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Serie Die neun Tode des Raffaele Bonatti [4]

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Seniors
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10.02.2000
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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [4]

Der vierte Tod

»Um Gottes Willen, Raffaele!«, ruft sein Gegenüber entsetzt und sieht erschrocken zu, wie Bonatti die Kamellen beutelweise an sich reißt. »Warum kannst du dich nicht ein bisschen im Zaum halten?«
»Schrei doch noch lauter«, erwidert Bonatti unwirsch, »damit es auch jeder hört.«
»Raffaele …«
»Was?«
»Wir haben sowieso nicht viel in der Kasse. Nach drei Jahren können wir endlich wieder für den Umzug spenden und du stopfst die Kamellen in deinen Rucksack, als gehörten sie dir. Das mache ich nicht mehr mit.«
Bonatti schaut über den Tisch zu seinem Kollegen, sieht ihm schweigend zu, wie er aufsteht und aus dem Zimmer geht. Dann packt er die letzten Werther-Tüten in seinen Rucksack und ist zufrieden mit sich. Eine Tüte für Angelo, seinen Sohn, den Rest wird er zu einem guten Preis an der Aral in Niehl los. Bonatti zieht den Gurt des Rucksacks zu und steht auf, als sein vierter Tod in Gestalt eines kleinen Jungen in den Raum kommt.
»Hallo, Bonatti«, sagt er und kommt grinsend an den Tisch. »Guck nicht wie ein Auto. Du kennst mich. Setz dich. Ich habe dir einiges zu sagen.«
Bonatti ist sprachlos. So sprachlos, dass er den Rucksack auf den Tisch legt und sich wieder auf den Stuhl setzt.
»Ich kenne dich?«, wundert er sich und runzelt die Stirn.
»Joa, irgendwie schon. Du wirst dich an mich erinnert haben, aber konntest sicher nichts damit anfangen. Im Traum und so …«
»Hä?«
Der Junge blickt mitleidig, zieht einen Stuhl zurück und nimmt Platz. Er stützt sich mit den Füßen ab, rutscht etwas mit dem Hintern hin und her und zieht dabei den Stuhl nach vorne.
»Solche Stühle sind eine Diskriminierung für zehnjährige Jungs, die nur durchschnittlich groß sind«, stellt er fest. »Das Ganze ist ein Elend, Bonatti«, fährt er fort. »Ich bin hier stellvertretend für all die Kinder, die am Rosenmontagsumzug keine Kamellen bekommen werden. Weil du sie eingesackt hast.«
Der Junge schweigt und zeichnet mit dem Finger ein paar Kreise auf den Tisch. Bonatti beobachtet fasziniert, wie sich das weiche, kindliche Gesicht in etwas Hartes verwandelt. Linien und Schatten einen Ausdruck annehmen, den er in all seinen Lebensjahren noch nie bei einem Menschen gesehen hat. Als säße da eine Büste aus fein poliertem Alabaster mit schwarzen, bodenlosen Augen. Bonatti spürt einen Sog, der an ihm zieht und zerrt. Schweiß tritt auf seine Stirn. Er will sofort aufstehen und den Raum verlassen. Aber es ist zwecklos.
»Schämst du dich nicht?«, fragt das Kind. Die endlose Tiefe stürzt aus den Augen und breitet sich vor Bonatti auf dem Tisch aus wie schwarze Tinte. Er zuckt zurück, will nur weg und reißt sich endlich los von diesem Sog. Mit einem Ruck steht er und meint zu siegen. Aber eine gleißend helle Explosion in seinem Kopf nimmt ihm Hören und Sehen. Dass er fällt und mit dem Gesicht auf den Boden schmettert, merkt er nicht.

