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Die verlorene Stimme
Auf einem kleinen Hügel, mitten im Wald, wohnte eine Prinzessin. Sie trug ein Kleid in der Farbe von reifen Erdbeeren und im schwarzen Haar einen Reif aus Gold. Sie wurde von allen nur die Erdbeerprinzessin genannt. Die Waldbewohner liebten sie; denn sie war immer freundlich zu den Tieren und sie konnte wunderbar singen. Wenn sie mit ihrer glockenhellen Stimme sang, verstummten sogar die Vögel. Alle hörten wie verzaubert zu. Wer traurig war, wurde fröhlich, und wer Sorgen hatte, sah plötzlich eine Lösung.
Als die Prinzessin an ihrem sechzehnten Geburtstag aufstand und ihr Morgenlied singen wollte, brachte sie keinen Ton heraus. Über Nacht hatte sie ihre Stimme verloren. Stumm sass sie da und schaute trübsinnig zum Fenster hinaus.
Plötzlich sprang sie auf. "Ein Schluck vom Erdbeerwein wird mir helfen", dachte sie. Der Erdbeerwein, den ihre Familie seit Generationen herstellte, war berühmt. Und wenn man ihn heiss trank, vertrieb er jede Erkältung.
Die Prinzessin nahm einen tüchtigen Schluck; aber es kam nur ein heiseres Krächzen heraus. Noch ein Schluck und noch ein Schluck. Die Stimme kam nicht zurück.
Die Nachricht verbreitete sich im Wald wie ein Lauffeuer: "Die Prinzessin hat ihre Goldstimme verloren." Weil sie so hell und rein singen konnte, glaubten die Waldbewohner, die Prinzessin hätte Gold in der Kehle.
"Wir müssen ihr helfen", riefen alle.
"Aber wie können wir ihr denn helfen?", fragte ein kleiner Igel. Niemand hatte eine Idee.
"Der Einzige, der vielleicht helfen kann, ist der Waldkater", sagte nach einer Weile der Luchs.
Der Waldkater hatte eine Zeit lang bei einem Professor in der Stadt gelebt. Von ihm hatte er manches gelernt und als er in den Wald zurückkehrte, nahm er einige Bücher von Gelehrten mit.
Der Luchs raffte sein erspartes Geld zusammen und machte sich auf den Weg zum Waldkater, der in einem Baumhaus am Eingang des Waldes wohnte.
Zuerst musste er sein ganzes Geld herausgeben. Erst dann setzte der Waldkater eine goldene Brille auf und blätterte in seinen gelehrten Büchern.
"Schlimm, schlimm", murmelte er, als er nach langem Suchen etwas gefunden hatte.
"Die Prinzessin steht unter einem Fluch, den die böse Fee Hulda ausgesprochen hat, weil sie nicht zur Taufe der Prinzessin eingeladen wurde. Hier steht, dass sie an ihrem sechszehnten Geburtstag ihre Singstimme verlieren wird."
"Das ist bereits geschehen," sagte der Luchs. "Steht in deinem Buch auch, wie wir ihr helfen können?"
"Es gibt ein Balsamkraut, das tief in der Erde wächst. Es kann Krankheiten heilen und den Fluch aufheben", antwortete der Waldkater. "Ihr müsst euch jedoch beeilen, es blüht nur einmal im Jahr und zwar in dieser Nacht. Am Ende des Waldes, bei der alten Eiche, befindet sich eine Höhle. Dort ist der Eingang. Aber nehmt euch in acht. Viele haben es schon versucht und sind nicht zurückgekommen."
Als der Luchs mit der Nachricht nach Hause kam, sagte zuerst keiner ein Wort. Wie ein schweres Gewicht legte es sich auf ihre Gemüter.
"Wer soll gehen?", fragte schliesslich der Luchs. Keiner meldete sich.
"Wir sind doch keine Feiglinge.", sagte der Luchs.
"Dann geh du doch", meinte der Fuchs.
