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Eigentlich egal
Wieder einer dieser Tage, an denen ganz Halle stinkt. Sogar Marie riecht heute nicht gut. Weil sie mit der Bahn fährt. Durch diese Stadt. An diesem Tag. Ich will, dass sie sich diese Stadt und diesen Tag abduscht und sie sagt, Das geht nicht. Dann küsst sie mich. Es schmeckt okay.
Wie kann eine Stadt nur so stinken?, frage ich mich und tauche mit meiner Nase in ihr Haar. Vielleicht ist Halle die einzige Stadt, in der man schmutzige Gedanken riechen kann. Und ich mag die Vorstellung, dass sie stinkt, weil sie schmutzig denkt.
Für einen Ich-Erzähler kenne ich mich eigentlich zu wenig, aber wenn ich schreibe, sie küsst David, klingt das so, als küsse sie einen anderen. Und das tut sie nicht. Sie küsst mich. Sie schläft mit mir und neben mir und neben mir mit mir ein und mit mir neben mir wacht sie wieder auf. Auch wenn es Davids Bett ist, in dem wir liegen.
Ich schau ihr in die Augen und frage, ob ich ein Foto von ihr machen darf.
Soll ich die Beine spreizen?
Nein. Ich will nur dein Auge photographieren. Nichts sonst. Auch nicht das ganze Auge. Nur den Punkt, in dem ich dich sehe, wenn ich dich anschaue. Nur den. Und sie sagt, dass man den so wenig photographieren kann wie schmutzige Gedanken. Ich versuche es trotzdem.
Irgendwann wird ihr das Geblitze zu blöd. Vielleicht hat sie auch nur Angst, blind zu werden. Jedenfalls schlüpft sie aus der Decke und geht zum Fenster, nackt und ein bisschen so, als versuche sie meine Blicke abzuschütteln. Kurz bevor sie die Vorhänge aufziehen, das Fenster öffnen und sich hinaus lehnen wird, schaut sie zu mir, weil sie weiß, dass mich allein die Möglichkeit, dass ein Nachbar sie so sehen könnte, eifersüchtig macht. Dann öffnet sie das Fenster und lehnt sich hinaus und ich sehe, wie ihr eine Gänsehaut entgegen fliegt. Als sie sich umdreht, sind da zwei erhärtete Brustwarzen und ein enttäuschter Smiley: Heute stinkt es gar nicht.
Sie verschwindet im Bad und ich höre sie singen, mit ihrer fürchterlichen Stimme. Ich habe ihr einmal gesagt, dass ich ihr dabei gern zusehen würde. Wobei?, wollte sie wissen. Naja, wie du unter der Dusche singst. Und sie meinte, Mach doch! Aber als ich dann so auf dem Teppich vor der Dusche saß, mir verirrte Tropfen ins Gesicht spritzten, ihre kratzige und nasige Stimme von überall her ins Ohr hallte und sie sich meine Fingerabdrücke und Küsse abduschte, fand ich das komisch. Soll sie ohne mich in der Dusche singen. Ich schau mir die Fotos an und sehe sie, aber getroffen habe ich sie nicht.
Nur ihre Lippen, die lächeln und küssen und lieben. Schmolllippen, die keine sind, weil sie nicht schmollt, nie. Auch nicht, wenn ich ihr sage, dass sie stinkt. Sonst riecht sie ja gut, verdammt gut und ich glaube, wenn jemand sagt, zwei Menschen passen gut zusammen, meint er damit, dass einer mag wie der andere riecht und umgekehrt. Und dass die Lippen aufeinander passen. Und die Gefühle.
Warum hast du ein Handtuch um?
Nur so.
Du rennst nie mit Handtuch durch die Wohnung.
Nie, außer heute.
Sag schon: Warum?
Kann ein Duschgel ablaufen?
In den Abfluss?
Nein, du Idiot. Gibt es bei Duschgels ein Mindesthaltbarkeitsdatum oder so?
Bestimmt. Warum?
Naja, ich glaube, meines war abgelaufen.
So selten duschst du doch auch nicht, oder?
