schnell zu stickig. Lampen, Kerzen, alle rauchen, das macht keinen Spaß.«
Sie nickt. »Was meinste, wann sollen wir das entscheiden?«
Ich puste Luft aus, wackle mit dem Kopf. Links, rechts, keine Ahnung, wie ich da entscheiden soll. Aber irgendetwas muss ich natürlich sagen. »Heute ist Freitag, warten wir ab bis Mittwoch. Mittwochabend entscheiden wir dann. Ist das rechtzeitig genug für dich?«
Julchen nickt. »Bin einverstanden.« Sie zieht ab, ich schiebe den Hocker an die Wand und lehne mich an.
»Bisschen unwohl fühle ich mich ja schon in diesem Ding«, sagt Karin leise und zieht es ein Stück nach unten. Vergebliche Liebesmühe.
»Frag doch mal Julchen, ob sie Ersatzklamotten hat. Ich wette, da lässt sich was finden. Ihr habt die gleiche Größe. Außerdem wohnt sie nebenan. Sie leiht dir bestimmt eine Hose.« Karin schüttelt den Kopf.
»Nee, ist schon okay. Ich wollte es ja anziehen, aber … können wir die Plätze tauschen? Die starren alle rüber. Ich kann gar nicht entspannt sitzen.«
»Gerne. Ich bin aber erst mal auf Toilette.«
»Lass mich nicht so lange alleine.«
»Wenn was ist, geh zu Julchen. Die schmeißt die Kerle hochkant raus.« Karin nickt und ich muss an das rechte Ende der Theke schauen. Der Blick. Das Gesicht. Älter als ich, zehn Jahre mindestens. Ich kenne es. Zügig gehe ich zur Toilette.

***​
Zweimal muss ich noch die Augen des Anderen suchen auf dem kurzen Weg zum Klo. Ich sehe ein schwarzes Hemd, starken Bartwuchs in blassem Gesicht. Schwarze Haare. Aber nur noch zur Hälfte. Eine Art nach vorne offene Tonsur hat ihm das Meiste genommen. Und ich wette, die Hose ist ebenso schwarz. Die Tür quietscht hell, als ich sie öffne. Niemand drin. Ich kenne den Kerl. Bei Julchen sehe ich ihn allerdings zum ersten Mal. Die Augen oder eher: der Blick. Schnell Wasser abschlagen, Hände waschen und zurück zu Karin. Vielleicht ist es gut, irgendwohin zu fahren. Ins Grüne, Obst und Brezeln dabei. Oder wir könnten ihre Mutter besuchen. Dort steht immer ein gedeckter Apfelkuchen auf dem Tisch.
Als ich die Tür wieder öffne, sehe ich sie schon auf dem anderen Hocker sitzen. Julchen ist bei ihr. Sie rauchen beide und reden. Der Kerl liest etwas und ich bin froh. Doch kurz vor dem Stehtisch hebt er den Kopf und sieht mich an. Ich weiß in diesem Augenblick, dass sich seine Augen in mich gebrannt haben. Nicht gestern. Nicht bei der Bundespost oder sonst wo in den letzten Jahren. Aber wann?
»Ich gehe mit Jule kurz rüber und zieh mir was anderes an«, sagt Karin.
»Wir tauschen Klamotten. Ich finde das Teil super«, ergänzt Julchen.
»Es wird dir stehen.«
Sie grinst und winkt der Aushilfe hinter der Theke zu, nimmt Karin an die Hand. Kurz vor dem Ausgang lachen alle beide. Der Milchkaffee riecht gut. Einen Löffel Zucker hinein, umrühren, die weiße Kugel wird in den Pulk der anderen Billardkugeln gestoßen. Es klickert vielmals. Ich hatte recht. Er hat eine schwarze Hose an. Pusten, dann einen Schluck trinken. Von tief unten nähern sich die Augen. Sie sind in mir. Das weiß ich jetzt. Und dunkel, vielleicht schwarz. Im Unterbauch kribbelt es. Pochen am Hals, Schweiß auf den Handflächen. Ich muss tief einatmen. Sehr tief. Und noch einmal. Aber es nutzt nichts. Etwas geschieht. Rechts auf einem Vorsprung an der Wand liegen Zeitschriften. Ich greife zum SPIEGEL und beginne zu lesen. Nein, lesen kann ich es nicht nennen, eher durchblättern. Ablenkung suchen, wo es keine gibt. Ich trinke Schluck um Schluck, egal wie heiß es noch ist, zahle für uns, hebe kurz die Hand und gehe ins Freie.
Die Hitze trifft mich. Von den beiden ist nichts zu sehen. Kurzentschlossen bringe ich die wenigen Meter bis zum übernächsten Haus hinter mich und klingle bei Julchen. Der Summer tönt. Hochparterre, die Stimmen sind deutlich zu hören. Lachen, sie haben Spaß. Jule schaut ums Eck.
»Heinrich? Komm rein!«
Langsam beruhige ich mich und nehme in der Küche Platz. Ziemlich unaufgeräumt. Eine Junggesellin, niemand meckert wegen des Geschirrs in der Spüle. Karin kommt.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht … hab mich unwohl gefühlt. Als ob da eine Darmgrippe kommt.«
»Oha!«, sagt Jule. »Dann bleib bitte auf Abstand. Das kann ich gar nicht brauchen.«
Karin legt die Hand auf meine Stirn. »Ui, ganz schwitzig und heiß. Ist vielleicht Fieber.« Sie hat eine ausgewaschene Jeans an, die ihr sehr gut steht. Dazu eine orangene Bluse mit breitem Revers.
»Sieht wirklich toll aus«, stelle ich fest.
»Bleibt es dabei? Du meine Klamotten und ich das kleine Schwarze?«
»Klar, Jule. So Kleider sind nicht meins. Ich fühle mich echt unwohl. Die ganze Zeit wird man angestarrt.«
»Dann lass uns gehen«, sage ich und stehe auf.
***​
Im Hinterkopf ist er. Der Blick. Selbst hier im Grünen. Die Idee, in den Wald zu fahren, war gut, aber die meisten meiner Gedanken sind nicht bei den Bäumen, nicht bei dem Obstsalat oder Karins fein gezeichnetem Profil. Selbst die zur Attacke trompetenden Ameisen sind weit weg. Karin hat zwei Esslöffel vom Obstsalat hinter einem Baum auf den Boden gelegt. Das Schlaraffenland für die kleinen Tierchen.
»Was ist denn mit dir? Du bist so weit weg. Stimmt was nicht?« Ich stehe auf, schaue auf meine Schuhe, Karins kurze Haare. Sie hebt den Kopf.
»Können wir gehen?«
Nur ein Nicken von ihr. Etwas kommt. Noch ist es hinter einem entfernten Grat verborgen. Aus der Kneipe geflüchtet, nun raus aus dem stillen Wald, kaum was vom Obstsalat gegessen. Wohin jetzt?
»Ich weiß nicht, was ist. Keine Ahnung. Darmgrippe ist es auf jeden Fall nicht. Ich bin so unruhig. Kann mich keine Sekunde konzentrieren.« Karin packt zusammen, nimmt meine Hand, gibt mir eine Lucky, aber sie schmeckt nicht. »Weißt du noch, dieser Katastrophenfilm? Mit dem Erdbeben? Als die Kamera in die Erde geht, unten baut sich das Chaos auf und oben ist noch alles in Ordnung?« Karin nickt, raucht die Zigarette weiter. Ich tue ihr unrecht. »So fühle ich mich. Alles ist in Ordnung, aber da hinten in meinem Kopf, da ist ein Blick. Da sind Augen.«
»Augen?« Ihre Stimme klingt nicht sehr überzeugt.
»Erinnerst du dich an den Kerl, der nicht dich angesehen hat, sondern mich?« Sie kratzt die rechte Backe. Eine Mücke hat zugeschlagen. Nachdenken bis zum Ende der Kippe, die sie austritt und einsteckt.
»Ehrlich gesagt, nein. Ich könnte dir noch nicht mal sagen, wie viele mich angestarrt haben. Aber das war unheimlich. Ich habe mich gefühlt wie das Schaf vor dem Wolfsrudel.«
»Ja, kann ich verstehen.« Ich löse die Hand und lege den Arm um ihre Schulter. Sie drückt sich an mich. »Wir könnten uns von unterwegs Pizza mitnehmen und dann mal sehen, was in der Glotze kommt. Oder wir lieben uns einfach bis wir einschlafen.«
»Pizza und lieben«, höre ich. Eine schöne Vorstellung. Die Angst im Nacken werde ich hoffentlich neben ihr los.
***​
Über uns sind zwei Monde. Warum sind es denn zwei Monde?, frage ich jemand, der nirgendwo steht, aber doch bei mir ist. Ganz nah. Weiß nicht. Offenbar weiß es niemand. Sie stehen so nah beieinander. Fast unmöglich. Gravitation, will ich sagen, aber dieser Jemand streckt die Hand, den Finger, zeigt nach oben. Es sind keine Monde. Es sind Augen. Seltsame Worte. Augen? Die Monde kommen näher. Es sind Augen! Noch näher. Schwarze Augen! Je näher, desto kleiner. Lass uns weg!, rufe ich. Renn! Aber niemand rennt weg. Warum denn nicht?! Um Gottes willen, können Beine so schwer wie dorische Säulen werden? Da höre ich doch eine Stimme, die ich kenne. Es ist meine. Sicher? Ganz sicher. Und dann bin ich vor mir. Wusste nicht, dass ich mal so klein war. Die Augen sind nicht bei mir, sie sind um den Kleinen. Kreisen drum herum. Das Bündel auf dem Boden wimmert. Schreien geht nicht. Rufen geht nicht. Die Welt ist eine Leere. Seltsam, dass ich weiß, wie es im Kleinen aussieht, der ja ich bin. Die Augen meinen nur ihn. Immer drum herum, dann stoppen sie und sehen mich an, den Großen. Ich kann nicht mehr atmen. Ersticken werde ich. Der Tod kommt mal so nebenbei, stolpert, fällt über mich, sagt Hallo und wird mich mitnehmen.

