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Eine Lektion

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21.12.2015
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Eine Lektion

Gertie betrachtet ihre Fußabdrücke auf der staubigen Treppe, die zum Speicher führt. Nur wenige benutzen ihn noch zum Wäscheaufhängen, seitdem Waschmaschinen und Wäschespinnen in Haus und Garten eingezogen sind. Sie sitzt auf der obersten Stufe, die Wohnungstür mit dem Namensschild Robert Wagner im Blick, und kaut an den Fingernägeln.
„Noch so eine schlechte Angewohnheit“, hat Mama neulich gesagt, „das sieht scheußlich aus. So kannst du unmöglich zum Vorspielen. Und deine Haare könntest du auch wieder einmal schneiden lassen.“
Gertie würde gern mit dem Nägelkauen aufhören, aber es geht nicht.
„Mama, du nörgelst nur an mir herum, nichts passt dir, was ich mache. Warum lässt du deine schlechte Laune an mir aus?"
“Ich? Schlechte Laune? Das solltest du mal deinem Vater sagen. Aber das tust du natürlich nicht. Vor dem hast du Respekt.“
Respekt vor Papa? Mama hat ja keine Ahnung. Gertie hat keinen Respekt, sondern eine mordsmäßige Wut. Und davon kommt das Nägelkauen, denn sonst müsste Gertie ein Fenster einschlagen oder das Klavier demolieren. Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen. Das ist die Wahrheit.

Neulich zog die Deutschlehrerin sie während der großen Pause in eine Fensternische.
„Was ist bloß los mit dir, Gertie?“, fragte sie und putzte dabei ihre Brille. „Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder. Du hast schon bessere Aufsätze geschrieben und deine Mitarbeit ist gleich null.“
„Ich hab' immer so Kopfweh und … Meine Eltern lassen sich scheiden.“ Sie standen ausgerechnet in der Nische, aus der vor einigen Monaten ein Mädchen hinausgesprungen war. Tot war sie nicht, aber schwer verletzt.
„O Gott, nicht schon wieder eine“, entfuhr es der Lehrerin. Schnell legte sie eine Hand auf Gerties Schulter, mit der anderen schloss sie das Fenster. „Lass uns nach dem Unterricht in Ruhe darüber reden. Um eins im Krankenzimmer, ja?“ Gertie nickte. Aber zu dem Gespräch ging sie nicht.

Von einer Scheidung ist bisher gar nicht die Rede. Vielmehr geht es um den alten Knacker im dritten Stock, dem ihre Mutter sehr viel Zeit widmet, so viel, dass sie das Einkaufen für die eigene Familie vergisst. Gertie kann inzwischen sehr gut bügeln und staubsaugen. Vater ist ohnehin derjenige, der morgens für das Frühstück sorgt und Gertie das Geld für eine Brezel oder Vanilleschnecke neben die Kaffeetasse legt.
Gertie nennt den Mann im dritten Stock 'alten Knacker'. Sie weiß gar nicht genau, wie alt er ist. Schon etwas älter als ihr Vater, zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Trägt seine Haare halblang und meistens eine Fliege. Ein Künstler, affig. Hat einen rosa Blumenkranz aus Porzellan an seiner Wohnungstür hängen. Sie ist dem Typ schon mehrmals im Treppenhaus begegnet. Die Fältchen um seine Augen scheinen sie jedes Mal auszulachen. Gertie grüßt ihn nicht, lieber würde sie ihm ein Bein stellen, so dass er die Treppe hinuntersegelt, und zwar bis in den Keller, wo die Mülleimer stehen. Sie hat während eines Streites der Eltern aufgeschnappt, dass Papas Rivale irgendwer Wichtiges am Stadttheater ist, Inspizient oder so. Mama singt im Extrachor des Theaters, hat viele Proben und kommt öfter erst mitten in der Nacht nach Hause. Kein Wunder, dass sie da spät aufsteht.
Es ist nun Gertie, die mit ihrem Vater abends ein paar Runden um die Häuser dreht, am Wochenende ist auch schon mal ein Elsässersalat und eine Weißweinschorle im „Hirschen“ eingeschlossen. Mit ihrem Vater kann sie über alles reden.
„Wieso lässt du dir das gefallen, Papa? Ihr unternehmt überhaupt nichts mehr gemeinsam. Mama fährt zu Premieren und du tuckerst mit deinem Moped nach Spanien.“
„Ach Gertie, wir haben nun einmal unterschiedliche Interessen.“
„Ja, schon, aber wieso ist immer der Typ von oben dabei?“
„Das verstehst du nicht, Mädchen, und das geht dich auch gar nichts an. Das ist eine Sache zwischen mir und deiner Mutter. Basta!“ Seit dem Gespräch hat Gertie diese Wut im Bauch. Sie muss etwas unternehmen, wenn es schon ihr Vater nicht tut.

Gertie sitzt nun seit einer Stunde auf der staubigen Treppe. Es ist vier Uhr nachmittags. Vater und Mutter sind beide außer Haus. Gertie will jetzt den Nachbarn zur Rede stellen. Er solle ihre Mutter in Ruhe lassen, will sie ihm sagen. Entschlossen steht sie auf, wischt sich die Hände am Kleid ab, steigt die paar Stufen hinab und drückt auf Robert Wagners Klingelknopf. Es dauert eine Minute, bis die Tür aufgeht. Der Mann im seidenen Morgenmantel mustert sie von oben bis unten.
„Und? Was willst du?“
„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe!“ Sie ballt die Hände.
Im Hintergrund bricht eine Frau mitten in einer Koloratur ab.
„Robert, wer ist da, Robert, ist das ...?“
Gertie fährt ein heißes Schwert in den Bauch. Sie erkennt die Stimme, es ist kein Zweifel möglich. Wortlos dreht sie sich um und flieht die Treppe hinunter.

 

Hallo wieselmaus,
lange Hintergrundanalysen in Fließtext kann ich dir nicht bieten. Ich schreibe dir, was mir beim Lesen in den Sinn kam. Vllt. kannst du was davon gebrauchen. :shy:

Gertie würde so gern mit dem Nägelkauen aufhören, aber es geht nicht.
„so gern“ würde ich streichen. Das klingt übertrieben und passt für mich nicht in die Situation.

Immer nur hast du schlechte Laune
Das „nur“ klingt schräg, selbst im Dialog.

Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen.
Die Ausdrucksweise ist mMn etwas inkonstant, manchmal sehr kindlich, manchmal recht gewählt. Vlt. findest du einen Mittelweg.

Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen. Das ist die Wahrheit.
Neulich zog die Deutschlehrerin sie während der großen Pause in eine Fensternische.
Der Bezug von „sie“ geht auf die Mama.

Vater ist ohnehin derjenige, der morgens für das Frühstück sorgt und Gertie das Geld für eine Brezel oder Vanilleschnecke neben die Kaffeetasse legt.
Hier könnte man meinen, Gertie trinkt den Kaffee. Weswegen du es in Kakaotasse ändern könntest.

Gertie nennt den Mann im dritten Stock 'alten Knacker'.
Vom Gefühl her, nennt sie ihn „alter Knacker“. Das kann ich nicht fachlich belegen. Ist vllt auch Murks. :schiel:

Schon etwas älter als ihr Vater, zwischen fünfzig und fünfundfünfzig.
Ich denke für Kinder ist es sehr schwer, diese 5-Jahres-Altersspanne so genau zu schätzen.

Sie hat während eines Streites der Eltern aufgeschnappt, dass Papas Rivale irgendwer Wichtiges am Stadttheater ist, Inspizient oder so.
Hier könntest du absichtlich mit einem Buchstabendreher das Wort Inspizient verhunzen. Fände ich ganz passend.

Es ist nun Gertie, die mit ihrem Vater abends ein paar Runden um die Häuser dreht, am Wochenende ist auch schon mal ein Elsässersalat und eine Weißweinschorle im „Hirschen“ eingeschlossen.
What? Wie alt ist Gertie? Sie wirkt auf mich wie zehn.

Es ist vier Uhr nachmittags. …
Der Mann im seidenen Morgenmantel mustert sie von oben bis unten. …
Im Hintergrund bricht eine Frau mitten in einer Koloratur ab.
Ist die Mutter ganz unschuldig beim Gesangstraining? Nee, dann hätte der alte Knacker nicht den Morgenmantel an.

Eine Lektion
Ich verstehe nicht, inwiefern das für einen der Beteiligten eine Lektion sein soll. Für Gertie, weil sich nun Sicherheit hat, was ihre Mutter treibt? Für ihre Mutter, weil sie merkt, wie sehr ihr Verhalten Gertie nahe geht?

Textkram:
Du könntest für ein besseres Textbild noch Absätze einfügen.

Die Fältchen um seine Augen scheinen sie jedesmal auszulachen.
Jedes Mal.

Traurige Geschichte. :(
Viele Grüße aus dem stürmischen Berlin.
wegen

 

Hallo wieselmaus,

ich fang einfach mal an.

Gertie studiert ihre Fußabdrücke auf der staubigen Treppe, die zum Speicher führt.
„studiert“ ist mir hier zu stark, als würde sie mit der Nase davor hängen. Vielleicht „Betrachtet“?

Nur wenige benutzen ihn noch zum Wäscheaufhängen, seit die Waschmaschinen in Küchen und Badezimmern eingezogen sind.
Hmm, warum hängt dann keiner mehr Sachen auf dem Speicher auf? Es würde für mich mehr Sinn machen, wenn die Trockner eingezogen wären.

Gertie hat keinen Respekt, sondern eine mordsmäßige Wut. Und davon kommt das Nägelkauen, denn sonst müsste Gertie ein Fenster einschlagen oder das Klavier demolieren. Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen.
Ja, Hilflosigkeit kann einen ziemlich wütend machen. :(

Das verstehst du nicht, Mädchen, und das geht dich auch gar nichts an. Das ist eine Sache zwischen mir und deiner Mutter. Basta!
Als wenn so etwas die Kinder nicht angehen würde, echt unfair.

Im Hintergrund bricht eine Frau mitten in einer Koloratur ab.
Hmm, ich dachte eigentlich Gertie hätte die beiden beim Sex gestört, weil er nur einen Morgenmantel trägt. Aber die Mutter singt grade? Was machen die denn da?? Nackt singen? ;)

„Robert, wer ist da, Robert, ist das ...?“
Warum sollte sie das fragen, wenn sie da nicht wohnt? Geht sie ja eigentlich nichts an.

Gertie fährt ein heißes Schwert in den Bauch. Sie kennt die Stimme, es ist kein Zweifel möglich. Wortlos dreht sie sich um und flieht die Treppe hinunter.
Oh mann, die arme Gertie.

Ich finde, du beschreibst hier sehr schön die Ohnmacht eines Kindes, wenn es bei den Eltern nicht mehr läuft. Noch schlimmer ist es, wenn die Eltern einen nicht Ernst nehmen, einen aus allem raushalten wollen, was ja sowieso nicht geht.
Ich kann nicht ganz einschätzen wie alt Gertie ist. Ganz jung scheint sie nicht zu sein, sie sagt ihre Meinung und trinkt mit dem Vater Weißweinschorle. Wenn sie aber schon ein Teenager ist, wundert es mich schon, wie die Eltern mit ihr umgehen.

Hoffe du kannst mit meinen Gedanken etwas anfangen.

Liebe Grüße,
Nichtgeburtstagskind

 

Nägelkauen - Zeichen für Probleme im sozialen Umfeld und es verfestigt sich mit der kleinen Geschichte, dass die Eltern nicht mit dem Kind über ihre unterschiedlichen Interessen sprechen, dass Gertie sich wahrscheinlich alles und nichts vorstellen kann und fürchten muss. Sie ist mit der Welt nicht im Reinen, weil die wichtigsten Personen wohl nicht mit sich selbst im Reinen sind. So wird aus dem Titel ein Spiel mit der Zweideutigkeit der "Lektion"

liebe wieselmaus,

bis zum Schluss in der eher harmlsoen Bedeutung als Trainingseinheit/Gesangsstund der Mutter beim für Gertie schnöseligen Nachbarn.

Zwo kleinere Anmerkungen:

„Ich kenn' dich gar nicht mehr wieder. ...
besser "erkennen", meine ich

Gertie will jetzt den Nachbar[n] zur Rede stellen.

Kann es sein, dass die Enkelgeneration uns wichtiger wird als die Generation unserer Kinder?

Wie auch immer -

wie immer: Gern gelesen vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo wegen

Du warst ja recht flink mit der Antwort und mit ein paar guten Hinweisen zur sprachlichen Gestaltung. Die habe ich übernommen, danke dafür.

