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Die Glückseligkeit der Wellen
Arnos Blick streift im Raum umher, wie der eines Kindes im Süßwarenladen. Fette Anlage. Große Glotze. Eine Rolex in der Vitrine, eine am Handgelenk. So würde sein Leben auch mal aussehen. Sein Gegenüber sitzt breitbeinig auf der Couch und mustert ihn.
„Willst dir also was dazuverdienen, hm?“
Beißender Qualm steht im Raum. Arno reibt sich die Augen.
„Ja, schon.“
„Gut, Arno, gut.“
Der Mann streckt ihm die Hand mit dem Joint entgegen.
„Kostprobe?“
Arno schüttelt den Kopf.
„Don‘t shit where you eat, eh? Gefällt mir. Sag mal, du kennst dich doch im Stadtpark aus, oder?“
„Klar, ist mein Kiez.“
„Gut, gut.“
Arnos Blick fällt auf das verschweißte Plastikpäckchen auf dem Glastisch.
Der Mann lacht lauthals.
„Immer langsam mit den jungen Pferden.“
Er kramt in der Seitentasche seiner Trainingsjacke und wirft Arno einen kleinen Ball zerknitterter Alufolie zu.
„Du machst erst mal das. Ich muss mal für kleine Jungs.“
Arnos Blut ist reines Adrenalin. Er kann seine Zukunft sehen. Nix mehr mit, wie läufst du denn rum, Arno? Nix mehr mit, du bringst es eh zu nichts, Arno. Er kurvt getragen von fetten Beats in seiner S-Klasse durch die Straßen, schlürft Wodka vom Bauchnabel einer heißen Blondine. Lebt das richtige Leben. Er schaut zur Badezimmertür, dann auf das Plastikpäckchen. Wer nicht wagt ...
Arno lässt die Wohnungstür so leise er kann ins Schloss fallen. Dann sprintet er los, nimmt im Treppenhaus mehrere Stufen auf einmal. Der Abendhimmel strahlt rot. Er legt noch einen Zahn zu.
„Mach doch mal bitte, Rieke.“
Rieke schaut sie an, besorgt und liebevoll zugleich, wie eine Mutter ihr krankes Kind.
„Du willst doch aufhören.“
„Will ich auch. Aber ich brauch das jetzt.“
„Was ist denn mit der Klinik?“
„Warteliste ist dicht, kommt gerade niemand mehr rein.“
Kathi wippt ungeduldig auf den kalten Fliesen hin und her, wirkt mit ihren fettigen, schwarzen Haaren und schlaff herunterhängenden Armen wie ein zerzauster Rabe, der sich die Flügel gebrochen hat. Rieke hasst es, sie so zu sehen. Sie hasst den Uringestank. Sie will raus.
„Warum machst du‘s nicht selber?“
„Finde die Vene nicht“, haucht sie und starrt mit glasigen Augen auf Rieke.
„Mann Kathi ...“
Eine Hand legt Rieke ihr auf die Schulter und drückt zu, als könnte sie die Sucht aus ihr herauspressen. Mit der anderen greift sie nach der Spritze.
Ahmed steht im Eingang des Spätkaufs, faltet die Hände über seinem runden Bauch und blickt nachdenklich in die trübe Suppe des nächtlichen Großstadthimmels.
„Warum sitzt du den ganzen Tag vor dem Laden, Rieke? Eine junge, hübsche Frau wie du sollte feiern gehen. Das Leben genießen. Einen netten Mann kennenlernen.“
Sie zählt die Löcher in ihrer Strumpfhose. Sie denkt: Eins dieser Löcher, das bin ich. Als sie aufschaut, ringt sie sich ein Lächeln ab.
„Aber ich hab doch dich, Ahmed. Meine große, wahre Liebe“, sagt sie und pustet ihm einen Luftkuss zu.
Sein buschiger Schnurrbart droht wegzufliegen, als er auflacht.
„Warte nur nicht zu lange mit dem Antrag, sonst bin ich eines Tages weg“, fügt sie hinzu.
„Rieke, Rieke, was du immer alles erzählst.“
„Turbo Spätkauf, was ist das eigentlich für‘n Name?“
„Idee meiner Frau. Hat gesagt, dass es hip ist. Alles ist turbo. Da kommen mehr junge Kunden, ist gut für's Geschäft.“
Rieke schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und lacht, bis ihr die Tränen kommen.