Nicht die Augen schlagen mich. Ich schlage mich. Der Kleine schlägt mich. Immerzu, in einem fort. Eiskalt wird es.
»Heinrich! Wach auf, verdammt!«
»Nimm den Jungen mit«, sage ich verzweifelt. »Er muss mit!«
»Welcher Junge?«
»Ich!«
Stille ist im Zimmer. Heftiges Atmen einen Moment später. Ich bin das. Völlig verschwitzt, alles klebt, die Decke feucht, das Laken. Licht wird angeschaltet. Karin kniet neben mir. Nichts an, wie ich. Wir schlafen immer nackt, halten uns fest, sommers, wie winters.
»Meine Wangen brennen.«
»Ich hab dir ein paar runtergehauen. Du hast fantasiert, dich hin und her gewälzt, geredet, geweint, bist gar nicht wach geworden. Ich hatte Angst um dich! Wirklich, Heinrich, das war furchtbar.«
Mehr als Nicken schaffe ich nicht. Mein Puls hat sicher noch mehr als 120. Ich stehe auf und gehe in die Küche, trinke ein Glas Wasser. Das im Fenster bin ich. Lieber auf den Stuhl sitzen, Beine ausstrecken. An Karin denken, die Pizza und wie wir uns liebten. Nichts steht zwischen uns. Doch. Jetzt ist da etwas. Falsch, es ist nicht zwischen uns, es ist in mir. Ich bin es.

***​
Ich schlafe schlecht seit zwei Wochen. Eine unruhige Nacht folgt der nächsten. Tagsüber bin ich kaum zu gebrauchen. Meinen Dienst bei der Bundespost stört das nicht, dort gibt es noch mehr, die im Halbschlaf herumlaufen. Die Tätigkeit im Innendienst ist auch in reduziertem Zustand problemlos zu bewältigen. Jeden Tag in diesen zwei Wochen war ich bei Jule, ohne den Schwarzen Mann zu sehen. Bis heute. Bis jetzt. Wieder ein Freitag. Karin unterhält sich mit einer Bekannten am Nachbartisch und durch eine Gruppe Billardspieler entdecke ich den Blick. Ich bin sein Ziel. Ich könnte hingehen und ihn fragen, weshalb er mich anstarrt. Nur eine technische Möglichkeit, nichts was ich will, denn er ist der Grund von Unruhe, Erschöpfung, Müdigkeit, Zweifel und der Panik, die sich täglich hinterrücks anschleicht, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Oder wie in diesem Moment. Atemnot, Druck auf der Brust. So muss sich ein Stück Fleisch im Schraubstock fühlen. Ich tippe auf Karins Schulter.
»Ich muss mal raus. Frische Luft schnappen. Nur ein paar Minuten.« Sie nickt. Julchen kommt mit einem Tablett voll Getränke. »Geh mal fünf Minuten an die frische Luft«, rufe ich ihr zu. Okay, formen ihre Lippen. Hören kann ich sie nicht in diesem Lärm. Dann bin ich vor der Tür.

