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Eine jugendliche Intrige (Real Life)
Muss ich denn sterben, um zu leben?
Textzeile aus "Out of the Dark", Falko
Haare... check!
Zähne... check!
Piercing... fehlt!
Als erstes sah ich in der Schublade des Schreibtisches nach, doch da war es nicht. Nachdem ich alle anderen Stellen, die in Frage kamen, nach dem Ring mit den zwei Kügelchen abgesucht hatte, gab ich es auf und machte mich ohne Metall in der Unterlippe auf den Weg.
Als ich vor Julias Haus stand, wurde ich für einen Moment stutzig. Sie hatte mir das Piercing geschenkt, sie trug genau so eines. Was wenn...
„Hallo. Komm rein, die Julia ist noch nicht fertig“ brachte ihre Mutter in einem Ton hervor, dem die Adjektive „nasal“ und „überdrüssig“ nicht gerecht werden. Nun, ein wenig schätzte ich die alte Hexe, die noch keine 40 und sehr gut erhalten war, genau deswegen. Sie versuchte gar nicht erst, ihre Abneigung gegen mich zu überspielen. Wenn ich etwas hasse, dann sind das falsche Menschen, die dir Honig um den Mund schmieren und sich gleichzeitig wünschen, es wäre Scheiße.
Ich hob meinen Nietengürtel etwas an, um das schöne weiße Ledersofa im Wohnzimmer nicht zu beschädigen, und für einen Moment kam es mir so vor, als ob mir Mama Meindl mit den Augen zu verstehen gab, dass sie meine Geste zu schätzen wusste.
Irgendetwas an der Frau hat mich schon immer fasziniert. Vielleicht die Tatsache, dass sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrer Tochter hatte, außer vielleicht diesem wohl geformten Arsch. Mir schoss durch den Kopf, dass insofern Julias Chancen, mit vierzig solch ein Prachtexemplar von Rückenende zu haben, biologisch ganz gut standen. Na wunderbar!
Ein „Buh“ und zwei Hände an meinem Hals rissen mich aus den allzu erheiternden Hirngespinsten. Da ich schon recht tief in meine Phantasie abgetaucht war (ich hatte locker fünf Minuten lang die geologische Entwicklung der weiblichen Meindl-Hintern innerphantastisch studiert), schnellte ich reflexartig nach vor, wobei ich einen stechenden Schmerz an meinem Hals vernahm.
„Aargh, was war das denn, eh!“, fauchte ich Julia, entgegen aller Angewohnheit, ziemlich forsch an. Ich liebte sie, doch bei Schmerzen und Schnitten reagierte ich sensibel, seit sich eine Bekannte von mir die Pulsadern aufgeschnitten hatte.
„Hey, ’tschuldige. Das war der Ring, hab ja nicht gewusst, dass es dich so arg reißt“ lachte sie ob meiner aufbrausenden Reaktion. Ein Lachen, das ihre Zahnspange in ihrer vollen Pracht zeigte, ihre mit grotesk viel dunkler Schminke umrahmten Augen glänzen ließ, ihre kindliche Seite an den Tag brachte. Man konnte nicht umher, als sie beschützen, küssen und streicheln zu wollen, aber sauer auf sie sein konnte noch keiner den ich kannte.
„Schatz, ich hab’ dich ja voll gekratzt! Oh mein Gott, du blutest ja voll!“, bei ihrem Psychoblick konnte man nie sagen, ob sie es mit einem ernst meinte oder bloß schauspielerte. Die kleine hat die Definition von Lolita 1:1 auf sich übertragen.
Mit zwei federleichten Hüpfern war sie bei mir, und legte ihre Hände auf meine Schultern.
„Oh Julia, wie ich dich...“, blieb mir der Satz buchstäblich im Hals stecken, denn sie setzte ihre Lippen auf eben denselben. Ja, setzte, wie ein Vampir, nicht wie ein gerade 16 gewordenes Mädchen.
Elektrische Impulse gingen von der Stelle aus, an der sie ihre Lippen hatte, bildeten ein energiegeladenes Netz, breiteten sie in Form einer Gänsehaut über meinen ganzen Körper.
Wie ich dieses Mädchen begehrte...