Ich meine es ernst! Ich hab jetzt voll die hässlichen Flecken auf der Brust. Ich lache und ich weiß, dass ich nicht lachen sollte, und ich überlege schon, mit dem Lachen aufzuhören, aber da fängt sie auch an zu lachen und wir lachen beide.
Lass mal sehen! Und sie lacht weiter.
Die willst du gar nicht sehen!
Natürlich will ich die sehen!
Nein, willst du nicht!
Doch!
Nein!
Hey, und wenn du überall hässliche Flecken hättest, würde ich dich sehen wollen. Ja, ich würde dich sogar lieben, wenn du ein hässlicher Fleck wärst.
Das glaube ich dir nicht.
Schmeiß das Handtuch in die Ecke, komm her und ich küss dir die hässlichen Flecken weg!
Und wenn ich sie behalten will?
Küsse ich einen weiten Bogen um sie.
Sie schüttelt den Kopf und setzt sich zu mir aufs Bett, immer noch ins Handtuch gewickelt. Sie schaut an die Wand, als stünde dort was über hässliche Flecken, wie man sie loswird oder so. Sie sieht dabei so unverschämt hübsch aus, so ungeschminkt und unverfälscht. Ihr Haar tropft und an ihrem Ohrläppchen klebt etwas Salbe, weil sie gestern irgendwo mit ihrem Ohrring hängen geblieben ist und sich das entzündet hat. Es ist schwer, ihr nicht zu sagen, wie schön sie ist. Aber ich weiß, dass sie solche Komplimente nicht mag. Als wir uns das erste Mal gesehen haben, auf einer Geburtstagsfeier von einem Freund und sie noch seine Freundin war, habe ich ihr, als er mit seiner Wodkaflasche da saß, aber schon in einer anderen Welt, gesagt, wie schön sie sei. Und sie meinte nur: Danke, aber was kann ich dafür, wie ich aussehe oder nicht? Wenn jemand wissen will, warum ich mich in Marie verliebt habe, denke ich an diesen Satz.
Wetten, du würdest mich nicht lieben, wenn ich hässlich wäre. Wenn ich drei Brüste hätte. Oder die Nase von deiner Oma. Du könntest mich unmöglich lieben, wenn ich Haare auf der Brust hätte, wenn sich die so kringeln und meine hässlichen Flecken durchschimmern, ein bisschen nur, gerade so, dass man weiß, dass sie da sind. Wie könntest du mir Ich liebe dich sagen, wenn du weißt, dass ich keine Zähne mehr habe und lisple und stottre und spucke dabei.
Ich ziehe sie an ihrem Handtuch zu mir ins Bett und packe sie aus wie ein unschön eingewickeltes Geschenk. Als ich die Flecken auf ihrer Brust sehe, muss ich schlucken. Die sehen aus wie eine Mischung aus Schimmel, Rotz und Hackfleisch, nur härter. Ich schlucke noch einmal und küsse ihre Brust, dann sage ich, den Blick fest in ihrem: Ich liebe dich, egal, wie viele Brüste oder Zähne du hast. Und wie hässlich deine Flecken sind. Ich küsse sie und sage: Außerdem wären drei Brüste auch nicht schlecht.
Das sind Komplimente, die sie mag. Albern irgendwie, aber schön auch. Dann fischt sie das Handtuch unter dem Bett hervor und ich habe keine Ahnung, wie das Handtuch unters Bett gekommen ist oder sie das wissen kann. Sie legt es mir übers Gesicht und taucht unter die Decke und ich spüre ihre Lippen, die keine Schmolllippen sind.
*
Als ich aufwache, frage ich mich, wann ich eingeschlafen war und ob. Und wo Marie ist.