Ich hab' dieses Mal probiert, so sparsam wie möglich mit Hinweisen auszukommen und absichtlich einiges offengelassen.Wie ich aus deinem Kommentar entnehme, kannst du das Alter der Prota nicht richtig einschätzen.
Ich glaube, die Einschätzung hängt davon ab, wann man die Geschichte zeitlich verortet. Das Mädchen ist bestimmt keine freche Vierzehnjährige von heute. (Ich weiß, wovon ich rede, ich habe aufgeweckte Enkelkinder:lol:).
Wir sind im Zeitalter des aufkommenden Wirtschaftswunders, wo Waschmaschinen in vielen Wohnungen stehen. Die Menschen werden zunehmend bequemer. Sie hängen die Wäsche zwar im Garten auf, so vorhanden, aber auf einen Speicher bemühen sie sich nicht mehr gerne. Die werden für den zunehmenden Wohlstandströdel reserviert ...
Außerdem gilt noch das Eherecht vor 1976. Es ist ein Hausfraueneherecht ohne Gleichberechtigung. Eine Scheidung ging oft zu Lasten der Hausfrauen, zumal das Schuldprinzip und nicht das Zerrüttungsprinzip galt.

Ich habe Gertie mir nicht als Kind, sondern als ein Mädchen anfangs der Pubertät vorgestellt. Der Nachbar aus dem dritten Stock bleibt absichtlich mehrdeutig, ebenso wie der Schluss der Geschichte. Was hat sie denn jetzt wirklich erfahren? Eigentlich nichts, sie hat ja die Flucht ergriffen, bevor sie Klarheit erzielt hat.
Auch der Vater ist mehrdeutig. Ist er nun ein Schlappschwanz (ein Ausdruck, der damals sehr häufig verwendet wurde) oder hat er Informationen darüber, dass Rolf Wagner gar nicht als Liebhaber seiner Frau in Frage kommt. Darüber konnte in den fünfziger Jahren wohl kaum ein Vater mit seiner halbflüggen Tochter offen reden.
Diese Spuren finden sich durchaus im Text. aber alle Lesarten sind für mich okay. Auch die bedenkliche, dass der Vater seine Tochter in die Rolle drängt, die eigentlich die Mutter ausfüllen sollte.
Klar, dass jeder Leser hier eine andere Lektion herauslesen kann.

Genug der Selbstinterpretation. Eigentlich schreibe ich lieber traditionelle, auserzählte Geschichte, aber ich bin ja hier, um dazuzulernen. Ich finde es spannend, dass man sich so brave, wenig aufmüpfige Kinder kaum mehr vorstellen kann und Basta!-Eltern wohl aussterben.:confused:

Danke für dein Interesse und liebe Grüße nach Berlin
wieselmaus

Liebes Nichtgeburtstagskind,

auch deine Hinweise habe ich schon in den Text eingearbeitet. Vielen Dank. Das meiste, was ich an wegen geschrieben habe, gilt auch für deine Lesart.

Wenn sie aber schon ein Teenager ist, wie die Eltern mit ihr umgehen.

Ja, heute reden Eltern mit ihren Kindern auch über heikle Probleme. Die "Halt den Mund, oder es setzt was" - Eltern sind anscheinend auf dem Rückzug. Über Sex erfahren die Kinder ohnehin genug in der Schule und über die Medien. Dafür haben wir jetzt die Heli-Eltern (und Großeltern, die alles aus einem gewissen Abstand betrachten).

Hmm, ich dachte eigentlich hätte Gertie die beiden beim Sex gestört, weil er nur einen Morgenmantel trägt. Aber die Mutter singt grade? Was machen die denn da?? Nackt singen?

Hach, schönes Bild. Du darfst dir alles vorstellen, was du willst. Allerdings steht nirgends, das er nur einen Morgenmantel trägt. Dieser Nachbar ist schließlich ein Abend-und Nachtarbeiter mit einem Sinn für Bequemlichkeit und Ästhetik.:D

Warum sollte sie das fragen, wenn sie da nicht wohnt? Geht sie ja eigentlich nichts an.

Sie bricht (vor Schreck) ab, weil sie die Stimme ihrer Tochter erkannt hat. Genau wie umgekehrt.


Ich freue mich, dass du was mit der Geschichte anfangen konntest. Bin weiter am Experimentieren.

Herzliche Grüße
wieselmaus


Hallo @AWD,

dein Interesse freut mich sehr. Ist ja eine ganz andere Welt als die von dir geschilderte.

Ich finde aus dem Dialog könntest du mehr rausholen. Das ist mir irgendwie zu brav und gewöhnlich und vielleicht auch ein wenig klischeehaft.

Was du zum Dialog zwischen Mutter und Tochter schreibst, werde ich noch nachbessern, wenn mir was einfällt. Gertie ist halt keine aufsässige Göre, sondern ein Mädchen, das betroffen und in großer Sorge ist von der Veränderung im Leben der Eltern. Eigentlich übernimmt sie die Verantwortung für den Fortbestand der Ehe, allerdings mit zweifelhaften Aussichten.

Für meinen Geschmack machst du es aber überdeutlich ...

Ja, wenn man "O Gott, nicht schon wieder eine" nur auf das Mädchen bezieht, das hier schon gesprungen ist. Die Lehrerin meint aber "... schon wieder eine, die mir was von scheidungswilligen Eltern erzählt. Vielleicht hatte die verletzte Schülerin ein ähnliches Problem.

Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat. Danke!

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo wieselmaus,

eine traurige, realitätsnahe Geschichte, die ans Herz geht. Du zeigst treffend, wie die Erwachsenen ihre Interessen verfolgen, ohne auf die Psyche des Teens Rücksicht zu nehmen. Gertie prallt von allen Erwachsenen ab, die Mutter nörgelt und macht ihr Vorwürfe, die Lehrerin hat Angst vor dem nächsten Selbstmord, der Vater sagt ihr, es geht sie nichts an und der alte Knacker lässt sie nüchtern abblitzen.
Das ist eine schwere Bürde, die Gertie zu tragen hat, ihre Wut und ihre Einsamkeit schilderst du gut nachvollziehbar. Ihr Aktionismus verpufft, torpediert von dem "Verrat" ihrer Mutter. Gertie lernt ihre Lektion auf die harte Tour und verdient unser Mitgefühl.

Gerne gelesen.

Peace, linktofink

 

Hallo wieselmaus,

wirklich eine traurige Geschichte und das bringt du gut zum Ausdruck. Du erzählst das angenehm ruhig, was das Gefühl für die vielen ungesagten Sachen verstärkt.