Immer noch sehr warm, schwül, nichts zu sehen von Sternen oder Mond. Ich wünsche mir ein Gewitter. Lang und laut. Ein reinigendes Sommergewitter, die Straßen riechen nach Staub, Gummi und dem dampfenden Regen. Kann es sein, dass ich einen Herzinfarkt habe? Ich fühle mich eingeengt und nehme lieber auf einer Steinbank Platz, lege mich hin. Die Augen. Und ich höre eine Stimme. Zum ersten Mal. Im Kopf, nicht in meinen Ohren. Eine Kinderstimme. Um diese Zeit gibt es hier keine Kinder auf der Straße. Keine Ahnung, was die Worte sind. Undeutliches Geschwätz. Ein Stechen in der Herzgegend lenkt mich ab. Ich richte mich auf, sitze starr und lausche nach innen, lege die rechte Hand auf meine Brust. Mit 25 hat man noch keinen Herzinfarkt, oder? Karin kommt aus der Kneipe, schaut sich um, sieht mich und winkt. Ihr Lächeln ist weit weg. Was mich berühren und beruhigen könnte, tut es nicht mehr.
»Fahr mich ins Krankenhaus, ich glaube, ich habe nen Herzinfarkt.«
Sie stutzt, fühlt den Puls am Hals. »Ich hole das Auto«, sagt sie dann.

So landen wir im Klinikum, Notaufnahme. Die Symptome sprechen dafür, sagt der Assistenzarzt, misst Blutdruck, macht ein EKG, Sauerstoffgehalt, ich bekomme Kochsalz und Blutverdünner. Karins Sorgenfalten wollen nicht weichen. Immerhin, wenn es ein Herzinfarkt ist, hat es einen Namen. Ich weiß Bescheid. Hat der Gegner erst mal einen Namen, kann man ihn stellen und etwas dagegen tun. Das beruhigt mich aber nicht wirklich. Nach einer Viertelstunde kommt der Oberarzt, schaut in meine Pupillen, liest Papiere, Graphen, das Kardiogramm und hustet in die Faust.
»Ich wette, Sie schlafen unruhig, sind völlig erschöpft, ausgelaugt, laufen nur auf zwei Zylindern ...« Er lacht kurz. »Und sie träumen doch bestimmt«, will er wissen.
»Stimmt. Mit den Träumen hat es angefangen. Nassgeschwitzt, hoher Puls. Vor zwei Wochen. Seither ist nichts mehr, wie es war.« Er nickt und schreibt etwas auf eine Karteikarte.
»Ihr Herz ist völlig in Ordnung. Das wird sie noch weit durchs Leben tragen. Rauchen Sie?« Ich nicke. »Und Alkohol?« Noch mal nicken. »Tja, dann wird es Sie vielleicht doch nicht so weit durchs Leben tragen. Aber im Moment läuft es wie am Schnürchen.«
»Was ist es dann?«, fragt Karin und greift fest um meine Hand.
»Nach meiner Meinung sind das Panikattacken. Wiederkehrende Panikattacken. Da arbeitet etwas in Ihnen und will raus. Das kann erhebliche organische Auswirkungen haben, Symptome eines Herzinfarkts etwa, Atemnot, Schlaflosigkeit, der Körper schaltet auf Notstrom, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich kann es mir vorstellen.«
Er steht auf, atmet tief ein. »Letztendlich ist es nicht mein Fachgebiet. Ich bin Internist. Wir lassen Sie heute Nacht hier zur Beobachtung. Ich bin mir aber sicher, meine Vermutung stimmt. Die Schwester gibt Ihnen etwas zur Beruhigung, dann kommen Sie zur Ruhe. Ihre Freundin darf gerne hierbleiben.« Der Doc lächelt und klopft mir auf die Schulter. »Ich schicke die Schwester. Entspannen Sie sich.« Dann geht er. Karin legt den Kopf auf meine Unterschenkel. Ich höre sie schniefen. Ich weiß, dass der Doc recht hat. Es sind die Augen.

***​
Die Bundespost war gnädig. Eine Woche Urlaub auf die Schnelle. Das war Karins Idee. Sie muss Überstunden abbauen und hat mich förmlich gedrängt, daheim zu bleiben, auszuruhen. Deswegen kann ich jetzt um neun Uhr morgens am Fenster sitzen, auf dem breiten Sims vor mir Kladde, Füller, eine Tasse Kaffee. Die Lesung ist am Sonntagmorgen um elf Uhr. Vielleicht schaffe ich noch ein paar Gedichte, einige neue würde ich schon gerne zum Besten geben. Aber was schreiben? Aus Konfusem wächst kein Wort. Keine Zeile. Der wandernde Blick aus dem Fenster schafft keine Ruhe, kein Raum entsteht. Etwas ist falsch. Wieder lande ich bei mir. Immerzu. Immerfort. Kein Wald und doch so viele Bäume. Da ist Karins Hand auf meinem Kopf, kraulend.
»Geht es nicht?«
»Nein. Ich bin ein Flussbett in der Wüste und es regnet nicht.«
»Vielleicht muss es ja nicht regnen. Vielleicht musst du nur das Flussbett und die Wüste beschreiben.« Sie beugt sich herab, küsst mich. Wir küssen uns. Etwas von ihr fließt auf mich über. »Ist es okay, wenn ich zum Friseur gehe?«
»Ja, natürlich.«
»Ich bringe Eis mit. Pistazie und Nuss für dich.«
»Zum Mittagessen?«
»Warum nicht?« Karin lacht. Es gibt wenig Menschen, deren Lachen wie ein gut gestimmtes Glockenspiel klingt. Sie ist ein solcher Mensch. Vielleicht muss es ja nicht regnen, hat sie gesagt. Vielleicht darf ich nicht so schreiben, wie ich das immer tue. Auf Gefühle reagieren und Worte dafür finden. Vielleicht … Karin geht und ich schließe die Augen. Schließe die Augen, um die anderen Augen zu sehen. Und sie kommen. Nur wenige Augenblicke dauert es, dann umkreisen die schwarzen, leeren Kreise mein Inneres. Nicht bewegen, nicht danach greifen. Kommen lassen. Je länger ich ihre Bewegungen beobachte, desto deutlicher treten sie hervor, desto intensiver krampft mein Unterleib. Die Zeit ist weit entfernt, irgendwohin verschwunden. Ein Kopf entsteht, formt aus sich ein Gesicht. Der Schwarze Mann, aber ganz jung. Aus dem Dunkel schälen sich weitere Gesichter. Fünf sind es. Sie lachen. Funkelnde Augen in jedem der Köpfe, aber lange nicht ein solch leerer Kosmos wie der des Schwarzen Mannes, der jetzt ein Junge ist. Ein Junge wie ich, der Zentrum eines Kreises ist, um dessen Peripherie die anderen stehen. Warum? Was ist mit ihnen? Was bin ich in diesem Spiel? Angst kommt gleich einem Tsunami, wächst über sich hinaus. In sich trägt sie ein Nichts. Der Schwarze Junge hat etwas in der Hand und die anderen ziehen dem in der Mitte die Kleider aus. Ich bin die Kamera. Einzelbild. Das in der Hand ist ein Stock. Gewachsen als Ast an einem Baum. Jetzt grün, moosig, nicht gerade, Biegungen, kleine Winkel. Er steckt es in den Jungen. Nein, er steckt es in mich. Ich schaue dem Jungen der ich bin in die Augen. Da ist niemand. So weit unten hat er sich versteckt. Raus. Rein. Geht es tiefer? Der Tod wird kommen, wenn ich schreie. Ich will die Augen öffnen. Es geht nicht. Gefangen in Einzelbildern. Blende auf. Blende zu. Langsam schneller werdend, bis ein Film daraus wird. Ich bin angekommen. Ich weiß, wer er ist, der Schwarze Mann. Ich weiß, wer die Augen sind. Der Junge muss sich Haare ausreißen, dann wird er die Augen aufmachen müssen. Das tut er.

