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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [2]
Der zweite Tod
Wenn er am Bahnsteig steht und auf die Straßenbahn wartet, hört er immer Vivaldi und lässt Vergangenes an seinen geschlossenen Augen vorüberziehen. In diesem Moment kommt Bonattis zweiter Tod und nimmt ihn an die Hand. Wie eine Mutter ihr Kind am Fußgängerüberweg. Doch Bonatti zieht in einem Reflex die Hand zurück und öffnet seine Augen. Er schaut nach rechts und entdeckt ein Mädchen, das ihn anlächelt. Bonatti stutzt.
»Hast du gerade …«
Es nickt und er sieht sich nervös um. Nur Menschen. Wie immer. Viele davon sieht er täglich. Schichtende bei Ford in Niehl und große Teile der Belegschaft warten zusammen mit ihm am Haltepunkt Fordwerke Mitte auf die Bahn. Es ist kurz nach zwanzig Uhr. Die Hand greift erneut nach ihm. Umschließt seine Finger. Die Haut ist kühl und zart, das Greifen so vorsichtig. In Bonattis Kopf entsteht das Bild einer göttlichen Hand, die das umschließt, was mit purer Gewalt an ihm wächst, und er empfindet ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Unterleib. Bonatti hat einen Steifen, schließt erneut die Augen, um nicht zu sehen, was so penetrant auf ihn einstürmt. Dieses Mädchen. Wie ein goldenroter Apfel an einem prächtigen Baum. So reif und fest. Ich muss dieses Mädchen anschauen, denkt er und öffnet die Lider. Da sieht er es direkt vor sich, seinen Scheitel mit den links und rechts sanft fallenden Haaren unter seiner Nase. Er zieht dessen bittersüßen Mandelduft in sich hinein, als wäre es sein allerletzter Atemzug und spürt augenblicklich Furcht heranrollen, die sogleich in all seine Glieder fährt, jeden Muskel spannt. Es klingelt zwei Mal. Die Bahn. Bonatti stößt das Mädchen von sich, die wenigen Zentimeter bis zur Bahnsteigkante. Mit aller Kraft. Doch es steht wie ein Baum und sein Stoß drückt ihn mit aller Macht rückwärts, gegen einen Mann, der in Bonattis Kleiderschrank nur wenig Platz fände. Ein heftiger Schlag folgt und Bonatti sieht sich an diesem Mandelmädchen vorbeifliegen. Auf die Gleise. Es klingelt endlos und dann ist da ein Kreischen. Etwas trifft Bonatti.
Der Mandelduft ist nicht verflogen.
»Öffne deine Augen, Bonatti«, sagt eine bezaubernde Stimme.
Bonatti tut ihr den Gefallen und sieht über sich ein schwarzes Ungetüm. Bestehend aus Kabeln, Schläuchen und Stahl.
»Ich höre Schreie«, wundert sich Bonatti, »aber so weit entfernt … was ist da los?«
»Nichts«, antwortet die Stimme, »die Menschen haben Angst und sind entsetzt. Sie wissen nicht, was sie tun sollen.«
»Wer bist du? Warum kann ich dich nicht sehen?«
»Sieh nach rechts.«
Bonatti dreht seinen Kopf. Das schwarze Stahlungetüm verblasst langsam und weicht einem weißen Licht. Langsam schälen sich die Umrisse des Mädchens daraus hervor. Ihr Kopf auf den gefalteten Händen liegend. Bonatti staunt.
»Wie schön du bist. Niemals habe ich so eine Schönheit gesehen.«
»Du hast die Schönheit sehr oft gesehen, Bonatti, aber du konntest sie nicht ertragen.«
Bonatti möchte nach ihr greifen. Aber da ist nichts, mit was er greifen kann.
»Ich habe keinen Arm?«
»Und keine Beine.«
»Aber …«
»Du wirst sterben.«
Bonatti schweigt und genießt das weiße Licht. Es ist so warm. Als läge er auf dem Rücken im Toten Meer, in den tiefblauen Himmel starrend, an die Schönheit denkend, die er in der Nacht zuvor mit all dem Hass so tief verletzte, dass sie unter ihm starb.
»Warum musste sie sterben?«, hört er das Mandelmädchen fragen.
»Weil sie so schön war.«
»Du hasst alles Schöne?«
Bonatti sieht sie an und riecht. Mandeln, bitter und süß, Vergängliches neben dem Neuerschaffenen.
»Nein, ich hasse es nicht. Es hasst mich. Ich verehre das Schöne.«
Das Mandelmädchen zieht eine Hand unter dem Kopf hervor und legt sie Bonatti auf die Wange. Eine sanfte Kühle, wie abendlicher Wind über schließenden Blüten.
»Ist es das, was du vermisst hast?«
»Was?«
»Eine Hand auf deiner Wange. Den warmen Wind um deine karge Existenz.«
Bonatti sieht mit einem Mal all die roten Inseln im wachsenden Weiß. Sein Blick wird ein anderer, ein saugender, heftet sich an das Mandelmädchen. Erst jetzt fallen ihm Details auf. Sommersprossen links und rechts der Nase, die mit geradem Rücken zwischen exakt gezeichneten Augenbrauen endet. Große Haselnuss-Augen wie Saturn in seinen Ringen. Da ist es wieder, das schmerzhafte Ziehen.
»Ich will dich«, sagt er.
»Du hast mich schon«, flüstert sie und lächelt.
»Wie sich deine Lippen kräuseln, wenn du lächelst. Das ist wie ein Schnitt in tiefrotes Fleisch. Als öffnete sich der Schlund der Hölle.«
»So hast du getötet, nicht wahr, Bonatti?«
Er denkt nach.
»Ja, so habe ich getötet. Das Ziehen meines Unterleibes in den tiefroten Schlund gestoßen und das Kräuseln der Münder beobachtet.«
»Nun bist du hier.«
»Ja. Aber wo?«
Das Mandelmädchen legt ihre Hand auf Bonattis Brust.
»Siehst du das Weiß? Wie es wächst?«
»Ja. Ich kenne das Weiß. Das habe ich schon einmal geträumt.«
Bonatti denkt an seinen Sohn. An den Namen seiner Frau, ihr Gesicht hat er schon lange vergessen. Ihm kommt ein Gedanke.
»Sehe ich etwa meine Frau wieder?«
»Nein, Bonatti. Du wirst alleine sein.«
»Das war ich schon immer.«
»Nein. Du warst nie alleine. Die Finsternis in dir hat dich das glauben lassen«, sagt das Mandelmädchen.
Bonatti spürt das Weiß in seinen Kopf eindringen. Darin rote Inseln, wie Brandwunden im Fleisch der Schönheiten. Dann rollt das Ziehen vom Unterleib in seinen Kopf und wird glühende Wut.
»Wenn ich könnte, würde ich dich töten«, presst Bonatti hervor, »dir deinen wundervollen, fleischigen Mund stopfen mit meinem Pfahl der Verehrung. Deine Schönheit aus deiner Haut kratzen, aus deiner Seele.«
Bonatti kommen die Tränen. Das Weiß ist da und alles Schwarze ist verblichen.
»Ja, das würdest du, Bonatti. Ich lasse dich nun allein.«
Die Menschen auf dem Bahnsteig wenden sich entsetzt ab. Für einen langen Moment steht die Zeit.