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Ein Kästchen voller Hass
Erna Goschinski hasste ihren Mann.
Nun genügte es ihr allerdings mitnichten, diesen Hass für sich zu behalten, sich dann und wann an ihm zu nähren und ihn, wenn ein Tag besonders öde und leer war, hervorzuholen und ihn ein wenig zu betrachten um sich einen Moment der Erfülltheit zu bescheren; nein, sie war eine Frau der es nicht möglich war, guten Gewissens nur an sich selbst zu denken. Erna Goschinski teilte ihren Hass.
Sie bewahrte den Hass in einem kleinen, hölzernen Kästchen auf, ein ganz liebreizend verziertes Stück, mit filigran eingravierten Gallenblasen, verzerrter Fratzen und - dies war ihr ein besonders gern gesehener Augenschmaus - einer überaus detailreichen Szene der Ermordung eines buckligen, dürren Wesens durch eine muskulöse, grimmig wirkende Hexe auf der Rückseite.
Eines Morgens - ihr Mann war schon auf der Arbeit - stand sie nach einer qualvollen, unruhigen Nacht voller absonderlicher Träume von großen Säälen, in denen Menschen an rießigen, runden Tischen saßen und Gespräche führten, vor eben jenem Behältnis in dem sie ihren Hass aufbewahrte und war im Begriff sich an ihm zu ergötzen, um den Schrecken der Nachtruhe zu entfliehen. Ein breites, seltsam schwammiges Lächeln begann sich auf ihrem aufgedunsenen Gesicht zu entfalten, als sie ihre klobigen Finger an den Verschluss des Kästchens führte. Mit der Absicht, ein anständig bemessenes Stückchen Hass heraus zu nehmen und damit zu Rosella Müller-Dietrich, ihrer Nachbarin, herüber zu gehen um mit ihr gemeinsam ein wenig davon zu inhalieren, öffnete sie die Truhe mit einem beherzten Zug an dem güldenen Verschluss.
Unmöglich, den Ausdruck in ihrem Antlitz zu beschreiben, der sich formte, als ohne jegliche Vorwarnung ein Geschrei ertönte, das in Lautstärke und Penetranz alles überbot was Erna Goschinksi bis zu diesem Tag an Geschrei vernommen hatte.
Zutiefst erschrocken schlug sie den Deckel zu.
Das Geschrei verstummte augenblicklich.
Am ganzen Körper bebend stand Erna im Raum, in Schockstarre, unfähig sich zu rühren. Es brauchte gewiss zwei Minuten, bevor sie sich überwand ihre Hand zu heben, und, langsam, sehr langsam, in Richtung des Kästchens zu führen, wo sie sie auf dem Deckel ruhen ließ. Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihre kleinen, glasigen Augen zuckten nervös hin und her, als sie sich, die Hand regungslos auf dem Behälter, zu dem Fenster hindrehte um zu sehen ob womöglich die Nachbarn etwas von dem entsetzlichen Geschrei gehört und sich nun neugierig an ihre Fensterbänke gelehnt hätten, um zu sehen was da vor sich ginge. Niemand war zu sehen.
Gewiss hätte sie nun auch nach dem Kind gesehen, welches oben in seiner Krippe lag, wenn es denn einen driftigen Grund dafür gegeben hätte, doch als sie auch nach mehrsekündigem Lauschen kein Tönchen aus dem oberen Stockwerk vernehmen konnte, seufzte sie erleichtert auf und widmete sie sich wieder ihrem Hass.
Langsam, fast unmerklich, begann sie, den Deckel zu lüften. Erst ein Milimeter, dann zwei, immer weiter, zögernd, fürchtend, drei Milimeter, vier, ein Tropfen schweiß stand kurz davor ihr über die Augenbraue zu treten, als sie, fünf Milimeter, ein Geräusch aus dem Kästchen vernahm, das innerhalb von einem Nichts anschwoll, sich wimmernd aufbaute und ...
Sie schlug den Deckel zu.
Fünf Minuten später stand Frau Goschinksi, das Kästchen in der Hand, in ihrem Schlafzimmer im oberen Stockwerk vor dem Ehebett. Vor ihr türmten sich ganze sieben Wolldecken auf, zusammen mit einem dicken Daunenkissen und dem alten Seemannssack, den sie von ihrem Großvater - Gott hab' ihn selig - geerbt hatte.
Eine Decke um die andere breitete sie auf dem Bett aus, legte sie fein säuberlich übereinander, unterbrach die Arbeit gar einmal um sich selbst zur Ordnung zu rufen, sie möge trotz aller Aufregung Bedacht walten lassen, und die schäbigste der Decken an die unterste Stelle zu verlegen, wo man sie nicht gut sehen konnte. Schließlich stellte sie das Kästchen in die Mitte der improviserten Polsterung, bedeckte es mit dem Kissen und schlug die Decken so eng wie möglich darum. Zum Schluss nahm sie unter nicht unerheblichen Mühen ihre Konstruktion auf beide Arme und versuchte sie in den alten Seemannssack zu zwängen, was ihr schließlich nach einigen Versuchen und etlichen unchristlichen Flüchen auch gelang.