Ich finde mich auf dem Schiffsparkett wieder. Gerade bin ich die zehntausend Meter in unter einer Minute gelaufen. Dass ein Herz so laut pochen kann, wusste ich nicht. Alles in Ordnung, sagte der Doc. Und die Schwester meinte, ich solle in eine Tüte atmen beim nächsten Mal. Ich habe keine Tüte, nur zitternde Hände, einen Krampf in der Wade, weinen muss ich und über mir die Zimmerdecke. Aber etwas muss ich TUN! Töten werde ich die Augen. Den Stock in die Pupillen. Einmal, zweimal, mehrmals. Das Geräusch, als würde man einen Gummistiefel aus dem Matsch ziehen. Da oben in meinem Kopf lasse ich ihn sterben, den Kerl, der aus dem Nichts kam. Und die anderen knöpfe ich mir danach vor. Bald sind alle tot und die Umrisse ihrer Körper lösen sich auf. Mehr als stille Schwärze bleibt nicht. So müde war ich schon seit langer Zeit nicht mehr. Ich weiß, was passiert ist. Und schlafe ein.

***​
So hat Karin mich gefunden. Mit Mühe und Not ins Bett verfrachtet. Es ist dunkel draußen, aus dem Bad höre ich den Wasserhahn, dann den Fön, einen Lichtschalter. Kurz vor Mitternacht, zeigt der Wecker. Wo sind die Stunden hin? Einfach verschlafen? An nichts kann ich mich erinnern. Ein traumloser Schlaf war das. Vielleicht eine Art Totenschlaf. Karin kommt, sieht, dass ich wach bin und legt sich neben mich. Wir schweigen. Nur ihre Hand ist auf mir, bewegt sich sachte hin und her. Ich kann sie nicht berühren.
Beim nächsten Blick hat der neue Tag schon seit zwanzig Minuten begonnen, ich drehe mich auf die Seite und entdecke Karins zusammengepresste Lippen. Die Angst steht ihr wie eingemeißelt ins Gesicht geschrieben. Ich bin nicht mehr der, den sie kennengelernt hat. Etwas ist dazugekommen. Aus einem Grab gestiegen. Ich darf nicht schweigen.
»Hast du mein Eis in den Kühlschrank gestellt?« Sie nickt, dann kommen die Tränen. Nichts von all dem ist ihre Schuld. Ich nehme sie in den Arm. »Ich kann dir jetzt sagen, was passiert ist. Aber nur, wenn du es hören möchtest.«
Schweigen. Dann ein leises Okay.
Mit jedem Wort kommen mehr Bilder, aus jedem Bild wird ein Tag, eine Woche, Monate. Bin ich wirklich erst in meinen Zwanzigern? Oder ein Methusalem? Geschichten aus fernen Jahrhunderten. Meine Geschichten. Der Stock. Viele Stöcke. Vieles andere. Die Jungs. Viel älter als ich. Ich wollte nur eines nicht: sterben. Um nicht zu sterben, musste ich schweigen. Die einfachste Rechnung der Welt.
»Und das war der Kerl bei Jule?«
»Das war er.«
»Was wirst du jetzt tun? Ich meine, wenn du ihn wiedersiehst, jetzt, nachdem du dich erinnerst.«
»Nichts. Ich werde nichts tun. Er weiß, was er getan hat und weiß, dass ich es bin und ihn erkenne. Ich lebe noch. Er nicht. Die Augen sind leer.«

 

Hi @Morphin,

erstmal cooler Text. Ich hab noch nicht ganz zu Ende gelesen, aber bisher ist mir nichts aufgefallen. Es malt mir jetzt keine genauen Bilder in den Kopf, aber die Geschichte kommt gut rüber.
Ich hab nur etwas, was mir verwirrt.

Karin packt zusammen, nimmt meine Hand, gibt mir eine Lucky, aber sie schmeckt nicht.
Was ist eine Lucky? Ich hab gegoogled, aber Google sagt mir nur die Englisch-Deutsch Übersetzung und das hat mir vorher schon nichts gebracht. Klär mich mal auf, bitte.
Pizza und lieben«, höre ich. Eine schöne Vorstellung.
Da stolpere ich ein wenig, "Pizza und Liebe" passt glaub ich eher.
Warum sind es denn zwei Monde?
Anführungszeichen fehlen
Gravitation, will ich sagen, aber dieser Jemand streckt die Hand, den Finger, zeigt nach oben.
Da bin ich auch gestolpert. Vielleicht schreibt man besser "die Hand mit ausgestrecktem Finger gen Himmel/nach oben"
Um Gottes willen, können Beine so schwer, wie dorische Säulen, werden?
Kommafehler, soweit ich das beurteilen kann.
Im Kopf, nicht in meinen Ohren
Du hast vorher schon mit kurzen knappen Sätzen gearbeitet. Da bringt einem der Satz ein wenig raus. Da liest sich "Im Kopf, nicht im Ohr" oder so ähnlich besser.
Wir lassen Sie heute Nacht hier zur Beobachtung.
Das hast du auch öfter gemacht. Ich schau mal, ich hab es noch zwei Mal gesehen. Es ist kein Fehler perse, es liest sich einfach besser. Wenn das "hier" in dem Fall am Ende des Satzes steht.
Hören kann ich sie nicht in diesem Lärm. Dann bin ich vor der Tür.
Da ist es auch schöner das "nicht" ans Ende zu packen, mMn.
Ich schaue dem Jungen, der ich bin, in die Augen.
Kommata fehlen
Der Schwarze Junge hat etwas in der Hand und die anderen
Klein- und Großschreibung. Das mit dem "schwarzen Mann" hat du vorher noch öfter gemacht. Adjektive klein. Oder soll das ein Eigenname sein? Dann bin ich verwirrt.
Und die Schwester meinte, ich solle in eine Tüte atmen beim nächsten Mal.
Da stolpert man im Satzbau. Mein Kopf versucht da "Und die Schwester meinte, ich solle beim nächsten Mal in eine Tüte atmen."
Ich wollte nur eines nicht: sterben.
Wird "sterben" da nicht großgeschrieben?