Ich empfinde den Vater beim Lesen überhaupt nicht als Schlappschwanz, durch die Beschreibung, wie er mit seiner Tochter umgeht, wirkt er sehr liebevoll.

Ich empfinde hier die Mutter als unglaublich unsympathisch, nicht nur wegen dem was sie mit dem Nachbarn hat (oder auch nicht) sondern vielmehr wie sie ihr Kind darüber vergisst und auch wie sie mit ihr spricht.

Die Aussage der Lehrerin empfinde ich tatsächlich auch irgendwie leicht überzogen. Wirkt ein bisschen drüber.

Habe ich gern gelesen.

Liebe Grüße
Charly

 
Zuletzt bearbeitet:

Entschlossen steht sie auf, wischt sich die Hände am Kleid ab, steigt die paar Stufen hinab und drückt auf Robert Wagners Klingelkopf.
Der arme Kerl

Und hallo, liebe Wieselmaus,

ich hab mal wieder Lust zu kommentieren, da bist du mein allerliebstes Opfer. :)

Ich hab deine Geschichte sehr gerne gelesen. Du weißt ja, ich mag Teeniegeschichten, egal aus welcher Zeit. Und manche Probleme (Scheidung, Partnerwechserl, Beziehungsprobleme der Eltern) ändern sich auch gar nicht so sehr, auch wenn ich deine Geschichte eher so in den Sechzigern zeitmäßig verankere. Wegen Waschmaschine und auch wegen der Art, wie Gertie sich verhält. Vielleicht würden heutige Kinder eher rummotzen oder der Mutter ein paar Nacktschnecken ins Bett legen. Obwohl, das haben wir damals auch schon gemacht ... Ich natürlich nicht. Langer Rede kurzer Sinn, ich wollte halt so ein bisschen erklären, wo ich die Geschichte zeitlich eingeordnet sehe.
Ich finde auch die Einblicke in Gerties Gefühlswelt schön dargestellt. Ich hab das alles gerne gelesen, wäre der Gertie sogar gerne noch weiter gefolgt.
Nachdem ich die Geschichte gelesen hatte, blieb aber so eine gewisse Unzufriedenheit. Und jetzt?, dachte ich, das wusste Leser doch eh schon, dass Frau Mama fremd geht oder auch nicht. Jedenfalls mehr mit Knacker zu tun hat, als Gertie das lieb ist. Also hab ich mich gefragt, was mich unzufrieden macht. Ich habe halt das Gefühl, die Geschichte ist nicht ganz fertig, irgendwie nicht gerichtet oder ausgewogen genug, irgendwie verpufft da was, ohne dass es so wirklich aufgebaut ist. Also hab ich mich gefragt, wo der Fokus deiner Geschichte liegt. Kannst du das selbst genau sagen? Ich hab da manchmal Schwierigkeiten, wenn ich selbst eine Geschichte erzähle. Da deine Geschichte "Die Lektion" heißt, nehme ich aber an, der Schwerpunkt liegt darauf, dass Gertie dem alten Knacker die Leviten lesen will, wenn es schon bei Papa und Mama nicht klappt. Also eine Lektion erteilen will, die dann aber kläglich scheitert, weil sie beim Hören der Mutterstimme die Flucht ergreift.

Sie muss etwas unternehmen, wenn es schon ihr Vater nicht tut.
So lese ich dieses Zitat. Damit das aber so wirklich zünden kann, fehlt mir ein wenig stärker Gerties Bestrebung, beide zur Rede zu stellen, nicht nur den Vater. Beim Vater machst du das, das fand ich auch cool, dass der nur Basta sagt. Auch in der Szene mit der Lehrerin wird das sehr deutlich, dass die als Hilfe nicht in Betracht gezogen werden kann. Bei der Mutter versucht Gertie es aber gar nicht wirklich. Sie tastet sich an die Mutter ja kaum ran. Meckert ein bisschen gegen sie. Ja, aber da fehlt mir Gerüst für die Beziehung Mutter und Tochter. Wahrscheinlich müsste das gar nicht viel sein, aber eben ein Hinweis, ein Zeigen, dass es bei der Mutter nicht geht, der die Leviten zu lesen. Und es fehlt mir die Darstellung von Gerties Angst, dem Knacker gegenüberzutreten. Du lässt sie zwar eine Stunde lang auf der Treppe sitzen, das ist cool gemacht, dennoch fehlt mir, dass du mir ihren inneren Widerstreit zeigst oder wernigstens ein bisschen stärker andeutest, damit klar wird, wieso sie genau diesen Weg wählt, keine Möglichkeite sieht, der Mutter die Leviten zu lesen, sondern ausgerechnet den Weg über den anderen Mann nehmen muss.

Noch paar Details:

“Ich? Schlechte Laune? Das solltest du mal deinem Vater sagen. Aber das tust du natürlich nicht. Vor dem hast du Respekt.“
Das solltest du mal deinem Vater sagen. - Find ich zu lang, zu sehr schriftdeutsch. Auch für die damalige Zeit. Warum nicht: Sag das mal deinem Vater.

Hier mach ich mal kurz Schluss. Frühstück ruft. Nachher weiter mit noch ein paar Details.

Gertie hat keinen Respekt, sondern eine mordsmäßige Wut. Und davon kommt das Nägelkauen, denn sonst müsste Gertie ein Fenster einschlagen oder das Klavier demolieren. Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen. Das ist die Wahrheit.
Schön. Nöstlingermäßig.

Die Szene mit der Lehrerin fand ich auch schön. Auch diese spezielle Form der Deformation professionelle, wenn der Lehrerin der Spruch entweicht. Gut geschrieben, finde ich. Auch klar, dass Gertie nicht zu dem Gespräch geht, sie merkt ja, dass die Lehrerin sie nur als überforderndes Problem sieht.

Der Mann im seidenen Morgenmantel mustert sie von oben bis unten.
„Und? Was willst du?“
„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe!“ Sie ballt die Hände.
SchaDE, DASS du da abgebrochen hast, die Antwort hätte ich gerne gehört, das wäre ein interessantes Gespräch geworden. Und auch Teil der Durchführung der Lektion.