"Gut, ich gehe, aber nur unter einer Bedingung. Sollte ich nicht zurückkommen, muss jemand von euch für meine Familie sorgen."
Der Fuchs meldete sich.
"Dann ist es entschieden", sagte der Luchs.
Es war Mitternacht, als er bei der alten Eiche ankam. Da war die Höhle, wie der Waldkater gesagt hatte. Mutig schritt der Luchs vorwärts. Er hörte huschen und flüstern, als ob hundert Wesen um ihn herum sprängen. Ein beklemmendes Gefühl befiel ihn. Aber dann dachte er an die Erdbeerprinzessin und ihre goldene Stimme und lief weiter.
Mit einem Mal wurde es hell und er befand sich in einer grossen Halle. Wände, Decken und sogar der Boden strahlten von Gold. Auf dem Fussboden standen Säcke mit funkelnden Goldmünzen. Der Luchs fand sich wie in einem Rausch. Gierig starrte er auf den Schatz. Mit beiden Pfoten raffte er Goldmünzen aus einem Sack.
"Habe ich nicht mein ganzes Erspartes geopfert? Ich muss doch für meine Familie sorgen?", rief er.
Der Luchs spürte einen unwiderstehlichen Drang, ein paar Goldmünzen einzustecken.
Plötzlich fiel ihm wieder ein, was der Waldkater gesagt hatte:
"Nehmt euch in acht. Viele haben es schon versucht und sind nicht zurückgekommen."
Wie im Traum legte er die Goldmünzen zurück.
Da umschwebte ihn ein süsser, milder Duft und dicht neben sich auf dem Boden sah er ein kleines Kräutlein mit blauen Blüten. Das war das Balsamkraut, nach dem er gesucht hatte.
Noch ganz benommen pflückte er es und fand sich im gleichen Augenblick wieder am Ausgang der Höhle.
"Habe ich das alles geträumt?", rief der Luchs. "Aber nein, ich habe ja das Blasamkraut in meiner Pfote. Huch bin ich müde. Ein kleines Nickerchen wird mir gut tun." Erschöpft legte er sich auf den Boden und schlief ein.
Zu Hause warteten die Waldbewohner gespannt auf seine Rückkehr. Niemand dachte in dieser Nacht an Schlaf. Stunde um Stunde verging. Kein Luchs erschien.
"Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen", sagte schliesslich der Fuchs, als der Morgen dämmerte. "Auf jeden Fall halte ich mein Versprechen. Ich werde für seine Familie sorgen. Und unser geliebter Luchs wird als Luchs der Tapfere für immer in unserer Erinnerung weiter leben.
Geht nach Hause und versucht noch etwas zu schlafen."
"Aber wie sollen wir nun der Prinzessin helfen?", fragte der kleine Igel.
"Morgen werden wir weiter beraten", sagte der Fuchs.
"Traritrara, der Luchs ist wieder da", tönte es da plötzlich hinter einem Busch hervor. Der Luchs war bereits seit einiger Zeit zurück und hatte gerührt zugehört, wie sich alle um ihn Sorgen machten.
"Hurra, der Luchs ist wieder da!", riefen alle im Chor. "Und er bringt das Balsamkraut mit." Die Waldbewohner waren so erleichtert, dass sie sich umarmten und vor Freude weinten.
Aus dem Kraut wurde für die Prinzessin ein heilender Trank gebraut und der gab ihr die Stimme zurück. Der Fluch hatte die Wirkung verloren.
Nun wurde ein grosses Fest gefeiert zu dem die Waldbewohner eingeladen waren. Natürlich auch der Waldkater. Die Prinzessin sang ihre schönsten Lieder und alle Traurigkeit war verschwunden. Jeder durfte so viel Erdbeerwein trinken, wie er wollte, und es wurde gelacht und getanzt.
Der Luchs aber wurde als Held gefeiert. Die Prinzessin rühmte seinen Mut und seine Standhaftigkeit und schenkte ihm so viele Goldmünzen, dass er ohne Sorgen in die Zukunft blicken konnte.