Durch das Fenster weht kalte, dunkle Luft. Ich schlüpfe in meine Jogginghose, schließe das Fenster und stolpre durch die Wohnung. Überall liegt schmutzige Wäsche, sogar auf dem Kühlschrank, den wir gestern leer gekocht haben. Die Erinnerung an das dreigängige Menü zur Feier ihrer bestandenen Abschlussklausur quillt aus der Spüle. Ein Post-It klebt am Wasserhahn: Bin bei Klara. Kannst ja abspülen. Bevor ich darüber nachdenken kann, fangen meine Hände an, die Essensreste von den Tellern zu kratzen. Ich schließe meine Augen, lasse heißes Wasser über meine Handflächen fließen, und Gedanken. An Marie, wie sie diesen frechen Zettel schreibt, mit dem gleichen Kugelschreiber, auf dem sie bei ihrer Prüfung gekaut hat. Ich habe sie gefragt, ob ihre Stifte auch später, wenn sie Rechtsanwältin ist, pink sein werden und sie hat gesagt, Solange sie schwarz schreiben, ist das doch egal, oder?
Ich könnte mir ein Bier aus dem Kühlschrank nehmen, mich vor den Fernseher setzen und Fußball gucken. Ich könnte den Konjunktiv ins Klo schmeißen und runterspülen, aber David hat kein Bier im Kühlschrank stehen, keinen Fernseher im Wohnzimmer und Fußball mag er auch nicht, schon als Kind nicht. Ich lege mich auf die Couch und träume. Im Kalender steht nichts von Stress.
Bleib heute bei Klara.
Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, stört es mich nicht, dass Marie nicht neben mir liegt. Oft muss sie früher weg als ich und ich wache alleine auf. Was mir fehlt, ist die warme Stelle im Bett, die weiche Erinnerung an sie.
*
David, kann es sein, dass du heute irgendwo anders bist?
Ich bin hier. Das siehst du doch!
Aber ich höre es nicht.
Mirko ist vierzehn Jahre alt, klüger als er alt ist und einer meiner Schüler, denen ich nachmittags Klavierunterricht gebe. Ich unterrichte ihn seit einem Jahr und habe Angst, dass er in ein paar Monaten besser spielt als ich. Du weißt schon, dass du ein Klavier nicht mit an den Strand nehmen kannst, habe ich damals gesagt und ihm angeboten, Gitarrespielen zu lernen. Da hat er gemeint, dass man eine Gitarre zwar an den Strand nehmen, aber keine Gitarre der Welt den Strand ins Zimmer holen kann. Denkst du an deine schöne Freundin? Weil ich nicht gleich antworte, beginnt er ein Stück zu spielen, das ich nie zuvor gehört habe. Er spielt es nicht laut und nicht leise. Er spielt es in Dur, schafft es aber, dass es sich wie Moll anhört; es macht das Ohr ein bisschen traurig, trotzdem klingt es glücklich und irgendwie kommt es mir bekannt vor. Ich möchte ihn unterbrechen und fragen, was er da spielt, aber ich höre es mir bis zum Ende an. Dann sagt Mirko: Das habe ich gefühlt, als ich deine Freundin das erste Mal gesehen habe.
Als ich mich von Mirko verabschiede, will seine Mutter wissen, ob es vorangehe. Ich sage ihr, dass sie ihren Sohnemann mal fragen solle, wie ein Lehrer seinem Schüler etwas beibringen kann, was er selbst nicht beherrscht.
Kommst du gar nicht mehr zurück?
Doch.
Und wann?
Weiß ich noch nicht.
Fragezeichen krabbeln wie Spinnen über die Wand. Ich rufe Klara an. Sie drückt mich weg. Ich schreibe Marie. Sie antwortet nicht mehr. Dann trinke ich. Das verwandelt die Spinnen aber auch nicht in Antworten. Also rufe ich Jonas an. Der war mit mir auf der Musikhochschule und als wir die hinter uns hatten, saß er Samstag Abend immer noch in meiner Wohnung. Jetzt soll er mich zu Klara fahren. Eine halbe Stunde später steige ich in sein Auto, aus dem laute Musik dringt. Ich sage, er soll sie leiser machen. Er stellt sie ab.
Stress mit Marie?
Weiß nicht.
Willst du drüber reden?