Liebe wieselmaus, trotz meiner Anmerkungen, die eben auch nur Anmerkung einer interessierten Leserin sein sollen, habe ich deine Geschichte sehr gerne gelesen.
Mach es gut.
Novak

 
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Hey wieselmaus,


freut mich, dass du wieder mehr Zeit und Kraft fürs Schreiben und Kommentieren gefunden hast.

Ich steige gleich mal ein:

Nur wenige benutzen ihn noch zum Wäscheaufhängen, seit die Waschmaschinen in Küchen und Badezimmern eingezogen sind.
Ist ja 'ne Feststellung. Gilt für Haushalte bzw. einziehender Waschmaschinen im Allgemeinen, nicht? Könntest deswegen gerne auf den Artikel verzichten, um das zu unterstreichen.
Ich finde auch, das "Zeitalter des aufkommenden Wirtschaftswunders", also die Zeit, in der deine Geschichte spielt, dürfte etwas hervorgehoben werden, um mich als Leser auf Anhieb besser orientieren zu können. Du schreibst ja selbst ...
Außerdem gilt noch das Eherecht vor 1976. Es ist ein Hausfraueneherecht ohne Gleichberechtigung. Eine Scheidung ging oft zu Lasten der Hausfrauen, zumal das Schuldprinzip und nicht das Zerrüttungsprinzip galt.
... dass die Zeit eine (wichtige) Rolle für den Text spielt.
In dem Zusammenhang könntest du dir auch überlegen, ob du diese Infos (wenigstens andeutungsweise) noch einflechten solltest. Das im Kontext zu wissen, scheint mir (dir) schon wichtig zu sein. Bräuchte ja nicht viel, ein, zwei Sätze von Mutter zu Tochter vielleicht. Oder die Tochter begreift das bereits aus sich selbst heraus - so jung ist sie ja nicht mehr und in der Schule gibt/ gab es offensichtlich schon Scheidungskinder, von denen sie Infos bekommen haben könnte.

Sie sitzt auf der obersten Stufe, ein halbes Stockwerk über der Wohnung mit dem Namensschild Robert Wagner ...
Mich hat das kurz verwirrt, da blieb ich einen Moment hängen, um zu verstehen, wie das sein kann, da sie ja auf der obersten Stufe zum Speicher sitzt. Würde ich streichen, ist ja auch nicht wichtig, oder?
Vorschlag: Sie sitzt auf der obersten Stufe, die Wohnungstür mit dem Namensschild Robert Wagner im Blick, und kaut an den Fingernägeln.

So kannst du unmöglich zum Vorspielen antreten. Und deine Haare könntest du auch wieder einmal schneiden lassen.
Würde ich streichen, dann vielleicht: Und deine Haare müssen auch mal wieder geschnitten werden. Fände ich jedenfalls lebendiger, authentischer.

„Mama, du nörgelst nur an mir herum, nichts passt dir, was ich mache. Immer hast du schlechte Laune.“
Wirkt auch etwas künstlich auf mich.
Vielleicht irgendwie derart: „Du nörgelst nur an mir rum, (egal, was ich mache). (Bist) Immer schlecht gelaunt.“

“Ich? Schlechte Laune? Das solltest du mal deinem Vater sagen. Aber das tust du natürlich nicht. Vor dem hast du Respekt.“
Respekt vor Papa? Mama hat ja keine Ahnung.
Würde ich streichen, brauchst du nicht.

Respekt vor Papa? Mama hat ja keine Ahnung. Gertie hat keinen Respekt, sondern eine mordsmäßige Wut. Und davon kommt das Nägelkauen, denn sonst müsste Gertie ein Fenster einschlagen oder das Klavier demolieren. Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen. Das ist die Wahrheit.
Das ist ein merkwürdiger Erzähler, finde ich. So recht schlau werde ich nicht aus ihm. Wer erzählt da? Stellenweise wirkt das recht distanziert, stellenweise beinahe auktorial auf mich, was sich jedoch nicht nur mit dem letzten Satz beißen würde. Aber nach einem verängstigtem, enttäuschtem, wütendem Teenager klingt Erzähltes eben auch nicht immer.
Ich glaube, wenn du konstant nahe an der Figur bleiben, wenn du sie konsequent selbst erzählen lassen würdest, hättest du mich als Leser besser am Wickel. Ist natürlich schwer, ein 13-, 14-jähriges(?) Mädel erzählen zu lassen, klar. Dennoch :).
Abgesehen davon, das könntest du auch streichen, finde ich zu selbstreflektiert (ich gehe eben davon aus, dass du nicht auktorial vorgegangen bist) und auch zu erklärend für den Leser, oder du verknüpfst das mit dem Kaputtmachen in Folge. Vorschlag: Lieber Nägelkauen, als was kaputtzumachen. Mama ist diejenige, die alles kaputtmacht und Papa lässt es geschehen.

... Du hast schon bessere Aufsätze geschrieben und deine Mitarbeit ist gleich null.“
„Ich hab' immer so Kopfweh und … Meine Eltern lassen sich scheiden.“
Das geht schon sehr schnell. Dass sie die Scheidung erwähnt. Zu schnell, meine ich. Gerade zu der Zeit, oder? Würde ich mir ein bisschen Bohrerei der Pädagogin wünschen. Ein, zwei Sätze mehr würden wohl schon ausreichen.

... aus der vor einigen Monaten ein Mädchen hinausgesprungen war. Tot war sie nicht, aber schwer verletzt.
Auf der kurzen Distanz gefällt mir das nicht (nie).
Vorschlag: ... aus der vor einigen Monaten ein Mädchen hinausgesprungen war und sich (schwer) verletzt hatte. Oder: ... aus der vor einigen Monaten ein Mädchen hinausgesprungen war und sich glücklicherweise (Gott sei Dank) nur verletzt hatte.

Tot war sie nicht, aber schwer verletzt.
„O Gott, nicht schon wieder eine“, entfuhr es der Lehrerin.
Ich habe die Wörtliche Rede auch nur mit dem Suizidversuch(?) in Verbindung gebracht, nicht, wie du meintest, auch mit scheidungbetroffenen Kindern.
Deswegen sehe ich es wie AWM, auch ich würde den Satz streichen, um die Handlung (das Schließen des Fensters) stärker zur Geltung zu bringen.

Schon etwas älter als ihr Vater, zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Trägt seine Haare halblang und meistens eine Fliege. Ein Künstlertyp, affig. Sie ist ihm schon mehrmals im Treppenhaus begegnet. Die Fältchen um seine Augen scheinen sie jedes Mal auszulachen.
Brauchst du die Possessivartikel, -pronomen?