Die Schwärze weicht dem Hellen. Einem kühlen Weiß voller zaghafter Linien und Formen, denen Bonatti niemals eine Bezeichnung geben könnte, so fremd erscheinen sie ihm. Er weiß, dass seine Augen geöffnet sind und blinzelt. Vor ihm sitzt der kleine Junge. Er ist keine Büste mehr, die Augen sind lebendig und mustern ihn.
»Weißt du, wie oft du genommen hast, ohne zu geben, Bonatti?«
»Hab ich das?«
Der Kleine lacht klar und hell.
»Ich habe dich niemals hungern sehen. Kein einziges Mal in all den Jahren deiner Existenz«, erklärt ihm der Junge und piekt mit seinem Finger auf Bonattis Bauch. »Du bist ganz schön fett. Warst niemals hungrig, immer gesättigt. Und nicht nur mit Essen.«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Aber nein«, winkt der Junge ab, »natürlich nicht. Das wünscht man jedem Menschen. Und wer es hat, darf sich glücklich schätzen«, der kleine Kopf senkt sich zu Bonatti herunter, »aber du bist niemals glücklich gewesen. Egal wie satt du warst. Du hast immer mehr genommen. Und wenn das nicht genügte, noch einmal. Wie diese Kamellen. Oder das Geld aus dem Spendentopf für die Kinderstation, den du als Betriebsrat natürlich verwaltest.«
Bonatti schafft es nicht, dem Blick des Jungen auszuweichen.
»Büromaterial des Betriebsrates«, fuhr der Junge fort, »die Schulbrote deiner Mitschüler, übrig gebliebenes Essen auf Partys, das Taschengeld deines Sohnes.« Er legt den Kopf auf die Seite. »Muss ich noch mehr aufzählen?«
Bonatti konzentriert sich auf die seltsamen geometrischen Formen im Licht. Aber es fällt ihm einfach kein Wort dafür ein. Er entscheidet sich, die Augen zu schließen und stellt erstaunt fest, dass das kühle Licht bleibt.
»Es interessiert dich nicht«, hört Bonatti die kindliche Stimme.
»Warum sehe ich immer noch das Licht? Meine Augen sind zu.«
Es ist für einen Moment still.
»Weil du gerade stirbst, Raffaele.«
»Ich habe nichts getan«, versichert Bonatti.
»Mach die Augen auf«, fordert die Stimme und zieht mit Daumen und Zeigefinger Bonattis linkes Auge auseinander. »Na los! Mach auf! Ich will, dass du mich ansiehst, denn weißt du was?«
Bonatti öffnet die Augen. Er weint. Die Tränen sprudeln wie Quellwasser aus dem geröteten Weiß. Aber er kann den Kopf nicht schütteln, das Weiß wird dichter und legt sich um seine Stimme. Mehr als ein Röcheln kommt nicht aus ihm heraus.
»Dieser Tod ist mir verhasst«, flüstert der Junge. »Ich hasse ihn. Er ekelt mich an, denn er ist so banal, so kindisch, unterentwickelt, schlicht. Er kommt aus dem Niedersten eurer Gefühle.« Mit einem heftigen Nicken spuckt er neben Bonattis Kopf.
»Ihr seid so armselig«, setzt er nach.
Bonatti zuckt plötzlich unkontrolliert.
»Da drückt wohl was auf die Synapsen.«
Aber er kann den Jungen nicht mehr hören. Das Weiß wird zu Licht und aus den feinen Linien bilden sich tausende Buchstaben, die immerzu ein und dasselbe Wort formen.
»Lies es, Bonatti. Es ist nur ein kleines Wort, aber es klebt an euch wie der Parasit an einer Wurzel.«
Bonatti stirbt.

Die zwei Frauen mit dem Staubsauger und den Staubtüchern finden Bonatti auf dem Boden und neben dem Rucksack voller Werther-Karamellbonbons eine offene Bonbontüte.
»Scheiße, Klara, wir müssen das jetzt mal melden. Der ist doch hinüber. Oder?«
»Sieh mal, Sabine, da hat jemand ein Wort gelegt.«
»Was für ein Wort?«
»Gier.«

 
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Mahlzeit @AWM,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, hm, ich habe es mit einer "Serie" probiert. Ich dachte, so Stück für Stück käme man der Auflösung näher. Die Tode bspw. sind völlig zweitrangig. Ob nun Herzinfarkt oder wie hier angedeutet ein Schlaganfall, das ist eigentlich egal. Und der Junge ist ja nur hier ein Junge. Es gibt unterschiedliche Personen. Das bezieht sich aber auf alle 9 "Berichte" + einem Epilog. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte es am Stück gelassen. Jetzt habe ich als Serie begonnen. Zusammenlegen macht jetzt keinen Sinn mehr, wegen der einzelnen Kommentare. Also wird es weitergehen.