Er schaut mich an. Ich schaue ihn an. Keiner sagt etwas und nachdem wir fünf Minuten so durch die Stadt fahren, wünsche ich mir laute Musik. Musikhören ist nicht Schweigen.
Soll ich warten?
Nein.
Ohne Danke schlage ich die Tür zu.
David klingelt. Er wartet und liest die Namen auf dem Klingelbrett. Ein Vibrieren öffnet die Haustür. Er rennt in den zweiten Stock, wo Klara im Türrahmen steht. Heute trägt sie kein Mädchenblumenkleid, sondern Jogginghose und ein Shirt, das einem verrät, dass sie keinen BH anhat. Wie Frau Ernst sieht sie nicht aus, auch wenn sie sich Mühe gibt.
Was willst du?, fragt sie ohne Lippenstift.
Wo ist Marie?
Die will dich nicht sehen.
Aber warum? - Hab ich irgendetwas Falsches gesagt?
Klaras Achseln zucken.
Ist es, weil ich nach dem Sex eingeschlafen bin?
Das tust du doch immer!, höre ich Marie sagen. Ich schiebe Klara beiseite. Sie versucht, mich aufzuhalten. Mehr, weil sie muss, weniger, weil sie will. Ich gehe ins Wohnzimmer. Eine von Klaras komischen Freundinnen sitzt auf der Couch. Auf dem Kopf ein bisschen Haar. Wie Badeschaum, nur schwarz. Im Gesicht Pusteln, die ansteckend aussehen. Eine Art Fell auf ihren Lippen. Dicklich ist sie. Ihr Gesicht aber eingefallen, als wäre das meiste davon nach unten gerutscht oder verloren gegangen. Etwas in ihrem Auge kommt mir vertraut vor. Wo ist Marie?
Das ist Marie, du Arschloch!, sagt Klara, die hinter mir steht und ihrer Freundin dabei zusieht, wie sie sich in der Decke verkriecht und anfängt zu weinen. Und ich stehe auf Klaras Kuschelteppich, der sich wie nasser, weißer Sand anfühlt. Da bin ich. Am Strand. Mit Mirko, der Gitarre spielt.
Du hast gesagt, dass du mich auch lieben würdest, wenn ich ein hässlicher Fleck wäre. Das hast du gesagt.
Das war David.
Was?
Da flüchtet die, die Marie sein soll, ins Bad. Ich setze mich auf den Boden. Hätte mich Klara nicht am Arm gepackt, wäre ich wohl gefallen.
Und das ist wirklich Marie?
Klara nickt.
Ich lehne mich an die Badezimmertür und weiß, dass da mehr zwischen mir und Marie ist als ein Stück Holz. Kommst du da nie wieder raus?
Liebst du mich noch?
Ja. Keine Lüge. Nur eine schwer auszusprechende Wahrheit.
Wirst du mich küssen?
Wenn du dir vorher die Lippen rasierst.
Klaras tötende Blicke im Nacken, Maries holziges Schweigen im Ohr.
Klara?
Ja.
Hast du noch einen Rasierer?
Im zweiten Schub.
Links oder rechts?
Links.
Da ist nichts.
Dann rechts.
Ich stell mir vor, wie sie sich die Hässlichkeit wegrasiert. So etwas darfst du nicht denken, sagen mir Klaras Blicke. Klaras Blicke sollen die Fresse halten! Und Marie soll endlich aus dem Bad kommen! Nicht die hässliche. Meine schöne Marie, der es egal ist, dass sie schön ist.
Ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Ich sehe, wie sich die Türklinke senkt. Kannst du die Augen zumachen?, fragt Marie.
Warum?
Mach deine Scheißaugen einfach zu, okay!, sagt Klara und weil ich weder ihren Blicken noch ihrem Mund gehorche, stellt sie sich hinter mich und hält mir die Augen zu. Ich höre, wie Marie aus der Tür schlüpft und auf den Kuschelteppich tritt, wie das leise Rauschen näher kommt. Schüchterne Trippelschritte bis ihre Lippen meine berühren. Ich weiß nicht, ob das ein Kuss ist. Ich weiß nur, dass es Marie ist.