Mit ihrem Vater kann sie über alles reden.
und das geht dich auch gar nichts an
Du wolltest den Widerspruch, nicht? Einem Gedanken folgend fände ich es gut, wenn sie ganz klar dem Vater die Opferrolle, der Mutter die Täterrolle zuschreiben würde. Also wenn sie die Enttäuschung über den Vater in Wut gg der Mutter umwandeln würde. Dann solltest du mMn aber weiter oben die "mordmäßige Wut" gg dem Vater ausradieren bzw. umwandeln.

Gertie sitzt nun seit einer Stunde auf der staubigen Treppe. Es ist vier Uhr nachmittags. Vater und Mutter sind beide außer Haus.
Bräuchte ich nicht.

„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe!“ Sie ballt die Hände.
Im Hintergrund bricht eine Frau mitten in einer Koloratur ab.
„Robert, wer ist da, Robert, ist das ...?“
Gertie fährt ein heißes Schwert in den Bauch. Sie kennt die Stimme, es ist kein Zweifel möglich. Wortlos dreht sie sich um und flieht die Treppe hinunter.
Würde ich streichen. Sie ahnt wohl schon, hat es an der Stimme gehört, dass ihre Tochter vor der Tür steht. Würde sie dann tatsächlich noch nachfragen?
Ohne dem Gestammel fände ich die Schlussszene auch stärker. Gäbe mir so ein kleines "Aha-Erlebnis" als Leser, weil ich was kapiert zuhaben glaube, obwohl das natürlich nicht schwer zu erraten ist :).


Ja, wieselmaus, ist natürlich immer wieder ein interessantes Thema, wenngleich es natürlich schon ziemlich beackert wurde und wird. Eine besondere Note könntest du mMn dadurch erreichen, wenn du nochmals deutlich herausstellen würdest, dass sich dieses Drama "im Zeitalter des aufkommenden Wirtschaftswunders" abspielt, mit all seinen Moralvorstellungen und rechtlichen Begebenheiten. Ein paar Andeutungen würden mir da schon reichen. Aus der heutigen Sicht betrachtet, sehe ich die Familiensituation zwar noch immer als tragisch an, aber - auch wenn das hart klingen mag -, so richtig mitfühlen kann ich da nicht mehr, traurig stimmt mich das weniger, dazu fehlt es mir an Schärfe. Ich denke eher, fürs Kind wäre es vermutlich besser, wenn die Eltern sich trennen würden. Danach könnte aufgearbeitet werden. So ist es natürlich schwer für die Eltern, dem Kind gerecht zu werden. Wird ja Stillschweigen praktiziert, weil mehr wohl im Moment nicht drin ist. Vielleicht ist es aber ja auch genau diese Lektion, die du darstellen möchtest.
Der Erzähler dürfte für meinen Geschmack noch näher an Gertie heranrücken, der Konflikt, das Zur-Rede-Stellen dürfte gerne etwas mehr Raum einnehmen, etwas schärfer ausfallen.
Ansonsten hab' ich das schon auch gerne gelesen. Ich lese deine Texte immer gerne und ich finde es toll, dass du dich so experimentierfreudig zeigst.


Danke fürs Hochladen!


hell

 

Hej, liebe wieselmaus,

Mamas haben grundsätzlich keine Ahnung. Aber eben Bedürfnisse, von denen Kinder nichts wissen wollen, ist ja irgendwie keine richtige Frau, so ne Mutter, schließlich. :hmm:

Gertie ist wach und empfindsam, mutig und offen. Ein süßes Ding.
Wie immer passt deine Sprache gut und pointiert. So kann ich mich komplett auf die Story einlassen. Du hast dich entschieden, wenig zu erzählen, Vieles angedeutet. Und ich bedauere das. Du bist gut reingeschlüpft in dieses Mädchen ;) und jede einzelne Situation, in der sie sich hier befindet, hätte ich sehr gerne ausführlicher betrachtet.

Vielmehr geht es um den alten Knacker im dritten Stock, dem ihre Mutter sehr viel Zeit widmet, so viel, dass sie das Einkaufen für die eigene Familie vergisst. Gertie kann inzwischen sehr gut bügeln und staubsaugen. Vater ist ohnehin derjenige, der morgens für das Frühstück sorgt und Gertie das Geld für eine Brezel oder Vanilleschnecke neben die Kaffeetasse legt.

Das steckt enorm viel drin. Ein Dialog wäre schön gewesen, auch um den Vater in diesem Drama kennenzulernen, seinen Umgang damit, sein Wissen darum, seine Wut, seine Trauer, sein Bemühen, seine Hoffnung. Auch um Gertie mehr von den Erwachsenen zu eröffnen. Denn das Fremdgehen der Mutter, selbst wenn es sich tatsächlich bloß um Gesangsstunden handeln würde - und der Knacker ein freak ist, der eben Morgenmantel trägt, oder einen Hausmantel, bleibt die Sehnsucht der Mutter offen. Ichwürde gerne erfahren, wie man damit zu dieser Zeit umgegangen ist. Zumindest erfahre ich, dass Scheidung offenbar ein großes Thema war. Immerhin „opferte“ man sein Leben nicht mehr automatisch einer Ehe, in der beide unglücklich waren.

Seit diesem Gespräch hat Gertie die Wut im Bauch. Sie muss etwas unternehmen, wenn es schon ihr Vater nicht tut.

Aber ich glaube, ich bin bloß zu neugierig, denn hier und im Gespräch mit Gertie, erfahre ich ja von der Resignation des Vaters und was er für sich aus der Situation zieht. Und ich verrate dir mal, wie großartig ich das finde, wie er damit umgeht. Er wartet ab. Geduldig und klagt nicht, beschäftigt sich währenddessen mit sich und seinen Bedürfnissen. Und ich bin froh, dass ich nicht erfahre, wie diese Ehe weiter verläuft, denn ich glaube, sie stehen diese Phase der einzelnen Bedürfnisse und Irrwege durch, wie eine Krankheit, ziehen ihre Lehren und wissen am Ende, was sie aneinander haben, Träumerin und Romantikerin, die ich bin.