Die Frage ist auch: Wieso tut der andere nichts gegen das Verhalten deines Protas? Er sagt, er macht das nicht mehr mit, aber geht dann einfach aus dem Raum. In diesem Dialog steckt ja gleich ein Konflikt. Und der wird nicht befriedigend gelöst
Genau. Es gibt nichts mehr zu lösen. Wie das sehr oft so ist, im scheidenden Leben. Unzählige Konflikte hätte man besser vorher gelöst. Nun nimmt man sie mit in den Tod.

Hinter den Texten liegt aber eine andere Geschichte. Und ich dachte, ich versuche sie mal "so" zu erzählen. Und dabei nehme ich mir die Figur "Bonatti" und lasse ihn neun Tode sterben.

Es scheint eher Sinn zu machen, erst mal den Rest fertig zu schreiben, und dann alles zu posten. Ich kann mir vorstellen, dass das Lesen eines Zwischenteils recht wenig von dem Konstrukt offenbart. Vielleicht ist es auch nicht gut angelegt. Das werde ich am Ende sehen.

Grüße
Morphin

 

»Das Ganze ist ein Elend, Bonatti«, fährt er fort. »Ich bin hier stellvertretend für all die Kinder, die am Rosenmontagsumzug keine Kamellen bekommen werden. Weil du sie eingesackt hast.«

Das find ich gemein – nun soll der arme B. auch noch diese schwere Schuld sühnen!, und nur, weil Peter Beil mit dem unsäglichen „Corona, Corinna“ von anno tobacco verdrängt wird. Gleichwohl schön, Gier mit der Gefräßigkeit zu verknüpfen, das Marx überm Kapital die Bewunderung zum kaptalistischen System im Hals stecken bliebe, könnte denn noch dergleichen geschehen.

Der „Gier“ in all ihren Bedeutungen und Erscheinungen widmet das Deutsche Wörterbuch immerhin zehn Seiten und mehr (wenn man etwa Synonyme wie Begehr[lichkeit] einschließt) und wem danach ist, kann Varianten der Bedeutung als Verb, Adjek- oder Substantiv buchstäblich „studieren“.

Mit dem code civil und dem Privateigentum ist das Besitzstreben und -mehren (und sei es an der eigenen Plautze) Menschenrecht geworden und grundgesetzlich geschützt.

Warum gelingt es Bonetti nicht, die grundlegende Klage auf ewiges oder doch zumindest längeres Leben gegen den Tod einzureichen? Gerade Gevatter ist unbestechlich, verrichtet seinen Dienst ohne Ansehen der Person, behandelt alle gleich, (wo keine Gleichheit herrscht muss man eigentlich drüber nachdenken, ob Ungleiche gleich behandelt werden sollten.)

Aber müssen wir eine Firma - und trage sie den Namen des Werthers - bevorzugen? Statussymbol¿

Ein, nee, zwo Flüsken

Bonatti zieht den Gurt des Rucksacks zu und steht aufKOMMA als sein vierter Tod in Form eines kleinen Jungen in den Raum kommt.
Die zwei Frauen mit dem Staubsauger und den Staubtüchern finden Bonatti auf dem Boden, und neben dem Rucksack voller Werther-Karamellbonbons eine offene Bonbontüte.
Hier kannstu's holen (das und verbindet ganz gut zwo gleichrangige Satzteile)
Und

»Scheiße, Aygün, wir müssen das jetzt mal melden. Der ist doch hinüber. Oder?«
Scheiße sagt man nicht, wenn ein Minderjähriger gerade seine Arbeit vollendet hat

Wie immer gern gelesen vom

Friedel

 