Sie war sich sicher, auf diese Weise konnte sie es riskieren.
Die Hände im Inneren des monströsen Schalldämpfers, erfühlte sie den Verschluss des Kästchens, öffnete ihn, und begann den Deckel zu heben, diesmal - überzeugt von der Effizienz ihrer Anfertigung - etwas forscher als zuvor.
Tatsächlich! Es funktionierte! Das Gebrüll war noch immer gewaltig, Erna fühlte die Decken vibrieren, doch der Ton wurde so stark gedämpft, dass es ihr möglich war zu lauschen was da eigentlich vonstattenging. Sie konzentrierte sich, wollte erkennen wer oder was da schrie, sie lüftete das Kissen ein wenig mit ihren Armen um gar ein wenig mehr vom Schall nach draußen zu lassen. Jetzt erkannte sie ein Wimmern, ein jämmerliches Klagen, das ...
Himmel, Herrgott, Sakrament! Jetzt fing auch noch das Baby nebenan zu weinen! Es muss wach geworden sein durch das Geschrei, dachte Erna bei sich. Langsam wurde sie ärgerlich! Seit über vierzig Minuten unternahm sie Anstalten, sich an ihrem Hass zu laben, mittlerweile kam es ihr vor als wäre es eine Ewigkeit her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie brauchte ihn, er lenkte sie ab, half ihr, sich zu beruhigen. Sie wollte ihn jetzt! Genau jetzt!
Wütend schlug sie das Kästchen zu und setzte sich in Bewegung um zum Kinderzimmer zu gehen, als ihr auf halbem Wege auffiel, dass das Baby still geworden war. Kurz hielt sie inne, setzte ihren Weg dann aber fort und stieß die Tür zum Schlafzimmer des Kindes mit solcher Wucht auf, dass diese gegen die Wand knallte und zurückfederte. Das Baby erschrak, gab einen kurzen Laut von sich und blickte seine Mutter aus seinen großen, braunen Augen an.
»Keinen Mucks mehr!«, forderte die Frau von ihrem Sprössling, bevor sie auf dem Absatz umdrehte und, ohne die Tür zu schließen, wieder zum Schlafzimmer marschierte. Und in der Tat, das Kind blieb still.
Zurück im Schlafzimmer verlor Erna Goschinski keine Zeit mehr. Sie langte in den Sack, tastete nach dem Kästchen, öffnete den Deckel und ...
Sie vernahm zwei Dinge. Zwei Dinge, die eigentlich Eins waren, Ernas Ohren aber in zwei Versionen, von zwei Standpunkten aus erreichten. Kaum hatte sie den Deckel aufgeklappt, wurde das markerschütternde, ohrenbetäubende Geschrei aus dem Inneren des Kästchens begleitet von dem zaghaften, wimmernden Klagens des Kindes nebenan. Die gleichen Töne die das Baby von sich gab, drangen, hundertfach verstärkt, auch aus der Dose voller Hass, die Erna Goschinksi in ihren Händen hielt. Ungläubig schaute sie in den Sack, dann herüber zu der Türe, wieder zurück und noch einmal umgekehrt. Sie zog die Decken enger, klappte das Kästchen zu - und das Kind verstummte. Sie öffnete es und im gleichen Augenblick war das Geräusch wieder zu hören. Erna stand buchstäblich der Mund vor Staunen offen.
An diesem Abend kam Werner Goschinski von einer besonders harten Schicht im Büro in sein Zuhause. Er trat durch die Haustür, hörte schon im Flur die Stimme seiner Frau und jene dieser furchtbaren Person von nebenan, der Müller-Dietrich, die, so schien es, heiterer Stimmung im Esszimmer zusammen saßen. Er hörte wie sein Name fiel, seine Frau erzählte von seinen Unzulänglichkeiten bezüglich der Verbesserung seiner kargen Karriereaussichten. Er seufzte.
Er zog seine Schuhe aus, hing seinen Mantel an den Haken und schlurfte gemächlich die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf, wo er die Tür zum Kinderzimmer unverschlossen vorfand. Er warf einen kurzen Blick hinein, fand das Zimmer leer vor und schloss daraus dass das Kind wohl unten bei der Mutter und der Nachbarin sitzen musste. Im Schlafzimmer angekommen staunte er nicht schlecht über den vollgestopften Seemannssack auf seiner Seite des Bettes. Er trat heran, blickte in den Sack und steckte, nachdem er in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, seine Hand hinein.
Als dreißig Minuten später seine Frau von mehreren Beamten in den Streifenwagen begleitet wurde, saß Werner Goschinski mit weit aufgerissenen Augen und unverständliche Worte vor sich hinstammelnd auf dem Boden des Schlafzimmers, wo ein Arzt gerade den Todeszeitpunkt des in dem Sack gefundenen Kindes feststellte. Er konnte durch das offene Fenster hören wie seine Frau mit energisch-dominanter, aber gefasster Stimme immer und immer wieder versicherte, dass sie die einzig mögliche Lösung zu ihrem Dilemma ohne jede böse Absicht herangezogen habe.