Nebenbei bemerkt mag ich Wut lieber ohne Artikel. Die ist diffuser und wilder. ;)

Ich freue mich, dass du eine neue Geschichte mit mir teilst und ich wiedermal mehr erfahre aus dem Deutschland nach dem Krieg. Ich empfinde es wertvoll, zumal es mehr Spaß macht, wenn sie in einer Geschichte steckt und sich Menschen darin befinden. Es ist schön, zu erkennen, was sich im Kleinen entwickelt und verändert hat. Mit feinem Blick und ohne mich mit der Nase reinstoßen zu wollen.

Vielen Dank, liebe wieselmaus und bitte fahre sie fort damit. :shy:

Lieber Gruß, Kanji

 

Hallo, wieselmaus

Zuerst wollte es mich auch stören, dass ich so verwirrt über das Alter der Prota war, aber das mit der Zeit, in der die Geschichte spielt, leuchtet mir ein. Da merke ich, dass mich diese Geschichte, trotz ihrer Kürze, an mein absolutes liebstes Jugendbuch erinnert, beziehungsweise an meine liebste Jugendbuch-Trilogie: „Gretchen Sackmeier“ von Christine Nöstlinger.

Das hängt nicht nur mit dem Namen der Prota zusammen. Wenn stimmt, was das Internet sagt, ist der erste Teil von 1981 (mein Buch sagt, es sei von 1983, aber wie auch immer). Auch plagt sich Gretchen herum mit der Trennung ihrer Eltern, mit dem plötzlich schwer erklärbaren Verhalten ihrer Mutter und dem grantig werdenden Vater, den noch viel mehr leidenden jüngeren Geschwistern.

Ich weiß nicht, ob Du Nöstlinger kennst, ich will es nur trotzdem sagen, denn ich lese ihre Bücher immer noch: Was sie in meinen Augen auszeichnet, ist nicht nur der unwahrscheinliche Dialekt (wunderbar für ein norddeutsches Kind), sondern auch, dass sie absolut ehrlich ist mit jedem. Ihre Figuren sind keine Kinder oder Jugendlichen, und die Leser/innen sind keine Kinder oder Jugendlichen: Sie alle sind Menschen, und auch als erwachsene Autorin kann man ihnen auf Augenhöhe begegnen. Das beides zusammen, Dialekt und Ehrlichkeit, erzeugt eine unwahrscheinliche Authentizität. Ich habe mich als Jugendliche jederzeit verstanden gefühlt und wollte Nöstlinger alles glauben, obwohl man Erwachsenen in diesem Alter ja eigentlich ungern alles glaubt.

Diese Ehrlichkeit sehe ich auch in Deinem Text, da passt nicht nur Inhalt, Zeit und Name der Prota. Fast wünsche ich mir, Du würdest Wienerisch schreiben und eine Trilogie draus machen, nur weil ich „Gretchen Sackmeier“ fast auswendig kenne. Ich bin enttäuscht, dass es so schnell vorübergeht. Aber das ist keine Kritik. Das ist Lob.

Kleinigkeiten:

“Ich? Schlechte Laune? Das solltest du mal deinem Vater sagen. Aber das tust du natürlich nicht. Vor dem hast du Respekt.“

Hier ist Dir das erste Anführungszeichen verrutscht. Das muss runter.

Respekt vor Papa? Mama hat ja keine Ahnung. Gertie hat keinen Respekt, sondern eine mordsmäßige Wut.
Mit ihrem Vater kann sie über alles reden.

Hier bin ich beim zweiten Lesen irritiert. Ich hatte mehr so das Gefühl, dass Gertie ihrem Vater gerade sehr nahesteht – deshalb habe ich auch noch diesen Schlüsselsatz aus dem späteren Text mitgebracht. Dass sie auch auf ihn wütend ist, kommt im späteren Text gar nicht durch. Beim ersten Lesen war das egal, beim zweiten Lesen ist es komisch.

Seit diesem Gespräch hat Gertie die Wut im Bauch. Sie muss etwas unternehmen, wenn es schon ihr Vater nicht tut.

Auch das, wo Du zur Wut überleitest … Es fällt mir erst auf, wo ich es genauer lese, aber steht sie nicht eher vor der Tür des Geliebten, um ihrem Vater zu helfen? Nicht weil sie wütend auf ihn ist? Für mich wird da die Beziehung zum Vater immer undurchsichtiger, und klar ist Ambivalenz irgendwie wichtig und Wut auch verständlich, aber das passt für mich nicht zu dem Vater, der Frühstück macht und mit dem sie über alles reden kann.

„Was ist bloß los mit dir, Gertie?“, fragte sie und putzte dabei ihre Brille.

Die Brille irritiert mich etwas. Ist wahrscheinlich Geschmackssache. Soll das heißen, dass sie nicht ganz bei der Sache ist? Hm. Könnte man meinetwegen streichen.

„O Gott, nicht schon wieder eine“, entfuhr es der Lehrerin.

Ihre Unachtsamkeit kommt in meinen Augen hier ausreichend durch. Ich habe gerade gelesen, dass manche sich an dem Satz stören. Ich finde den gut, habe auch kein Problem, das einzuordnen. Ich weiß nicht, wie die Raten in der Zeit waren, in der Deine Geschichte spielen soll (bei Gretchen im 80er Jahre Wien war es wohl noch irgendwie selten), aber in meiner Generation war schon jedes zweite Kind ein Scheidungskind. Und wie belastend das ist, habe ich zwar glücklicherweise nicht am eigenen Leib erfahren, aber bei vielen Freunden und Freundinnen erlebt. Deshalb hatte ich keine Probleme damit, den Satz auf die Scheidung und nicht auf Suizide zu beziehen. Ich verstehe das auch so ein bisschen so, dass Du die Lehrerin als absolut unempathisch zeichnest, dass Gertie deshalb nicht zu ihr geht. Deshalb würde ich das auch so lassen, wie es ist. Nur die Brille, das war mir persönlich zu viel.

So viel also dazu. Wenn Du eine Trilogie mit 600 Seiten daraus machst, sag mir Bescheid. ;)

Authentische Grüße,
Maria

 

Ach liebe wieselmaus,

zur Zeit ist's mit mir ein Graus, habe wenig Kapazitäten und kann deswegen nur ganz kurz mäkeln, was mir gleich zu Beginn ins Auge springt:

Gertie betrachtet ihre Fußabdrücke auf der staubigen Treppe, die zum Speicher führt. Nur wenige benutzen ihn noch zum Wäscheaufhängen, seit die Waschmaschinen in Küchen und Badezimmern eingezogen sind. Sie sitzt auf der obersten Stufe, ein halbes Stockwerk über der Wohnung mit dem Namensschild Robert Wagner, und kaut an den Fingernägeln.