Als Klara die Hände von meinen Augen nimmt, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Klara macht mich nervös. Klaras Wohnung macht mich nervös. Ich will allein sein, mit dieser Frau, die Marie ist, aber nicht aussieht wie Marie.
Soll ich euch fahren?
Nein. Wir nehmen die Bahn.
Klara schaut David und Marie hinterher, wie sie nebeneinander, aber nicht miteinander die Treppen hinab steigen. Die gute Freundin in ihr weint bei diesem Anblick. Die böse freut sich, dass sie jetzt schöner als Marie ist. Beide sagen: Tschüs!
Dieses Tschüs! hallt nach in meinen Ohren. Ich will es auch sagen. Zu Marie. Sie wegdrücken. Dann wegrennen, irgendwohin. Zu einer anderen Marie vielleicht. Wir stehen an der Haltestelle. Ein alter Mann kramt in einem Mülleimer. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck zieht er etwas heraus und steckt es in seine Hosentasche. Er kommt näher, mit einem Betteln auf den Lippen, aber als er Marie sieht, wendet er sich ab und verschwindet hinter einem Häuserblock.
Lass uns gehen, sagt Marie.
Warum? Die Bahn kommt in zwei Minuten.
Ich will aber nicht mit der Bahn fahren.
Warum?
Ich schaue in ihr Gesicht und sehe den Wunsch, sich zu verstecken. Unsichtbar zu sein. Für jeden. Auch für David. Und für mich. Und freilich wäre es leichter, Marie eine Tüte über den Kopf zu stülpen, am besten noch unter einen Regenschirm zu stecken, obwohl es gar nicht regnet, und sich durch die Hintergassen der Stadt nach Hause zu schleichen. Weil die Menschen nicht blind sind für Menschen, die anders aussehen. Im Gegenteil. Nur eine kleine Abweichung von der Norm, egal ob die Lippen zu voll sind, nach besseren Küssen ausschauen, oder jemandem ein Gesicht auf dem Gesicht klebt, das aus einem Alptraum gestolpert ist. Wie auf Maries Gesicht ein Gesicht klebt, das aus einem Alptraum gestolpert ist.
Willst du dich jetzt ewig verstecken? Ist das dein Plan?
Und Marie schaut nach unten, bohrt sich in Gedanken in den Asphalt. Begräbt sich selbst, still und beiläufig.
Schau mich an!
Beiläufig und still.
Marie! Schau mich an!
Und einen kurzen Moment gelingt es der schönen Marie schneller zu sein als der hässlichen und ich gucke in ein vertrautes Gesicht, in meine Marie, während die neue, hässliche Maske noch im Asphalt gräbt.
Schön sind nicht die, die schön aussehen, sondern schön sind. Das sagt niemand. Nicht David. Nicht Marie. Nicht ich. Das ist einfach da. Ein Flüstern vielleicht, das im Mülleimer liegt, weil jemand diesen Gedanken verworfen hat oder nicht gewagt hat, ihn auszusprechen.
Lass uns trotzdem gehen.
Okay, sage ich.
David nickt.
Die Wolken hängen wie traurige Gestalten vom Himmel. Marie sieht nur Kippen und Kaugummis. Und egal, in welchen Mündern die Kaugummis einmal waren oder welchen Geschmack oder welche Farbe sie hatten - irgendwann werden sie alle grau.
Ob die wie Bordstein schmecken?
Wer?
Ach. Egal.
Wir gehen nebeneinander, aber nicht miteinander. Sie lässt ihre linke Hand neben sich baumeln, berührt mich hin und wieder, beinah zufällig. Und ihre knochigen Finger schreien nicht Nimm meine Hand! Sie flüstern: Du kannst sie nehmen. Aber ich will nicht. Es wäre eine Lüge. Auch ohne Worte.