Ahmed schaut sie fragend an.
„Ist sehr hip, Ahmed, sehr hip“, sagt sie und wischt mit dem Ärmel über ihre Augen.
„Hast du schon was gegessen heute?“
Sie bleibt still.
„Warte hier, ich bring dir ein Börek“, sagt er und geht in den Laden.
Sie versinkt in Gedanken.
Warum sitzt du den ganzen Tag vor dem Laden, Rieke?
Wo sollte sie denn sonst hin?
Arnos Blick huscht nervös durch den leeren Flur, während er mit seiner Faust gegen die Tür hämmert. Als sie sich öffnet, drängt er sich in die Wohnung und stößt sie zu.
„Was‘n los, Arno?“
„Guck dir das mal an“, sagt er mit einem zufriedenen Grinsen.
Im Wohnzimmer zieht er das Plastikpäckchen aus dem Rucksack und wirft es auf den Tisch.
Tims Augen werden groß.
„Alter. Wo hast du das denn her?“
„Abgezogen.“
„Abgezogen von wem?“
„Ist doch egal“, sagt er und lässt sich auf die Couch fallen. Tim setzt sich neben ihn und beide starren auf das Päckchen.
„Ein Kilo Coke. Plus minus. Weißt du, was wir damit alles machen können? Für ein paar Euro vor der Schule Gras verticken, wie die Lappen? Kleinkram, haben wir nicht mehr nötig“, erklärt Arno.
„Mann, ich weiß nicht. Das ist doch ‘ne andere Liga.“
„Und gerade eben sind wir aufgestiegen. Abpfiff. Die Menge johlt. Du willst doch schon ewig Jasmin klarmachen. Für die bist du unsichtbar. Aber was meinst du, wie sie gucken wird, wenn du mit deinem neuen BMW Z4 vorfährst.“
Tim faltet die Hände hinter seinem Kopf und grinst der Zimmerdecke entgegen, als würde dort sein Lieblingsfilm laufen.
„Meinst du echt?“
„‘türlich. Das ist ‘ne neue Zeit für uns. Ich werd‘ später noch zu Roman, ein paar Connections für uns klarmachen. Und du telefonierst mal rum. Wir machen das zusammen“, sagt Arno und hält ihm die Hand hin.
„Zusammen“, sagt Tim und schlägt ein.
Als Arno zu Hause ankommt, sitzt sein kleiner Bruder in einen Schulhefter vertieft am Küchentisch.
„Alex, wo is‘n Mama?“
Er zuckt mit den Schultern.
Arno wählt ihre Nummer und schlägt, als er die Mailbox hört, halbherzig gegen die Wand.
„Hattest du schon Abendbrot?“
Er schüttelt den Kopf.
„Was willst du essen?“
„Pfannkuchen!“, plärrt Alex.
Arno öffnet den Kühlschrank. Sein Blick durchtastet die Leere nach Zutaten.
„Haben wir nicht.“
Er durchsucht die Küchenkommode. Fehlanzeige.
„Pfannkuchen!“
„Haben wir nicht. Wir haben nix“, sagt er tonlos, mehr zu sich selbst als zu seinem Bruder.
Arno stellt eine Schüssel trockener Cornflakes auf den Tisch und fährt Alex durch die Haare.
„Guck nicht so. Bald gibt's hier wieder richtiges Essen. Da wird sich alles ändern. Ich hab ‘nen neuen Job.“
Alex ignoriert ihn und stochert lustlos mit seinem Löffel in der Schüssel herum.
„Ich muss nochmal kurz weg. Danach helf‘ ich dir mit den Hausaufgaben.“
Auf dem Gehweg hallen hinter ihm Schritte durch die nächtliche Stille. Sein Handy vibriert in der Hosentasche. Eine Nachricht von Tim.
Die waren hier. Geh nicht nach Hause. Sorry.
Es durchfährt ihn wie ein elektrischer Schlag. Die Schritte werden lauter. Sein Atem stockt. Er dreht sich um. Zwei Lederjacken schimmern im fahlen Licht der Straßenlaternen. Er schließt die Augen und holt tief Luft. Dann rennt er so schnell er kann in die Dunkelheit.