Nimm die Kritik als Tipps und nimm, was du braucht.
Die Geschichte ist eine echt coole Idee. Gegen Mitte kommt man richtig rein und fühlt mit. Es ist noch nicht ganz rund, aber es ist trotzdem klasse.
Die Idee mit den Augen und dem inneren Kampf finde ich super. Ich wünsche noch viel Spaß beim Schreiben. Ich hoffe, ich konnte helfen.

Schöne Grüße
Aeffchen

 

Guten Tag @Aeffchen,

danke fürs Lesen und Kommentieren. Fang ich mal an.
Lucky = Lucky Strike = Zigarettenmarke.

Bei den nicht fehlerhaften, aber anders gestellten Worten. Das ist Absicht. Vor paar Jahren habe ich es in der üblichen Form geschrieben. seit einiger Zeit versuche ich mich an diesem Stil. Ja, man stolpert beim Lesen, weil es nicht Usus ist. Kann auch sein, in 2 Jahren schreibe ich wieder in alter Form - oder noch mal anders. Ist also Absicht. Also so was wie 'hören kann ich sie nicht in diesem Lärm'. Das ist auch nicht unbedingt ein neuer Stil. Den gab und gibt es schon länger in der Literatur. Ist aber selten.

Die zwei Monde sind kursiv jetzt. Es ist die gedankliche Frage, er redet mit niemand. Imaginär. Traum.

Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann ... das hatte ich mir als feste Bezeichnung gedacht. Also substantiviertes Adjektiv. Vor allem wollte ich NICHT 'schwarzen Mann' schreiben, weil er nicht schwarz ist, sondern die Eigenschaften des Schwarzen Mannes hat, also Kinder bekommen die Angst eingebläut, der Köhler aus dem Bayrischen Wald, der die bösen Kleinen holt. Das ist der Sinn hinter der Großschreibung.

Nach dem Doppelpunkt schreibst du klein, wenn der Satz vor dem Doppelpunkt unvollendet ist, also das Verb fehlt davor und kommt danach. Dann klein.

Freut mich, dass Du sie gelesen hast. Dir noch einen schönen Tag.

Grüße
Morphin

 

Liebe @Morphin @Aeffchen!

Ich komme jetzt nicht dazu, den Text mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu kommentieren (insofern hier nur das, er hat mir gut gefallen), ich werde die nächsten Tage hoffentlich dazu kommen.

Allerdings ist mir in eurer Diskussion etwas aufgefallen, wozu ich gleich etwas sagen wollte, daher:

Bei den nicht fehlerhaften, aber anders gestellten Worten. Das ist Absicht. Vor paar Jahren habe ich es in der üblichen Form geschrieben. seit einiger Zeit versuche ich mich an diesem Stil. Ja, man stolpert beim Lesen, weil es nicht Usus ist.
Richtig, es ist nicht mehr Usus -- und genau das ist schade, denn es gefällt mir (und natürlich mache ich das auch oft). Nicht nur, dass es dazu beiträgt, dass nicht alle Sätze 'gleichgemacht' sind, sondern

Wir lassen Sie heute Nacht hier zur Beobachtung.
Das hast du auch öfter gemacht. Ich schau mal, ich hab es noch zwei Mal gesehen. Es ist kein Fehler perse, es liest sich einfach besser. Wenn das "hier" in dem Fall am Ende des Satzes steht.
phonetisch argumentiert, die Stellung der Wörter im Satz entscheidet auch über ihre Betonung, ihr Gewicht im Ganzen:

Wir lassen Sie heute Nacht hier zur Beobachtung.
Wir lassen Sie heute Nacht zur Beobachtung hier.

Die 2 Sätze klingen für mich eben nicht identisch, sondern nuancieren unterschiedlich. Im ersten ist tatsächlich 'hier' betont, im zweiten (würde ich sagen) 'zur Beobachtung'.
Mit den Wortstellungen zu 'spielen', nuanciert, denke ich, und gibt dem Satz zusätzliche Information, die entfiele, wenn man das hier automatisch ans Ende stellt, weil das grammatisch die Standardlösung ist.

Hören kann ich sie nicht in diesem Lärm. Dann bin ich vor der Tür.
Da ist es auch schöner das "nicht" ans Ende zu packen, mMn.
Die beiden Versionen sind nur scheinbar völlig gleich. In dem Satz von @Morphin betone ich 'hören' und 'nicht' beim Lesen.
'Hören kann ich sie in diesem Lärm nicht' -- würde den 'Lärm' stärker betonen als das 'nicht'.


Und die Schwester meinte, ich solle in eine Tüte atmen beim nächsten Mal.
Da stolpert man im Satzbau. Mein Kopf versucht da "Und die Schwester meinte, ich solle beim nächsten Mal in eine Tüte atmen."
Wieder. Ich meine, die Schwester betont hier die 'Tüte', in die er atmen soll, ganz eindeutig. In dem 'Und die Schwester meinte, ich solle beim nächsten Mal in eine Tüte atmen' ist das nicht so klar.

@Morphin: Ist jetzt nur zu einem einzigen Aspekt deiner Sprache, aber ich finde das einwandfrei, wie du das machst, gefällt mir.


Gruß von Flac

 

Hi @Morphin und @FlicFlac,

danke für die Aufklärung ^^. Ich hab viel gelernt. Das mit dem "Schwarzen Mann" hab ich mir irgendwie gedacht. Den Rest wusste ich nicht.

Lucky = Lucky Strike = Zigarettenmarke
Ja gut, sowas weiß ich in meinem Alter nicht.

Bei den nicht fehlerhaften, aber anders gestellten Worten. Das ist Absicht. Vor paar Jahren habe ich es in der üblichen Form geschrieben. seit einiger Zeit versuche ich mich an diesem Stil.
Das ist cool. Nur fürs lesen ein bisschen konfus.
Die 2 Sätze klingen für mich eben nicht identisch, sondern nuancieren unterschiedlich. Im ersten ist tatsächlich 'hier' betont, im zweiten (würde ich sagen) 'zur Beobachtung'.
Mit den Wortstellungen zu 'spielen', nuanciert, denke ich, und gibt dem Satz zusätzliche Information, die entfiele, wenn man das hier automatisch ans Ende stellt, weil das grammatisch die Standardlösung ist.
Stimmt, wenn man so drüber nachdenkt. Ich hör halt von Ärzten immer nur "Wir lassen Sie heute Nacht zur Beobachtung hier."
Die Stellen sind absolut nicht gleich, wenn man sie umstellt. Bei dem in dem Lärm nicht gehört werden, da macht mein Kopf "Lärm", wenn ich meine Satzversion lese, aber wenn ich Morpins Satzversion lese, dann ist alles ruhig und ich ersteh nicht, warum er sie nicht hört. Liegt wohl an mir.