„Spinnst du oder bist zu den Untoten gewechselt?“, versuchte ich das in mir aufsteigende Verlangen, sie zu packen, gegen die Wand zu pressen und kräftig durchzunehmen, durch die Anbahnung einer Konversation zu unterdrücken.
Doch Julia wollte nicht reden.
Ihre rechte Hand wanderte an meinem Oberschenkel entlang, während sie mit der linken Hand meine Haare zerstrubbelte. Jede Wette, dass sie das nur tat, weil sie wusste wie sehr ich es hasse.
Von ihrem dicken, schwarzen Labrador, der uns mehr gelangweilt als interessiert zusah, hätte ich mich nicht stören lassen, doch ihre Mutter musste jeden Moment aus der Küche zurück sein, in der sie einen Kuchen buk. Das ganze Haus roch nach Zimt, doch meine Sinne waren nur für eines, genauer eine, zu haben: Julia. Frisch geduscht, durch den leichten Hauch von Parfüm konnte man den natürlichen Duft ihrer zarten Haut hindurchriechen.
Kraft eines Gewaltaktes meines Gewissens an meiner Seele und Wollust schaffte ich es, sie von mir wegzudrücken, denn diesen Abend wollte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Nicht dadurch, dass ihre Mutter uns beim Fummeln erwischte und ihr vielleicht sogar den Ausgang verbot. Oder mich gar rausschmiss, und ihr den Umgang mit ihr verbot. Klar, unserer Beziehung würde das bloß noch mehr in die Hände spielen, denn was von der Mama verboten wird, zieht besonders Frauen und Mädchen magisch an.
Doch heute konnte ich keine Szenen gebrauchen. Heute hatte ich eine Überraschung für Julia.
Und dann fiel es ihr auf.
„Wo ist dein Piercing? Schau, ich hab meins immer drinnen, manchmal sogar beim Schlafen!“, stellte sie schlussendlich die Frage, die ich auf keinen Fall hören wollte, mit der ich aber fix gerechnet hatte.
Wir hatten uns diese Piercings gemeinsam gekauft, beide jeweils das Gleiche, und obwohl es weder sie noch ich laut aussprach, sahen wir dies als Symbol unserer Verbundenheit.
“Ja, hey... du, ich hab’s in der Eile nicht gefunden in der Wohnung“ versuchte ich, die Situation gleich am Anfang mit der Wahrheit zu entschärfen.
„Gestern Abend hast du es aber auch nicht gehabt!“ setzte sie ihren Schmollmund und diesen kindlichen Blick auf, den Mädchen nur bis zu einem bestimmten Alter draufhaben, aus dem sie eigentlich längst draußen sein müsste. Ich musste sie küssen.
Zack!
Unfassbar, aber die Kleine hatte mir ohne viel Federlesens eine gescheuert.
„Was soll das eh!“ war in meiner Wut auf sie das erste, das ich herausbrachte, nach ein paar quälend langen Sekunden. So würde sie es schaffen, diesen geilen Abend zu ruinieren.
„Und lügen tust du auch noch!“ schrie sie, auf einmal ganz hysterisch geworden, durch die Wohnung. Ihre Stimmungsschwankungen kannte ich zu genüge, doch dass jemand innerhalb von ein paar Sekunden vom verführerischen Vamp zur kratzfesten Furie wird, hatte ich nicht für möglich gehalten.
„Was haste für ein Problem eh!“, versuchte ich, ruhig zu bleiben, doch meine Stimme überschlug sich von alleine.
„Das ist mein Problem!“ hielt sie mir in der ausgestreckten Hand mein Piercing entgegen.
„Alles, alles hätte ich dir verziehen, alles! Auch das, dass du mit dieser Schlampe von Tess geschlafen hast...“, ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, ihren Schmerz, ihre Wut konnte man förmlich greifen in der sonst so gefühlsleeren Luft in ihrem Haus. Ich fing zu zittern an.
„...aber dass du dich mit einem anderen Burschen einlässt, oh Gott, ekelhaft!“ ihre Stimme zitterte, sie selbst machte den Eindruck, als ob sie sich gleich übergeben würde. Auch mir ging es nicht besser, schließlich hatte ich gerade von meiner Freundin hören müssen, dass ich zu letzten Endes eine Schwuchtel bin!
Warm lief es meinen Hals runter. Reflexartig griff ich hin und wischte über die Stelle an meinem Hals. Blut.