Riekes Beine baumeln am Bootsanleger über dem schwarzen Wasser des Kanals. Der Nachtwind schiebt Wellen gegen das Ufer, wo sie leise rauschend zerfallen. Sie sterben in zweckerfüllter Zufriedenheit, wissend, dass ihr kurzes Leben von Kräften außerhalb ihrer Kontrolle vorherbestimmt war. Sie sind zu schwach, um ihren Pfad zu ändern, aber stark genug, um in der Akzeptanz des Unveränderbaren ein wenig Glückseligkeit zu finden. Ihre Wiedergeburt in den Zirkel der Machtlosigkeit kann ihnen nur ein müdes Schmunzeln abringen.
Das Geräusch von klirrendem Glas reißt Rieke aus ihren Gedanken. Ein alter, hagerer Mann zieht einen Bollerwagen hinter sich her.
„Günni!“, ruft sie und springt auf.
„N‘abend Rieke.“
Sie wirft sich mit offenen Armen gegen ihn.
„Langsam, Rieke, langsam, bin doch nicht mehr der Jüngste“, sagt er und lächelt.
„Was macht die Flaschenjagd?“
Er blickt enttäuscht in den Wagen.
„Am Wochenende wirds besser“, erklärt er.
„Das wirds bestimmt. Hast du Lust, dich ein bisschen zu mir zu setzen?“
Vom Rand des Stegs aus beobachten sie das Lichtspiel des Schiffsverkehrs in der Ferne.
„Wie gehts Frau Günther?“
„Nicht so gut. Sie hats mit der Lunge. Ist der Schimmel in der Wohnung, aber unser Vermieter will davon nichts wissen.“
„Mensch, ihr müsst da raus“, sagt sie und drückt seine Hand.
Er nickt.
„Wie läuft es bei dir mit den vier Wänden, Rieke, schon was gefunden?“
Sie winkt ab.
„Gibt keine Wohnung ohne Arbeit und keine Arbeit ohne Wohnung. Und für mich gibt's sowieso nichts.“
Sie seufzt und zieht den ausgefransten Rock näher an die Knie.
„Wohnungsbesichtigung nennen die es. Ich nenns Assibesichtigung. Die gucken mich ein Mal an und ich kanns in ihren Augen sehen. Was will so eine denn hier? Hat sich bestimmt in der Hausnummer geirrt. Scheiße ist das.“
Sie nimmt eine Flasche aus dem Rucksack.
„Willst du auch eins?“
Er schüttelt den Kopf.
„Ach komm, ein Feierabendbier, wird dir gut tun.“
„Na gut, eins.“
Sie präsentiert das billige Bier wie einen edlen Wein.
„Der Herr.“
Er schmunzelt. Ein Segelboot zieht an ihnen vorbei. Menschen lachen ausgelassen auf dem Deck und das Klirren von Gläsern treibt mit den Wellen ans Ufer.
„Was würdest du machen, wenn du so viel Kohle hättest?“, fragt sie Günther.
Er beäugt die tiefen Furchen in seinen Händen.
„Würd‘ mit meiner Frau wegfahren. Irgendwo ans Meer. Damit sie wieder gut atmen kann. Und du?“
Sie zuckt mit den Schultern und senkt den Blick. Ihre Strumpfhose ist mehr Loch als Strumpf.
„Ein paar neue Klamotten, vielleicht.“
Als das erste Licht der Morgendämmerung auf den Spielplatz fällt, lugt Arno vorsichtig aus dem Kletterturm. Jetzt musste alles schnell gehen. Das Zeug loswerden. Seinen Bruder holen. Dann raus aus der Stadt. Und Tim, der Verräter, kann ihm gestohlen bleiben. Jetzt ist er ein Soloact.
Eine Adresse leuchtet auf dem Handybildschirm. Zumindest auf Roman ist noch Verlass.
Der Mann schneidet ein kleines Loch in das Päckchen und tupft seine Zungenspitze in die weiße Substanz auf der Klinge.
„Wo hast du das her?“
„Gefunden“, sagt Arno und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Der Mann nickt ausdruckslos und wirft ihm einen kleinen Rucksack in die Arme.