Die Jemands, die uns begegnen, lachen oder erschrecken oder lachen und erschrecken still. Nur ein kleines Mädchen verzieht beim Vorbeigehen ihr Gesicht, deutet auf Marie und sagt zu ihrer Mutter: Böser Storch, böser Storch! Und Marie bleibt stehen. Als stünde sie auf einer unsichtbaren Tretmine, die explodiert, sobald sie sich weiterbewegt. Das Mädchen macht eine Grimasse als wolle sie fauchen. Ich lege Marie meine Hand um die Taille, die nicht mehr straff und fest, sondern weich ist und meinem sanften Druck nachgibt. Zugleich möchte ich nach dem Mädchen greifen und ihren Kopf auf den Kaugummiasphalt drücken.
David? Bist du das?, fragt die Mutter des Mädchens und als ich der Stimme ins Gesicht schau, ist es Mirkos Tante.
Ja. Hallo. Den Namen hat sich David nicht gemerkt.
Entschuldigung, Anouschka hat das bestimmt nicht so gemeint!
Anouschka ist ja ein hässlicher Name.
Wie bitte?
Ach, nichts. Was machen Sie hier?
Ich wollte mit Anouschka (sie spricht den Namen dieses Mal leiser aus) Mirko besuchen. Und was machen Sie hier?
Spazieren.
Ist das ihre Freundin? Die schöne (sie spricht dieses Wort sehr leise aus, verschluckt es fast, zusammen mit einem Lachen) Freundin, von der Mirko so geschwärmt hat?
Die kleine Rotzgöre summt die Melodie von dem Stück, das Mirko letztens gespielt hat.
Exakt! Das ist meine schöne Freundin Marie. Und ich ziehe Marie zu mir. Spüre die Explosion. Wie sie innerlich zersplittert. Und die roten Tränen. Und das, Marie, ist jemand, der mich einen Scheißdreck interessiert. Ich verzichte auf die Reaktion meines Gegenübers, nehme Marie an der Hand, drehe mich um und gehe weiter. Als wir um die Ecke biegen, möchte ich Marie am liebsten meine Hand geben und wegrennen. Weit weg. Irgendwohin, wo es keine Wolken und keine Kaugummis gibt. Nur Mirkos Melodie.
Und was machen wir jetzt?, fragt Marie und rührt in dem Tee, den David ihr gekocht hat. Sie umklammert die Tasse mit beiden Händen. Aber das scheint sie nicht zu wärmen, sondern ihr die Wärme aus den Gliedern zu ziehen. Sie sitzt auf dem Bett und zittert und beißt sich auf die Zähne, weil sie nicht mit ihnen klappern will. Ihre blauen Wangen schreien nicht Kuschle mich! Sie flüstern: Du kannst mich kuscheln. Und ich setze mich zu ihr aufs Bett. Auf jene Stelle, auf der sie saß, als sie von den hässlichen Flecken auf der Brust erzählt hat. Und starre an die Wand. Als stünde dort etwas über plötzliche Hässlichkeit, wie man sie loswird oder so. Ihre Finger tasten nach meinen. Ich will sie wegziehen, aber David greift nach ihnen, umklammert sie und vertreibt die Kälte in ihnen und ich freue mich über das Lächeln in Maries traurigem Gesicht.
Ich rutsche etwas näher zu ihr.
Was hältst du davon, wenn wir morgen zu einem Arzt gehen?
Und der verschreibt mir dann eine Salbe und alles wird gut, oder was?
Vielleicht.
Schwachsinn!
Einen Versuch ist es doch wert. Schlimmstenfalls erwartet uns ein Achselzucken.
Oder die sperren mich weg.
Sag so was nicht.
Die Geschichte glaubt uns eh niemand. Die halten mich bestimmt für verrückt. Eine Irre, die nicht akzeptieren will, wie sie aussieht.
Lass es uns probieren. Wenn sie dich wegsperren, gehe ich mit.
Sie küsst mich. Mit roten Wangen. Danach habe ich ein Haar auf der Zunge.
Ist es okay, wenn ich heute auf der Couch schlafe?