Ihre Mutter kam mit einem Tablett um die Ecke, je ein Stück Kuchen und eine Limonade drauf, mangelnde Korrektheit konnte man der Frau wahrlich nicht vorwerfen, egal, was man von ihr oder sie von einem dachte.
Mit lautem Geklirr und von einem ohrenbetäubenden Schrei begleitet, ging eben dieses Tablett zu Boden. Die Meindls scheinen allgemein ziemlich melodramatisch zu sein.
Diesmal verübelte ich es der guten Frau nicht. Ihre Tochter stand ungefähr einen Meter von mir entfernt und war aufgelöst in Tränen, während ich meine blutverschmierten Finger bewunderte. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie den Kratzer an meinem Hals nicht sehen, und musste wohl davon ausgegangen sein, dass das Blut jenes ihrer Tochter war.
Ehe ich mich richtig versehen konnte, flog auch schon ein unbestimmtes Objekt, mutmaßlich eine Fernbedienung, auf mich zu, gefolgt von nicht wiederzugebenden Flüchen und wüsten Beschimpfungen. Mann, in der Alten war noch Pfeffer drin!!
Nachdem ich mich aus der Schusslinie gebracht hatte, und die Haustür hinter mir zugedrückt hatte, fühlte ich das Bedürfnis, zu laufen. Weg, nicht aus Angst, nicht vor Furcht, sondern einfach nur weg, das war mein einziger Gedanke.
Meine Gedanken mussten geordnet werden, das Chaos im Kopf machte mir schwer zu schaffen. Obwohl ich wusste, dass es falsch war, lief ich eine Runde um das riesige Grundstück der Meindls, um an der vom Haus abgewandten Seite über den Zaun zu steigen und mich in deren japanischen Garten zu setzen. Das schöne an der Stelle, die ich mir ausgesucht hatte war, dass man sie nicht vom Haus aus einsehen konnte, und auch von den Nachbarn würde keiner Alarm schlagen, da es schlichtweg keine gab.
An der kleinen Holzbank, an der ich saß, hatte ich Julia zum ersten Mal geküsst. Hatte mit ihr vor Erleichterung geweint, als sie die Meldung erhielt, dass sich ein Melanom an ihrem Rücken als gutartig herausgestellt hatte. Überhaupt waren wir beide sehr oft hier, da man einfach schön über alles mögliche nachdenken konnte, und von nichts und niemandem in seiner Ruhe gestört wurde.
Was war bloß passiert? Wie kam sie denn auf diesen Scheiß mit dem anderen Jungen und mir? Und wo hatte sie das Piercing her?
Plötzlich vernahm ich Stimmen. Nicht im Kopf, wie ich anfangs vermutete, sondern in natura. Direkt hinter mir, und als ich mich umdrehte, standen sie schon vor mir. Sebastian und Julia.
Mir fehlen heute noch die Worte, um die Situation zu beschreiben, auf jeden Fall dürfte es die Floskel „kollektives Entsetzen“ ganz gut umschreiben, was wir drei in dem Moment empfanden.
“Was machst du in ihrem Garten, du Trottel!“, bellte Sebastian wie auf Befehl auf mich los, der Hund, wie ihn die Meindls nie hatten. Julias Nachbar und Kummertante, wobei ich mir immer schon sicher war, dass der ihr hinter seiner Samariter-Fasade bloß an die Wäsche wollte. Wie gesagt, Leute, die ihr wahres Gesicht verbergen, konnte ich nie leiden, das hatte mit Eifersucht nichts zu tun.
Das, was er dann seiner Begrüßung hinterher warf, ließ dann alle Stränge bei mir reißen.
„Schwuchtel!“, sagte er in einem besserwisserischen Ton, der meine Hirnwindungen zum Rotieren brachte. Das konnte kein Zufall sein, er musste hinter dem schwulen Gerücht stehen, oder zumindest etwas damit zu tun haben. Grund genug, einmal sein Gebiss zu inspizieren.
Wut verleiht einem übermenschliche Kräfte, vor allem die elementare Wut, die sich in mir in den letzten Stunden zusammengebraut hatte.
Meine Freundin hatte ein Gerücht aufgeschnappt, dass ich schwul sei, und es ohne zu hinterfragen geglaubt und mir vorgeworfen. Meine Überraschung, für die ich monatelang gespart hatte, konnte ich mir sonst wohin stecken.