Schönen Rest-Montag wünsch ich euch
Aeffchen

 

Hallo @FlicFlac und @Aeffchen,

besten Dank fürs Lesen und (nochmaliges) Kommentieren. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich schon die eine oder andere Stilphase durchwandert. Da gefiel mir was und ich habe es ausprobiert. Im letzten Roman habe ich schon ziemlich reduzierte und 'ältere' Sprache verwendet. Kann aber gut sein, dass ich in drei Jahren denke: Junge, was für ein Mist und bin dann schon bei was Neuem. Es sind aber die Veränderungen in einem selbst, denen man Raum geben muss. Sicher, es gibt Rahmen, aber die sind flexibel. Dazu kommt, dass ich solche Satzstellungen noch aus meiner Kindheit und Jugend im Kopf habe, aufgeschnappt bei den Großen. Und ich habe schon erwachsene Kinder, Mitte 20, die unterschiedliche Stile haben. Die Tochter sehr modern (Digger, no front und derlei mehr), der Sohn eher eine altmodische Redeweise, Worte, die so gar nicht mehr gesprochen werden. Also, ich denke, man sollte ruhig die Freiheit nutzen. Es ist spannend und bringt mich immer auf andere Gedanken, ich kann experimentieren.

Bis denne und habt nen schönen Abend.
Morphin

 

Salü Morphin

Positive Punkte:
- Ich finde es eine gelungene Geschichte.
- Mir gefällt dein Schreibstil sehr.
- Deine Geschichte empfinde ich, als angenehm zu lesen.

Negative Punkte:
- Für mich persönlich, keine

Wo hatte ich persönlich Mühe oder Stolperer beim Lesen:

Ich bemerkte erst beim Klingeln bei Jules Haus, dass der Protagonist männlich ist, da dieser in dort Heinrich genannt wird, obwohl du schon vorher zwei Hinweise gibst.

Die Blicke der anderen haben sich an meine Freundin geheftet.
Für mich war der Protagonist hier weiblich und die Kollegin ihre freundschaftliche Freundin. Alle schauen ihre Kollegin im kleinen schwarzen an. Aber der eine Typ, hat nur Augen für die vermeintliche Protagonistin.
(so fühlte es sich für mich beim Lesen an. Ich erwartete sogar eine kleine Lovestory)
Schnell Wasser abschlagen,
Hier war der zweite Hinweis, den ich zuerst nicht verstanden / überlesen habe.
Ich vermute, dies könnte daran Liegen, dass ich Schweizer bin.

Besten Dank für deine Geschichte.
Gruss
Granini

 

Guten Tag @Granini,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hm, ich schätze, ich werde langsam zu alt. Wie ich bei @Aeffchen mit der Lucky und bei Dir mit Wasser abschlagen bemerke, lösen sich manche Begrifflichkeiten in der sprachlichen Luft auf. Über diese Begebenheit habe ich noch gar nicht wirklich nachgedacht. Das also ein 60 Jahre alter Wortschatz teilweise aus der Mode kommt bzw. ich AUCH diesen Vorgängen unterworfen bin. Tja, das passiert, wenn man zu blind wird. Ich denke momentan sehr viel über den sich stets verändernden Fluss der Sprache nach und wie ich als Schreiberling damit umgehe oder drauf reagiere. Das hätte ich mir damals in der Schule gewünscht, das Interesse. :D

Jedenfalls hat sie Dich gut unterhalten und das freut mich. Einen schönen Tag wünsche ich. Grüße in die Schweiz.
Morphin

 

Lieber @Morphin

Dies waren bei einem Text mit mehr als 3'000 Wörtern die einzigen zwei Worte, über die ich gestolpert bin. Wie gesagt könnte dies jedoch auch damit zusammenhängen, dass ich mit Mundart aufgewachsen bin und nichts mit deinem 60 Jahre alten Wortschatz zu tun hat.
Bitte zerbreche dir wegen meinem kleinen Kommentar nicht zu sehr den Kopf.
Jedenfalls finde ich nichts Schlimmes an einem breiten Wortschatz aus mehreren Jahrzehnten. Schliesslich bereichert dieser dich und deine Texte, nicht? :-)

Grüsse kommen zurück (via DHL) ;)
Granini

 

Hi @Morphin,

auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen.

Der geschilderte Erinnerungsprozess hat mich etwas an den Beginn von Dostojewskis "Der ewige Gatte" erinnert. Dein verknappter, immer wieder Erinnerungsfetzen und Realität vermischender Stil hat bei mir ein emotional sehr eindringliches Bild erzeugt.

Hier noch ein paar konkrete Anmerkungen:

Die Blicke der anderen haben sich an meine Freundin geheftet.
Hier war ich wie @Granini erst bei zwei Freundinnen. Wenn Du aus der Beziehung keine Ehe machen möchtest, was "meine Frau" ermöglichen würde, könnte meiner Meinung nach die Verwendung des Namens anstelle von "meine Freundin" schon helfen. Die Beziehung erkennt man meiner Meinung nach im Laufe der Geschichte auch so.


gruselig heiß
Bin erst etwas über diese Formulierung gestolpert, andererseits beschreibt sie den losgetretenen fiebrig-kranken Erinnerungsprozess natürlich gut.


»Kein Problem, Jule. Wird ja auch schnell zu stickig. Lampen, Kerzen, alle rauchen, das macht keinen Spaß.«
Hier bin ich über die direkte Anrede gestolpert, weil sie für mich etwas unnatürlich aufgesetzt wirkt und Jule in Gesprächen über sie stets Julchen genannt wird.
In meinem Umfeld ist es schon eher so, dass wenn Spitznamen beim Beschreiben der Person verwendet werden, diese meist auch der direkten Ansprache dienen.


Ihr habt die identische Größe.
Für ein Gespräch wäre ich hier gefühlt eher bei "gleiche".


Außerdem wohnt sie nur ein Haus weiter.
Das klingt für mich ein bisschen nach künstlicher Exposition. Würde man das in dieser Form sagen? Vielleicht eher "Außerdem wohnt sie doch eh direkt um die Ecke" o.ä.


Schnell Wasser abschlagen,
Hier musste ich ehrlich gesagt auch Google um Rat fragen.


Doch kurz vor dem Stehtisch hebt er den Kopf und sieht mich an.
Dieser Satz ist wieder ein Beispiel für die verknappte Sprache, die dem Text meiner Meinung nach insgesamt sehr gut tut. Wenn ich es richtig lese, ist es hier so, dass kurz bevor der Prota den Stehtisch erreicht hat, der Typ den Kopf hebt. Allerdings dachte ich zunächst, dass der Typ es ist, der in Bewegung ist.


Ich weiß in diesem Moment, dass sich diese Augen in mich gebrannt haben.
Hier habe ich beim ersten Lesen überlegt, ob man "diese Augen" noch stärker betonen könnte, wenn man aus "diesem Moment", "dem Moment" macht.
Willst Du beides gleichermaßen betonen, ist Deine Formulierung natürlich treffender.


