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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [4]
Der vierte Tod
»Um Gottes Willen, Raffaele!«, ruft sein Gegenüber entsetzt und sieht erschrocken zu, wie Bonatti die Kamellen beutelweise an sich reißt. »Warum kannst du dich nicht ein bisschen im Zaum halten?«
»Schrei doch noch lauter«, erwidert Bonatti unwirsch, »damit es auch jeder hört.«
»Raffaele …«
»Was?«
»Wir haben sowieso nicht viel in der Kasse. Nach drei Jahren können wir endlich wieder für den Umzug spenden und du stopfst die Kamellen in deinen Rucksack, als gehörten sie dir. Das mache ich nicht mehr mit.«
Bonatti schaut über den Tisch zu seinem Kollegen, sieht ihm schweigend zu, wie er aufsteht und aus dem Zimmer geht. Dann packt er die letzten Werther-Tüten in seinen Rucksack und ist zufrieden mit sich. Eine Tüte für Angelo, seinen Sohn, den Rest wird er zu einem guten Preis an der Aral in Niehl los. Bonatti zieht den Gurt des Rucksacks zu und steht auf, als sein vierter Tod in Gestalt eines kleinen Jungen in den Raum kommt.
»Hallo, Bonatti«, sagt er und kommt grinsend an den Tisch. »Guck nicht wie ein Auto. Du kennst mich. Setz dich. Ich habe dir einiges zu sagen.«
Bonatti ist sprachlos. So sprachlos, dass er den Rucksack auf den Tisch legt und sich wieder auf den Stuhl setzt.
»Ich kenne dich?«, wundert er sich und runzelt die Stirn.
»Joa, irgendwie schon. Du wirst dich an mich erinnert haben, aber konntest sicher nichts damit anfangen. Im Traum und so …«
»Hä?«
Der Junge blickt mitleidig, zieht einen Stuhl zurück und nimmt Platz. Er stützt sich mit den Füßen ab, rutscht etwas mit dem Hintern hin und her und zieht dabei den Stuhl nach vorne.
»Solche Stühle sind eine Diskriminierung für zehnjährige Jungs, die nur durchschnittlich groß sind«, stellt er fest. »Das Ganze ist ein Elend, Bonatti«, fährt er fort. »Ich bin hier stellvertretend für all die Kinder, die am Rosenmontagsumzug keine Kamellen bekommen werden. Weil du sie eingesackt hast.«
Der Junge schweigt und zeichnet mit dem Finger ein paar Kreise auf den Tisch. Bonatti beobachtet fasziniert, wie sich das weiche, kindliche Gesicht in etwas Hartes verwandelt. Linien und Schatten einen Ausdruck annehmen, den er in all seinen Lebensjahren noch nie bei einem Menschen gesehen hat. Als säße da eine Büste aus fein poliertem Alabaster mit schwarzen, bodenlosen Augen. Bonatti spürt einen Sog, der an ihm zieht und zerrt. Schweiß tritt auf seine Stirn. Er will sofort aufstehen und den Raum verlassen. Aber es ist zwecklos.
»Schämst du dich nicht?«, fragt das Kind. Die endlose Tiefe stürzt aus den Augen und breitet sich vor Bonatti auf dem Tisch aus wie schwarze Tinte. Er zuckt zurück, will nur weg und reißt sich endlich los von diesem Sog. Mit einem Ruck steht er und meint zu siegen. Aber eine gleißend helle Explosion in seinem Kopf nimmt ihm Hören und Sehen. Dass er fällt und mit dem Gesicht auf den Boden schmettert, merkt er nicht.
Die Schwärze weicht dem Hellen. Einem kühlen Weiß voller zaghafter Linien und Formen, denen Bonatti niemals eine Bezeichnung geben könnte, so fremd erscheinen sie ihm. Er weiß, dass seine Augen geöffnet sind und blinzelt. Vor ihm sitzt der kleine Junge. Er ist keine Büste mehr, die Augen sind lebendig und mustern ihn.
»Weißt du, wie oft du genommen hast, ohne zu geben, Bonatti?«
»Hab ich das?«
Der Kleine lacht klar und hell.
»Ich habe dich niemals hungern sehen. Kein einziges Mal in all den Jahren deiner Existenz«, erklärt ihm der Junge und piekt mit seinem Finger auf Bonattis Bauch. »Du bist ganz schön fett. Warst niemals hungrig, immer gesättigt. Und nicht nur mit Essen.«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Aber nein«, winkt der Junge ab, »natürlich nicht. Das wünscht man jedem Menschen. Und wer es hat, darf sich glücklich schätzen«, der kleine Kopf senkt sich zu Bonatti herunter, »aber du bist niemals glücklich gewesen. Egal wie satt du warst. Du hast immer mehr genommen. Und wenn das nicht genügte, noch einmal. Wie diese Kamellen. Oder das Geld aus dem Spendentopf für die Kinderstation, den du als Betriebsrat natürlich verwaltest.«
Bonatti schafft es nicht, dem Blick des Jungen auszuweichen.
»Büromaterial des Betriebsrates«, fuhr der Junge fort, »die Schulbrote deiner Mitschüler, übrig gebliebenes Essen auf Partys, das Taschengeld deines Sohnes.« Er legt den Kopf auf die Seite. »Muss ich noch mehr aufzählen?«
Bonatti konzentriert sich auf die seltsamen geometrischen Formen im Licht. Aber es fällt ihm einfach kein Wort dafür ein. Er entscheidet sich, die Augen zu schließen und stellt erstaunt fest, dass das kühle Licht bleibt.
»Es interessiert dich nicht«, hört Bonatti die kindliche Stimme.
»Warum sehe ich immer noch das Licht? Meine Augen sind zu.«
Es ist für einen Moment still.
»Weil du gerade stirbst, Raffaele.«
»Ich habe nichts getan«, versichert Bonatti.
»Mach die Augen auf«, fordert die Stimme und zieht mit Daumen und Zeigefinger Bonattis linkes Auge auseinander. »Na los! Mach auf! Ich will, dass du mich ansiehst, denn weißt du was?«
Bonatti öffnet die Augen. Er weint. Die Tränen sprudeln wie Quellwasser aus dem geröteten Weiß. Aber er kann den Kopf nicht schütteln, das Weiß wird dichter und legt sich um seine Stimme. Mehr als ein Röcheln kommt nicht aus ihm heraus.
»Dieser Tod ist mir verhasst«, flüstert der Junge. »Ich hasse ihn. Er ekelt mich an, denn er ist so banal, so kindisch, unterentwickelt, schlicht. Er kommt aus dem Niedersten eurer Gefühle.« Mit einem heftigen Nicken spuckt er neben Bonattis Kopf.
»Ihr seid so armselig«, setzt er nach.
Bonatti zuckt plötzlich unkontrolliert.
»Da drückt wohl was auf die Synapsen.«
Aber er kann den Jungen nicht mehr hören. Das Weiß wird zu Licht und aus den feinen Linien bilden sich tausende Buchstaben, die immerzu ein und dasselbe Wort formen.
»Lies es, Bonatti. Es ist nur ein kleines Wort, aber es klebt an euch wie der Parasit an einer Wurzel.«
Bonatti stirbt.
Die zwei Frauen mit dem Staubsauger und den Staubtüchern finden Bonatti auf dem Boden und neben dem Rucksack voller Werther-Karamellbonbons eine offene Bonbontüte.
»Scheiße, Klara, wir müssen das jetzt mal melden. Der ist doch hinüber. Oder?«
»Sieh mal, Sabine, da hat jemand ein Wort gelegt.«
»Was für ein Wort?«
»Gier.«