Keiner hatte mir je geglaubt, dass ich einen schönen rechten Haken habe, da ich kaum 1.70 m bin und eher zur Magersucht denn zur Muskelbildung neige. Doch ich wusste es immer, und sein dummes Gesicht bekam es jetzt zu spüren. Julia schrie, und ich drosch auf den überraschten, ja überwältigten Wichser ein, bis mir die Hände wehtaten. Dann stand ich auf, richtete ihn so gut es ging auf, um ihn mit einem Taek-wondo-Trick, den mir mein Cousin beigebracht hatte und auf den sich meine Kampfkunst beschränkte, niederzustrecken.
Überall Blut, es rann von der Wunde an meinem Hals, die zwischendurch verheilt, dann aber schon wieder aufgerissen war. Es klebte, noch frisch, an meinen Händen, und ich konnte nicht sagen, ob es von mir oder von ihm stammte. Das an meinem rechten Schuh war aber definitiv seines.
Julia war kreischend zum Haus gestürmt, sicher würde ihre Mutter sofort die Polizei rufen, vielleicht sogar sie selber, denn aus irgendeinem Grund mochte sie diesen kriechenden Schleimbatzen von falschem Freund.
Nun hatte ich zwei Möglichkeiten: entweder ich haute so schnell es ging von Ort und Stelle ab, oder ich blieb und versuchte, die Wahrheit aus diesem heulenden, blutenden Riesenbaby heraus zu quetschen, bis mich die Polizei von ihm herunterriss. Ich entschied mich für das zweite.
„Siehst du diese Finger, du Drecksau?“, hatte ich mich über ihn gebeugt machte ich das Devil-Zeichen mit meiner rechten Hand vor seinem Gesicht. Ein Tropfen Blut rann meinen Zeigefinger hinunter und fiel ihm ins Auge. Wie gezielt.
„Diese Finger ramme ich in deine Augen, du weißt, dass ich wegen schwerer Körperverletzung angezeigt werde. Ob ich deine Augen aussteche oder nicht, ist da scheißegal!“, brüllte ich in sein Gesicht, dass die Spucke nur so über seine angstverzerrte Fratze spritzte.
So selber glaubte ich meinen eigenen Worten nicht, doch darauf kam es nicht an, solange ich ihm gehörig Angst einjagte. Nie hatte ich Probleme mit der Polizei gehabt, immer war ich derjenige, der einen Streit lieber mit Hirn und Witz denn mit Fäusten ausfocht, was allein durch meinen Körperbau gefördert wurde, der eben gepflegt sportlich, aber keinesfalls imposant ist.
Nur jetzt war ich bereit, meinen Preis für die Wahrheit zu bezahlen.
„Wer hat Julia den Scheiß erzählt, dass ich was mit einem Mann hatte? Ich bin mir so sicher, so sicher, dass es du warst, nur dir würde sie so einen Scheiß auf Anhieb glauben, nur dir!“, füllte ich meine Rolle des durchgeknallten Psychopunks voll aus.
Zuerst spuckte er eine Ladung speichelverdünnten Blutes aus, dann begann er zu singen.
„Und, was sagt dir das? Ich gehe zu ihr, erzähle ich einen Dreck und sie glaubt mir, ohne nachzufragen. Ein paar Hinweise haben genügt, das Piercing, dass du letztens bei der Tess zuhause vergessen hattest, dass du mit ihrem Bruder kurz weggefahren und ganz aufgelöst zurückgekommen bist, dass ihr beiden die besten Freunde und vielleicht noch mehr seitdem geworden seid...“, ich packte ihn bei den Stirnfransen und zog seinen Kopf an meinen heran, sodass er aufhörte zu reden. Seine Stirn war an meine gedrückt, dann legte ich den Kopf in den Nacken und ließ ihn, Stirnkante voraus, aus ganzer Leibeskraft auf seinen prallen. Das jahrelange Kopfballtraining hatte sich ausgezahlt, obwohl ich in einem Spiel nie per Kopf getroffen hatte, und es bis heute nicht habe.
Was ich nicht verstand war, wie mein Piercing zu Tess gelangt ist, oder halt zu Sebastian und dann zu Tess nach Hause.