@AWM,
ich hebe mir das mit dem Anfang mal auf, bis alle Teile fertig sind. In allen Teilen sind ja Puzzlestücke drin, die bis jetzt noch keinen Kommentator auf den richtigen Pfad führten. Vielleicht entferne oder ergänze ich am Ende noch Puzzleteile, wenn ich feststelle, der Kontext zündet nicht. Dann muss ich wohl doch anders vorgehen. Ich weiß durchaus, was du meinst, und dass es da Regeln und gewisse Rahmenbedingungen gibt. Muster, nach denen man vorgehen sollte. Vielleicht kann ich dich da aber nur enttäuschen. Ich sehe das völlig anders. Sicherlich aus einem fachlich weit weniger versierten Standpunkt, wie du ihn hast. Diese Fachlichkeit hatte ich nie; und ich habe sie auch nie angestrebt. Da muss ich jetzt mal grundehrlich sein. Ich verstehe, dass es aus literarisch-professioneller Sicht kein Text ist, der Regeln bspw. einer Kurzgeschichte einhält oder erfüllt, umsetzt, wie auch immer. Vielleicht ist das sogar mein größtes Manko. Und ich bin ihm schon immer begegnet. Aber es war eben immer ein Manko, dass andere bei mir gesehen haben, ich aber nie bei mir selbst. Für mich war es nie ein Manko. Aus dem einfachen Grund, weil ich einfach schreiben wollte, wie es aus mir herauskam. Und entweder es gefiel mir oder eben nicht, dann habe ich es gelöscht. Natürlich hat sich mein Schreiben im Laufe der Jahrzehnte geändert. Das hat bei mir vor allem damit zu tun, dass ich meine Emotionalität kognitiv besser verarbeiten konnte, mich besser verstand. Aber immer, wenn ich den Regeln begegnete (Deutschunterricht oder Literaturkreise oder kg.de oder wo auch immer), stellte ich schnell fest, dass all die vielen Regeln nicht meine Welt sind. So sind, glaube ich, auch viele meiner Kommentare. Ich schätze, sie beziehen sich auf den Fußabdruck, den ein Text im Ganzen bei mir hinterlässt. In meiner Gefühlswelt. Finde ich analoge Situationen in meiner Erinnerung? Dann habe ich Zugang. Man kann durchaus sagen, dass es ein doch sehr schlichter Blick auf die Welt der Literatur ist. Und das Schlichte entspricht oft nicht den Erwartungen oder Ansprüchen von Literaturseiten oder Verlagen, Lektoren etc. Das ist richtig und mir voll bewusst. Aber Schlichtsein hat auch seine Existenzberechtigung. Es ist eben keine Hochliteratur und sollte es auch nie sein oder werden.

@Schwerhörig
Vielen Dank fürs Lesen. Schau mal nicht so sehr nach dem Tod. Die Tode sind im Prinzip nur die Transportkisten.

@Friedrichard
Salut. Ja, dann werde ich mal das Productplacement ändern in, äh, ja, was gibt es denn noch für gute Kamellen? Die Belgier machen auch tolle. Und die Dänen. Kommas geändert. Mein Dank an dich, mein Gruß ins Ruhrgebiet.

Bleibt alle gesund und munter.
Morphin

 

Nee - besser stopp mit dem product placement, immerhin gibts ja den Goetheschen Versuch über Kamelle W.

Bisschen Wortspiel wird ja wohl noch erlaubt sein.

Bleibt alle munter (schließt das Gesundheitswesen mit ein).

Dante Friedchen

 

Salü @Rob F,

ganzen Tach unterwegs gewesen. Furchtbar. Bin das gar nicht mehr gewohnt. Jetzt erst mal vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab viel übernommen. 'Unwirsch' hab ich drin gelassen für die Leser, die einen Schubs brauchen. Und das mit dem Spendentopf habe ich um den Betriebsrat erwähnt, denn da dreht es sich mehr und mehr drum.

Taschengeld ... das fand ich schon bei Donald Duck faszinierend, wenn er das Sparschwein seiner Neffen plünderte. Ich bin auch gespannt bezüglich des Themas dahinter, das schon ein sehr altes ist.

Schonen Sonntach mit viel Ruhe und gesund bleiben.
Morphin

 

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