„Und jetzt verzieh‘ dich.“
Nichts lieber als das.
Arno lässt sich erschöpft auf die Parkbank fallen und öffnet den Reißverschluss. Sein Mund verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Er hat es geschafft. Das warme Gefühl tiefer Zufriedenheit schwappt über ihn wie eine Welle. Für einen Moment sind seine Sorgen fern und vergessen.
Ein paar Meter vor ihm durchstoßen zwei schwarze Flecken wie Fremdkörper das Grün der Naturszenerie. Ein Mann in einer Lederjacke zeigt auf ihn. Die Wärme verlässt stoßartig seinen Körper und ihm wird übel. Arno atmet tief durch, mobilisiert seine letzten Kraftreserven und rennt los, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.
Die Blicke der Verkäufer in der Bahnhofspassage haften an ihr, wie an einem ungebetenen Gast, während Rieke im Vorbeilaufen die Leckereien hinter den Glasscheiben begutachtet. Sie wiegt die Münzen in ihrer geschlossenen Hand. Sie reichen nicht.
Draußen trägt der Wind den Duft von gebrannten Mandeln in ihre Nase, sie lässt ihn hinter sich und schlendert ziellos durch die Straßen, nur begleitet vom hilflosen Knurren ihres Magens.
Auf der Treppe vor einer Kirche sieht sie bekannte Gesichter, sie winken Rieke zu sich. Freunde, Familie, die Straße macht keinen Unterschied. Hier sind alle gleich. Ein Baguette wird geteilt, sie bricht sich kleine Stückchen ab und schiebt sie langsam in ihren Mund. Vor ihr hastet eine Dame in Fellmantel über den Gehweg, in einer Hand pendeln kleine Papiertütchen, mit der anderen winkt sie einem Taxi zu. Einige sind gleicher, erinnert sie sich.
Rieke springt von der Bank auf, als der Bollerwagen vor dem Spätkauf zum Stehen kommt.
„Praktikantin Rieke meldet sich zum Dienst“, sagt sie und salutiert Günther.
„Dachte ich helf‘ dir heute mal. Kannst mir ein paar deiner Tricks verraten. Aber nicht alle. Sonst steigt es mir zu Kopf und ich mache dir dein Revier streitig“, mahnt sie grinsend.
„Du bist eine der Guten, Rieke.“
Sie hakt sich bei ihm ein und tänzelt leichtfüßig über den Gehweg, während er den Wagen zielsicher zum nächsten Mülleimer zieht.
Etwas stößt mit harter Wucht gegen ihre Schulter, sie kommt ins Straucheln, aber Günthers Griff hält sie auf den Beinen. Der junge Mann rennt um die Ecke in die Seitenstraße, ohne sich umzudrehen.
„Gehts noch?“, schreit sie ihm hinterher. Kurz danach rennen zwei weitere Männer an ihnen vorbei.
Seine Lunge brennt und ein scharfer Schmerz schneidet sich in seine Seiten. Ihm wird schwindelig. Er wird langsamer. Er kann nicht mehr. Die Schritte kommen näher.
Auf einem leeren Parkplatz kommt er hechelnd zum Stehen. Die beiden Männer gehen behäbig auf ihn zu, als hätten sie alle Zeit der Welt.
„Ihr könnt alles zurückhaben. Das war doch nur so ‘ne dumme Idee. Die dumme Idee eines dummen Kindes. Ihr wart doch auch mal jung. Bitte“, fleht er mit brüchiger Stimme. Die Männer grinsen sich amüsiert zu.
„Das Päckchen hab ich nicht mehr. Habs verkauft. Aber das Geld, ihr könnt das Geld haben. Ich habs auf dem Weg versteckt. Ich kann euch ...“
Einer der Männer gebietet ihm mit der Hand zu schweigen. Arnos Kehle schnürt sich zu und er wird still.
„Koks, Geld, interessiert uns nicht“, sagt er.
„Exempel statuieren“, sagt der andere im trockenen Tonfall eines Lehrers beim Vokabeltest. „Weißt du, was das heißt, Arno?“
Arno wird kreidebleich. Er öffnet den Mund, doch bevor er etwas erwidern kann, trifft ihn ein stumpfer Schlag an der Schläfe und sein Kopf knallt auf den Asphalt.