Es klickert vielmals.
Die Formulierung mit "vielmals" in dieser Kombination ist eine - wie ich finde - recht gute Charakterisierung Deiner Sprache in diesem Text (absolut positiv gemeint). Es klickert nicht oft oder mehrmals, sondern eben vielmals.


Ich trinke Schluck um Schluck, egal wie heiß es noch ist, zahle für uns, hebe kurz die Hand und gehe ins Freie.
Dient das Heben der Hand als Verabschiedung?


Als ob da eine Darmgrippe kommt.«
Kenne ich eigentlich ausschließlich als "Magen-Darm-Infekt bzw. -Grippe"


»Klar, Jule. So Kleider sind nicht meins. Ich fühle mich echt unwohl. Die ganze Zeit wird man angestarrt.«
»Dann lass uns gehen«, sage ich und stehe auf.
Hier habe ich mich gefragt: Wohin gehen sie denn eigentlich? Gehen sie wieder in die Bar bzw das Café? Wenn ja, sind die Augen dann weg? Gehen sie woanders hin? Wenn ja, warum kommt Julchen als Barchefin mit? Sicherlich keine besonders wichtigen Fragen, die man aber meiner Meinung nach recht leicht im Text beantworten könne. Vielleicht durch ein "Ich habe eh gleich Feierabend für heute, dann können wir los ziehen," o.ä.


Selbst die zur Attacke trompetenden Ameisen sind weit weg.
Die Stelle hat durch die bildhafte Sprache etwas komisches an sich, was für mich aus dem Text heraussticht.


Noch ist es hinter dem entfernten Grat, der fast in der Abenddämmerung verborgen ist. Aus der Kneipe geflüchtet, nun raus aus dem stillen Wald, kaum was vom Obstsalat gegessen. Wohin jetzt?
Hier habe ich durch die Kombination aus Metapher und verknapptem Stream-of-consciousness etwas die Orientierung verloren.


Über uns sind zwei Monde. Warum sind es denn zwei Monde?, frage ich jemand, der nirgendwo steht, aber doch bei mir ist.
Hier war ich erst bei "jemanden". Nach dem Lesen der nächsten Sätze nehme ich aber an, dass der "Jemand" hier schon sehr bewusst in dieser Form etabliert wird.


Nichts steht zwischen uns. Doch. Jetzt ist da etwas. Falsch, es ist nicht zwischen uns, es ist in mir. Ich bin es.
Schöne Ausführung!


Ein reinigendes Sommergewitter, die Straßen riechen nach Staub, Gummi und dem dampfenden Regen
Hier war mir beim Lesen nicht ganz klar, ob sich die Beschreibungen auf den jetzigen Moment oder das gewünschte Sommergewitter beziehen. Den Geruch von Staub und Gummi hätte ich eher mit der momentanen "gruseligen Hitze", den dampfenden Regen natürlich eher mit dem Gewitter assoziiert.


Was mich berühren und beruhigen könnte, tut es nicht mehr.

Der wandernde Blick aus dem Fenster schafft keine Ruhe, kein Raum entsteht.
Gefällt mir beides besonders gut!


Ich lebe noch. Er nicht. Die Augen sind leer.«
Schöner Schluss!

Sowohl aus dem Text als auch aus den Kommentaren erhält man den Eindruck, dass Du Formulierungen sehr bewusst und routiniert verwendest, aber eventuell ist ja doch der ein oder andere hilfreiche Gedanke dabei. :)

Danke für die tolle Geschichte!

Liebe Grüße,
Takinios

 

Guten Morgen @Takinios,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich hab noch das eine oder andere geändert. Die Darmgrippe ist hier unten im Süden die verknappte Form von Magen-Darm-Seuche. Hand heben nach dem Zahlen, ja, übliche Verabschiedung zur Theke. Heißt oben auch nicht mehr Freundin, sondern Karin. Ein Sommergewitter auf vorher lange trockener Straße bringt Dampf und diese Gerüche. Die stehen mir sogar jetzt beim Kommentieren in der Nase, so intensiv sind die, will sagen, es muss keines kommen, und doch kann ich es riechen.

Freut mich, wenn sie Dir gefallen hat. Dir noch einen schönen Tag. Bei uns ist Regen im Anmarsch.

Grüße
Morphin

 

Die Welt ist eine Leere.
...
Ich denke, alle Sinne sind im Leben gleich wichtig

So isset, aber was mir zunächst auffällt,

lieber und zugleich bester Morphin,

ist zu Anfang die Übermacht der Zahl „zwei“, denn nichts „anderes“ ist der, die, das „andere/Andere“ von seiner Bedeutung her, selbst wenn die offensichtlichste Form schon buchstäblich „zu Bruch“ im „anderthalb“ gegangen ist.

Nicht die der anderen. … Das sind die Blicke der Anderen. Seiner fixiert mich. Und ich ihn. Allerdings sieht sie auch in allen anderen Klamotten fantastisch aus. Karin erwidert die Blicke und die Augen der Anderen suchen Alternativen.
und die Abgrenzung zu den Andern (der ja auch jeder Fremde sein kann), den andern [Gästen] geht ja weiter, bis hin zum Stolz auf die „Eroberung“ der Freundin, dass ich gespannt bin auf den treffenden Blick, der den Erzähler trifft
Welcher trifft mich? Seiner. Nicht die der anderen.

Gelegentlich find ich mich wieder auf dem Kreuzzug zur Rettung des Ausrufezeichens, wie hier

»Ein Bitter Lemon für mich, bitte«, sagt Karin, nimmt einen Bierdeckel vom Stapel und legt ihn vor sich.
...
»Für mich einen großen Milchkaffee, bitte.«
Sie zieht ab, ich rutsche den Hocker an die Wand und lehne mich an.
Hier scheint mir das Verb rutschen (i. S. von schieben oder drücken) eigenwillig verwendet zu werden.

Hier frag ich mich

Die Augen; oder eher: der Blick.
Ob Du mal alle Satzzeichen ausprobieren wolltest, wo an sich vor „oder“ gar keines notwendig ist ...

Selbst die zur Attacke trompetenden Ameisen sind weit weg.
Auflockerungsübung ... Klingt wie’n Western, wenn die Army wider Tatanka Yo Tanka oder Geronimo anreitet ...

Der Tod kommt mal so nebenbei, stolpert, fällt über mich, sagt Hallo und wird mich mitnehmen.
hallo (egal, ob lauter oder leiser gerufen ...)

Jeden Tag in diesen zwei Wochen war ich bei Jule, habe den Schwarzen Mann jedoch nicht mehr gesehen.
Gezeitenfolge „war … habe ...“, kannstu aushebeln „Jeden Tag in diesen zwei Wochen war ich bei Jule, ohne den Schwarzen Mann zu sehen.

Sie nickt. Julchen kommt mit einem Tablett voll Getränke.
Du meinst eigentlich „voller Getränke“, „voll leerer“ räumte Julchen wahrscheinlich ab ...