Nun bekam ich keine Zeit mehr zum Nachdenken, denn schon riss mich etwas oder jemand aus meinen Gedanken, drückte mich zu Boden, verschränkte meine Arme hinterm Rücken.
Klar, die Gendarmerie war nicht einen Kilometer vom Haus der Meindls entfernt, nur trotzdem waren die Kiberer erstaunlich schnell da. Von einer Krise bei der Exekutive konnte da wahrlich nicht die Rede sein bei einer derart straffen Organisation.
Da meine Eltern die Kaution nicht zahlen wollten, ich sollte ja eine Lehre aus all dem ziehen, musste ich mich wohl oder übel mit der Untersuchungshaft abfinden. Wobei ich nicht verstehe, was es in der Sache zu untersuchen gibt. Der Wichser hat eine hinterhältige Intrige gegen mich geschmiedet, hat Julias grenzenloses Vertrauen in ihn ausgenutzt und ein harmloses Ereignis in einem solch grässlichen Licht dargestellt. Damit meine ich die Sache an dem Abend, als ich gemeinsam mit Tess Bruder eine Party verlassen habe und nach einer halben Stunde schweißgebadet zurückgekommen bin, wobei jeder, der es wissen durfte auch wusste: Wir waren beim Haus des Alten Schenk und hatten es mit Eiern und Mehlklumpen beworfen, waren danach den ganzen weiten Weg zurückgesprintet und das war’s. Daraus jedoch jegliche Homoerotik abzulesen ist bloß absurd und haltlos. So haltlos wie ich war, als ich ihm seine Abreibung verpasste. Und trotz Knast: Wäre die gleiche Situation heute gegeben, wieder würde ich ihn verprügeln, obwohl er um einen Kopf größer und stärker ist, da er ja Gewichtheben trainiert. Würde ihm wieder nichts helfen.
Am meisten schmerzte mich an der Sache nicht, dass mich meine Eltern hier versauern ließen, sondern dass Julia diesem Heini ein derart aus der Luft gegriffenes Gerücht abgekauft hatte. Vielleicht hatte er sie ja schon länger in der Hinsicht bearbeitet, dieses Schwein.
Ich erwartete nicht, dass sie mich besuchen kam. Mehr noch, ich wollte es nicht. Waren ihr all die Tage, all die Nächte, war ihr alles was wir gemeinsam erlebt und durchgestanden hatten zu wenig? Reichte das alles nicht, um jeden Zweifel an meiner Liebe zu ihr zu tilgen? Vielleicht liebte sie mich nicht mehr...
„Sekulic, steh auf, du hast Besuch“, befahl mich der Wärter in den Raum, in dem man Besuch empfangen konnte. Meine Eltern konnten es nicht sein, die waren eben, Gott sei Dank, gegangen.
Julia.
Welche Erleichterung ich verspürte, das kann man kaum beschreiben. Als ich mich aber gegenüber von ihr an den ausgemergelten Buchentisch setzte, wich meine Erleichterung einer unbestimmten Skepsis, einem unguten Gefühl.
„Sag mir bitte, wo war das Piercing, ich weiß, es muss etwas damit zu tun haben, sonst hättest du ihm diesen Scheiß nicht abgekauft“, unterbrach ich sie schon bei ihrem ‚Hallo’. Antworten, nur ein paar Antworten brauchte ich.
„Das Piercing war am Rücksitz vom Auto, das Tess’s Bruder gehört. Am Rücksitz. Du hast gesagt, ihr wärt zu Fuß zum Haus des alten Schenk gelaufen! Übrigens ... freut mich auch sehr, dich zu sehen!“
„Halt doch die Klappe! Wie kommt mein Piercing in sein Auto? Was soll das?“, konnte ich kaum an mir halten. Aus ihrer Miene konnte ich ablesen, dass sie mehr wusste, als sie herausrückte.
„Du, ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich verstehe es noch immer nicht, wie ich nur einen Moment lang an dir zweifeln konnte. Die Tess hat alles gebeichtet. Sie hat das verfluchte Ding gestohlen, als sie letztens bei dir war und du geschlafen hattest. Deshalb hast du es nicht gefunden. Dann hat sie es in das Auto von ihrem Bruder getan, um es dann vor mir und vor den anderen so darzustellen, als ob ihr beiden ... na du weißt schon, als ob ihr gelogen hättet, dass ihr gelaufen seid“, ihre Erklärungen verursachten einen Gedankenstau bei mir. Die Welt kam mir so ... verstopft vor.