Günther zieht den Bollerwagen in die Seitenstraße und kommt vor einem Mülleimer zum Stehen.
„Guck du mal hier, ich geh schon mal zum nächsten“, sagt er zu Rieke.
Als sie ihre Hand in den Mülleimer steckt, fühlt sie kein Glas oder Plastik, sondern Stoff. Sie zieht das mysteriöse Fundstück aus dem Eimer und mustert es neugierig. Raben krähen aufgebracht in den Ästen, als Rieke den Reißverschluss des Rucksacks öffnet. Es hallt wie höhnisches Gelächter durch die Straße. Rieke erstarrt für einen Moment, dann blickt sie zu Günther, der an der nächsten Kreuzung einen Mülleimer durchsucht. Sie fischt sich einen Hunderteuroschein aus einem der Geldbündel und verstaut den Rucksack in der Seitentasche am Wagen.
Rieke balanciert mit ausgebreiteten Armen auf dem grasüberwachsenen Abstellgleis. Das nächste Leben als Trapezkünstler, warum nicht, überlegt sie. Das Grinsen ist ihr seit Stunden nicht vom Gesicht gewichen. Die alten Gebäude erzählen ihr alte Geschichten aus einer alten Zeit. Geschichten von kalten Nächten, aber auch von der Wärme ihrer Mitmenschen. Und die Geschichte von heute, die will sie mit Kathi teilen. Am Bahnhof war sie nicht, also musste sie hier sein.
Sie schiebt die Metalltür auf und sieht Kathi auf einer schmutzigen Matratze liegen, die Glieder von sich gestreckt, die trüben, leeren Augen zur Decke gerichtet. Es sieht nicht richtig aus. Ihre Sicht verschwimmt. Nein. Nicht sie und nicht so. Wenn sie es sich nur stark genug wünscht, denkt sie, dann wird das Leben, Gott oder wer auch immer schon einsehen, dass es falsch ist und den Fehler korrigieren. Tonlos starrt sie auf ihre Freundin, bis die Dunkelheit der zufallenden Tür sie verschluckt.
Die Sirene des Krankenwagens in der Ferne nimmt sie nur noch gedämpft wahr. Sie sieht die Häuserfassaden unscharf an ihr vorbeiziehen. Rieke stolpert durch die Tür des Spätkaufs und landet auf den Knien. Als Ahmeds Arme um sie fallen, bohrt sie ihr Gesicht in seine Brust. Die Tränen fressen sich durch sein Hemd wie ein Flächenbrand.
„Hab dich gefunden!“, kreischt Kathi.
„Gilt nicht, du musst mich antippen!“, stellt Rieke klar und flüchtet kichernd durch das hüfthohe Gras. Löwenzahnfallschirmchen umwehen sie wie ein Schneegestöber.
Rieke dreht sich um und schaut zu Kathi, aber sie sieht sie nicht. Sie ist nicht hier. Nur das Schneegestöber ist echt und bedeckt das starre Laub, das unter ihren Füßen knirscht, während sie sich den Weg durch das dichte Gestrüpp bahnt.
Das Licht einer fernen Parklaterne fällt auf das Zelt, als sie sich in ihren Schlafsack legt. Den zweiten Schlafsack rollt sie zusammen und schiebt ihn unter ihren Kopf. Sie zieht die Beine an ihre Brust und betrachtet das Schattenspiel der im Wind nickenden Äste auf der Zeltwand.
Sie liegt noch wach, als der Morgen dämmert.
Günther blättert aufgeregt durch einen Katalog, bis er die richtige Seite findet und tippt auf eins der Bilder.
„Der hier. Küche, Bad, Bett, ist alles da drin. Und so schön silbern. Damit fahren wir ans Meer.“
„Ach Günther, das wäre schön, aber so was können wir uns doch gar nicht leisten.“
Er küsst die Stirn seiner Frau und greift nach dem Rucksack.
„Guck mal. Den hat mir heute jemand in den Wagen gelegt“, flüstert er mit feuchten Augen. Er meint, die salzige Seeluft bereits riechen zu können.