Die Kerze am Frühstückstisch kann die Romantik, die vor kurzem noch in dieser Wohnung schwebte, nicht zurückholen. Immerhin riecht sie danach. Marie setzt sich und bläst sie aus. Blickt dem weißen Rauchfaden sehnsüchtig hinterher und sagt: Schade, dass du gestern nicht bei mir geschlafen hast. Ich will etwas sagen, aber da presst sie ihre Lippen auf meine. Guten Morgen!
Marie kaut noch auf ihrem Schokocroissant. Ich gehe ins Schlafzimmer und hole das Telefon, um einen Arzt anzurufen. Dass die Vorhänge noch zu sind und die Fenster geschlossen, fällt David nicht auf. Der greift nach dem Telefon und gibt eine der Nummern ein, die er gestern vor dem Schlafengehen aus einem Branchenbuch heraus geschrieben hat.
Was, kein Termin vor Juni?
Er gibt seine Nummer durch. Für den Fall, dass ein Termin frei wird. Mit einem Rückruf rechnet er allerdings nicht. Dieses Prozedere wiederholt sich mehrere Male. Nur der Monat verändert sich. Der frühste Termin wäre in vier Wochen. Aber auch den will David nicht haben. Ich schlage Marie vor, in die Notaufnahme zu fahren, aber da will sie nicht hin, weil ihre Schwester dort arbeitet. Ich will protestieren, aber da klingelt das Telefon.
Sie werden Mirko nicht länger unterrichten.
Okay. Ich tausche kurz die Sekretärin in einer Arztpraxis gegen Mirkos Mutter in viel zu langem Kleid. Sagen Sie ihm, dass ...
Das können Sie ihm selbst sagen. Ich schicke ihn noch einmal vorbei. Mit dem Geld für die letzte Stunde.
Ist recht.
Dann lege ich auf. Mit dem Gefühl, dass Mirkos Mutter ein bisschen schneller war.
Und?, fragt Marie.
Das war nur die Mutter eines Schülers.
Musst du heute noch weg?
Nein, ich habe allen abgesagt.
Wegen mir?
Auch.
Ich versuche mir einzureden, dass Marie gar nicht so schlimm aussieht. Dass sie gar nicht so hässlich und abstoßend ist. Aber dann sehe ich ein Bild von ihr, wie sie auf einem Pferd sitzt und in die Kamera grinst, und merke, dass ich mir selbst der größte Lügner bin. Ich setze mich neben Marie auf die Couch, umarme sie und gucke mit ihr zusammen eine Serie, in der es um hübsche Mädchen geht, die über Handtaschen, Lippenstifte und Schwänze reden. Ich stehe nur auf, um auf die Toilette zu gehen oder die DVDs zu wechseln. Die Sonnenstrahlen ziehen sich zurück. Am Ende geht es nur noch um Schwänze.
Als es an der Tür klingelt, wird Marie nervös. Sie will ins Schlafzimmer. Ich sage ihr, dass sie sitzen bleiben soll. Sitzen bleiben kann. Ich öffne Mirko die Tür. Er hat mir einen Geldschein und eine Träne mitgebracht. Ich wische ihm die Träne aus dem Gesicht und stecke ihm den Geldschein ins Hemd. Er lächelt und als Marie niest, lehnt er sich zur Seite, um an mir vorbei schauen zu können. Er sagt Hallo, Marie und lehnt sich wieder zurück und schaut mich an.
Ich werde dich vermissen, David.
Ich dich auch, Mirko.
Dann geht er wieder und mit ihm der einzige Schüler, den ich wirklich gern unterrichtet habe. Bevor er in den Aufzug steigen kann, eile ich ihm nach und frage, ob ich ihn etwas fragen dürfe. Natürlich. Alles. Und ich frage ihn, ob das Stück, das er gespielt hat, anders klingen würde. Jetzt, wo er Marie so gesehen hat. Der Aufzug öffnet sich. Mirko geht hinein und sagt, kurz bevor sich der Aufzug schließt: Nein.
Heute schlafe ich wieder auf der Couch. Aber Marie auch. Ich umarme sie. Oder David Marie. Oder ich eine andere Marie. Dann küsse ich ihr in den Nacken und denke, eigentlich egal.