Die Lesung ist am Sonntagmorgen um 11 Uhr.
elf

Gerade bin ich die zehntausend Meter in unter einer Minute gelaufen.
Literatur lebt von Übertreibung ...

Karin kommt, siehtKOMMA dass ich wach bin und legt sich neben mich.

Die Angst steht ihr wie eingemeißelt ins Gesicht geschrieben. Ich bin nicht mehr der, den sie kennengelernt hat. Etwas ist dazu gekommen. Aus einem Grab gestiegen.
„dazugekommen“, ein Wort

However,

gern gelesen vom

Freatle

 

Guten schönen Morgen @Friedrichard,

Wahl ist gelaufen. Katerstimmung da. Dafür einen Kommentar aus dem Pott. Besten Dank fürs Lesen und Durchsehen. Und schon hab ich alles geändert. Auch das mit den ... du weißt.

Hab die Geschichte schon fast wieder vergessen. Hänge im neuen Roman. Mich wundert manchmal, wie schnell so ein Text, der vor kurzem noch wie die einzige Kerze im Haus in mir brannte, in der geistigen Versenkung verschwinden kann. Naja, solange du sie findest und liest, ist alles okay. :D

Freut mich, wenn Du ihn gerne gelesen hast. Bis dann und Grüße in den Pott.

Morphin

 

Hallo Morphin!

Mich wundert manchmal, wie schnell so ein Text, der vor kurzem noch wie die einzige Kerze im Haus in mir brannte, in der geistigen Versenkung verschwinden kann.

Wie wahr, und weil ich es gut verstehen kann, fasse ich mich kurz, doch da ich den Text nun mal gelesen und mir eine Meinung gebildet habe, will ich sie nur auf die Schnelle kundtun.

Er hat mir gut gefallen der Text, ich habe ihn gern gelesen, soweit man von gern bei diesem Thema sprechen kann. Ich war mit beinahe allen Formulierungen zufrieden, selbst mit denjenigen, die bei einigen nicht so gut ankamen. Was vielleicht auf ein ähnliches Alter hindeutet, eventuell auf ähnliche Sozialisation, wer weiß.
Und tatsächlich habe ich erst mit Sicherheit sagen können, dass der Protagonist männlichen Geschlechts ist, bei folgender Formulierung:

Schnell Wasser abschlagen...

Ich finde, das Thema der verwendeten Formulierungen, des Stils, der Mittel, die in oder außerhalb der Mode sind, schon recht interessant. Ich denke, man muss aufpassen, nicht beliebig zu werden, wenn man sich dem Zeitgeist anpassen will. Andererseits liest kaum jemand mehr Stücke, die im Duktus eines Stifter oder Grillparzer verfasst sind. Schwierige Kiste.

Sehr sauber, dein Text, man merkt, dass du dran gesessen hast, was natürlich wieder zu dem Zitat von dir hinführt, in dem du von der Kerze sprichst, die das Stück für dich war und was als Kompliment gemeint ist, ich habe mir kaum etwas notiert, kaum etwas ist mir aufgefallen während des Lesens. Das liegt natürlich auch daran, dass du mich hattest spätestens in dem Moment, als die Augen einen Blick bekamen und man nicht wusste, was der bedeutet.

Ich weiß, es ist kümmerlich, aber mehr habe ich nicht gefunden, zumindest in formaler Hinsicht:

Er weiß, was er getan hat und weiß, das ich es bin und ihn erkenne.

Da fehlt ein s, denke ich.

Ich muss sagen, dass die Story doch etwas länger als nur einen Tag als Kerze im Haus brannte. Danke, hat mir gut gefallen.

Schöne Grüße von meiner Seite!

 

Guten Abend @Hanniball,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, ich bin seit paar Wochen dazu übergegangen, Online-Lesungen zu machen und werde das weiter ausbauen. Das ist gar nicht schlecht. Kommen immer ein paar Leute und ich denke, im Laufe der Zeit werden es mehr. Sogar einen ganzen Roman in zehn Kapiteln habe ich für den Herbst angesetzt. So viel zum Thema Stifter/Grillparzer. Probieren geht über studieren. Was den Inhalt betrifft, habe ich mich so weit als sinnvoll (nach meinem Empfinden) zurückgehalten, denn das Thema war, ist und wird noch viele Menschen beschäftigen. Auf allen Seiten. Auch wenn langsam, aber sicher, die Krusten aufbrechen, sich hie und da was tut, ist es noch ein langer Weg.

Freut mich, wenn die Kerze lange brannte oder vielleicht noch brennt. Was will Mensch mehr?

Das kleine 's' habe ich angehängt.

Grüße
Morphin

 

Moin,

sehr surreal. Mag ich. Nichts wird richtig erklärt. Erinnert mich an Bergman, den Schweden. Vielleicht der Tod? Vielleicht nur eine Bewegung aus der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft? Man muss nicht immer alles verstehen.

Auch dein Stil, hier assoziativer, fließender, du traust dich mehr, da steht etwas hinter dem Realismus, etwas Dräuendes, Drängendes. Nicht ausgesprochen, immer gut.

Konstruktiv: Dialoge. Manchmal ist noch weniger noch mehr. Aber lese ich mit meinem subjektiven Auge.

Sauber.

Gruss, Jimmy

 

Guten Morgen @jimmysalaryman,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich halte dich für einen kenntnisreichen Menschen, einen Experimentierer in Sachen Dialog, einen aufmerksamen Lauscher. Im Dialog verbirgt sich meist mehr Geschichte, als in einem erzählenden Textteil. Das Listige ist, dass die Dialoggeschichte im Kopf der lesenden Person entsteht. Je mehr Erfahrung, je breiter ihr Spektrum an Beobachtungen, desto mehr entfaltet sich diese Geschichte. Ich glaube, das ist das Besondere an Literatur - oder eine der speziellen Eigenschaften. Tatsächlich feile ich am Dialog mehr als an ein paar erzählenden Sätzen. Die Sätze sind viel Handwerk. Aber Dialog ist wie Sauce im Sterne-Restaurant. Es gibt einen Saucier. Der Chef nur für die Sauce.

Und dann ist da noch der Dialog im tatsächlichen Leben; Kiosk, Bahnhof, Kaufland, Kneipe, und der, den ich im Text schreiben möchte. Im Herbst hab ich ne Lesung, da wird der er vorgelesen. So ne Woche vor einer Lesung, ackere ich noch mal die Texte durch und meist fliegen Sachen raus. Dann werde ich die Dialoge noch mal durchgehen. Nix ist schlimmer, als mitten IN der Lesung merken, dass es gerade nicht funktioniert.

Wenn noch ein Tuch über der Geschichte liegt, dann ist das gut. Jetzt mach ich weiter am neuen Roman. Bis die Tage und ein schönes Wochenende wünsche ich.

Grüße
Morphin

 

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