„Aber ... man hat doch gesehen, dass wir beim Haus vom Schenk waren, die ganze Straße hat nach den Eiern gestunken. Und außerdem, warum sollte Tess so etwas machen, und vor allem noch ihren Bruder da mit reinziehen?“ wollten mir einige Sachen nicht in den Kopf.
“Lebst du auf dem Mars? Ihr Bruder ist gay, hallo Mann, der ist echt schwul!“
„Nein, was?“
“Der ist stockschwul, weißt du dass denn nicht?“
„Nein, woher?“
“Aber Hauptsache du ziehst mit ihm los!“
„Fuck ... nein, er wollte es nur genauso wie ich dem alten Schenk heimzahlen, weil er uns beide angezeigt hatte. Wir waren, bitte an verschiedenen Tagen, bei ihm in den Garten geklettert und hatten Äpfel gestohlen, nur so aus Spaß. Darüber habe ich mit ihm geredet, woher soll ich wissen, dass der Typ ’ne Schwuchtel ist? Und dann ... warum tut Tess so etwas? Warum, wir sind ja nicht im Streit auseinandergegangen.“
„Ja, weil es dir wurscht war, wie es ihr ging. Du hast dich in mich verliebt, aber sie hatte seitdem keinen Freund.“
Langsam fügte sich alles zu einem Gesamtbild. Der Gedankenstau lockerte sich, an der Tangente ging der Verkehr wieder flüssig voran.
„Was nun?“, war das einzige, das ich fragen konnte. Zu mehr hatte ich keine Kraft, denn es ist so unheimlich kräfteraubend wenn man erfährt, gerade im Mittelpunkt einer Intrige gestanden zu haben.
„Ich weiß es nicht. Du hättest Sebastian nicht verprügeln sollen, du Vollidiot!“ schrie sie mich aus Leibeskräften an.
„Bist du gekommen, um mir das vorzuwerfen?“
“Nein, ich bin gekommen, um dir vorzuwerfen, dass du nur an dich gedacht hast. Was soll ich jetzt tun, ohne dich? DU kommst ins Gefängnis wegen der Lügen, die andere verbreitet haben!“
„Und die du bereitwillig geglaubt hast! Und auch wenn ... zumindest weißt du jetzt, dass an der Geschichte nichts stimmt. Ach, wo wir gerade dabeisind: Was für einen Rolle hat eigentlich dein lieber Nachbar in der Geschichte gespielt?“
“Keine. „Schwuchtel“ ist ein Modewort für ihn, er verwendet es dauernd.“
„Tja, und in meinem Fall eben im falschen Moment.“
„Und was passiert jetzt?“, man konnte ihr ansehen, dass ihr die ganze Sache nicht am Arsch vorbeiging. Ihr schien echt was an mir zu liegen. Und ich? Ja, ich liebte dieses Mädchen abgöttisch, noch wie am ersten Tag, vielleicht sogar mehr. Doch verzeihen konnte ich ihr nicht, dass sie mir derart misstraut hatte. Dass sie sich nach dem ersten Schock bei ihm ausheulen ging. Und schlussendlich saß ich hier wegen versuchten Totschlags beziehungsweise schwerer Körperverletzung, der genaue Wortlaut der Klage war mir nicht bekannt, und wer war schuld daran? Natürlich nicht Julia, aber sie trägt einen guten Teil der Schuld. Das verbittert mich, das ist scheiße, aber es ist so.
“Geh jetzt. Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Und bitte komm nicht wieder, ich kann deinen Anblick nicht ertragen. Geh jetzt, los!“, brachte ich unter Tränen hervor. Ich wusste, dass mein Leben ohne sie keines war. Außer ihr gab es draußen, außerhalb der Zelle nichts, was mich hier weggelockt hätte. Vor ihr war ich tot, nach ihr werde ich es sein. Doch vielleicht muss ich sterben, um zu leben. Vielleicht darf es im echten Leben kein Happy End geben.
Denn manchmal kann man nicht verzeihen, nicht einmal um den Preis eines Lebens.