Das "seit" sollte nach meinem Gefühl ein "seitdem" sein, denn dem "seitdem" wohnt der Zeitpunkt inne, den das "seit" benötigt, um alleine zu stehen ("Seit Donnerstag bin ich krank. Am Donnerstag hatte ich einen Unfall. Seitdem bin ich krank.")

Bei dem "sie" hatte ich für eine Zehntelsekunde die Waschmaschine im Kopf, was natürlich nicht stimmt. Der richtige Bezug ist selbstverständlich nach einer Sekunde klar und in dem Satz steckt kein echter Fehler, aber beim schnellen Lesen stolpere ich und sehe die Waschmaschine auf der Treppe sitzen.

Tja, und jetzt bin ich schon wieder weg.

Schneller Gruß vom Geschichtenmäkler, äh -werker

 

Liebe wieselmaus,

erstmal ein großes Kompliment, dass du in dieser Kürze eine so plastische Szenerie vor meinem inneren Auge entstehen lässt. Ich hatte auch keine Probleme mit der Zeit, denn allein der Name Gertie zeigt mir schon, dass es eine andere Zeit sein muss. Obwohl die alten Namen ja heute wieder modern sind, aber Gertie wohl eher nicht. Obwohl ... Neulich hab ich von jemandem gehört, der seine Kinder Edgar und Gerda genannt hat, das fand ich schon extrem.
Auch der Hinweis mit den Waschmaschinen hat mir gezeigt, dass das nicht heute sein kann.

Komischerweise habe ich Gerties Behauptung, die Eltern ließen sich scheiden, gar nicht als traurig und hilfesuchend empfunden, eher als trotzig, als ob sie wüsste, dass sie es nicht tun, und der Lehrerin nur eine Reaktion entlocken will, weil sie sie nicht mag. Wahrscheinlich hast du es nicht so gemeint, aber so habe ich es zuerst gelesen, und das hat mir gefallen. Zeigte mir ihr pubertäres Aufbäumen gegen die Erwachsenen, vor allem gegen den - wie hieß das - Inspizienten.
Auch den hatte ich sofort vor Augen. "Geck" hat meine Mutter solche Typen immer genannt. Den fand ich in seinem kurzen Auftreten auch super auf den Punkt gebracht. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mit Gerties Alter zunächst auch Schwierigkeiten hatte. Die unterschiedliche Art zu erzählen wurde ja schon angesprochen. Einmal sehr erwachsen, dann wieder fast zu kindlich, ich denke, das könntest du flüssiger miteinander verweben, sonst habe ich fast den Eindruck, das sind zwei Personen.

Der Titel spielt für mich auf vieles an. Einerseits darauf, dass Gertie erwachsen wird, die Wahrheit sieht, aber was ist die Wahrheit? Du hast das echt geschickt gemacht. Man glaubt, die Mutter hätte eine Affäre, aber hat sie die wirklich?
Das mit dem Morgenmantel fand ich sehr geschickt, noch dazu der herrliche Kontrast, dass die Mutter im Hintergrund trällert. Dann musste ich an diese Künstler denken, die in ihrer Wohnung gerne Kimonos tragen, auch - oder gerade - wenn Besuch da ist, natürlich nur wegen der Bequemlichkeit. Und man sieht das ja als echter Boheme nich so eng. Was also, wenn er vielleicht schwul ist und der Mutter eine Karriere am Theater versprochen hat, sie die Chance sieht, rauszukommen aus ihrem Alltagsmief, dessen Abwechslung darin besteht, die Wäsche nicht mehr auf dem Speicher sondern im Garten aufzuhängen. Das gäbe der Geschichte eine ganz andere Dynamik, vielleicht würde Gertie dann lernen, dass die Dinge nicht immer so sind wie sie scheinen, oder so. Im Prinzip ist ja die Mutter die Rebellin. Gut, man hat sich vielleicht nicht so schnell scheiden lassen, aber da ständig beim Nachbarn rumzuhängen, sogar mit ihm in den Urlaub zu fahren, ist ja selbst für heutige Verhältnisse schon ziemlich heftig. Vor allem, wenn die Tochter die ganze Zeit auf der Treppe sitzt. Dass sie die Mutter nicht konfrontiert, finde ich nachvollziehbar, sie ist streng und Gertie hat womöglich Angst vor ihr. Der Vater ... Tja. Was auch immer er weiß, er behält es für sich und erträgt. Fährt mit'm Moped nach Spanien. Wer weiß, was der da treibt.

Hat mir sehr gefallen die Geschichte.

Liebe Grüße von Chai

 

Liebe wieselmaus,
ich weiß nicht, ob du meine pn bekommen hast, in meinem Postausgang wurde nichts angezeigt. Ich schreibe das aber auch nochmal öffentluch, wenn es soweit ist.

Gut's Nächtle von Chai

 

Hallo wieselmaus,

bei der Textlänge und der Anzahl an Kommentaren ist die Wahrscheinlichkeit groß, sich zu wiederholen, trotzdem möchte ich dir gerne einen Eindruck dalassen.

Natürlich machst du es einem unheimlich leicht, auf Anhieb ein Bild vor sich zu sehen, die staubige Treppe, die zum Speicher führt, die nägelkauende Gertie ... Ich bin da.

Aber klar, dieses Bild ist nur der Ausschnitt von etwas viel Größerem, und auch das sehe ich wenige Sätze später schon deutlich vor mir, diese ... "Basta!"-Unzufriedenheit, wenn man jemanden liebt und dieser Jemand seine Lage als ausweglos darstellt und man ihm klarmachen will, muss, dass "Basta!" Blödsinn und nix ausweglos ist ... und keine Ahnung hat, wie man das anstellen soll.

Hm. Das denke ich, nachdem ich am Ende angekommen bin - Hm. Weil ich Gertie jetzt zu kennen glaube und ahne, hoffe, dass sie eine Kämpferin ist, aber ... ihren Kampf nicht miterleben darf. Das letzte Bild, was ich von ihr vor Augen habe, ist, wie sie flieht, ich hätte mir gewünscht, dass sie am Wagner vorbeistürmt und ihre Mutter anbrüllt, aber nein, sie flieht und vielleicht sitzt sie jetzt auf irgendeiner anderen Treppe, kaut Nägel und weint, ich weiß es nicht, und das nimmt mich mit.

Gerne gelesen habe ich deine Geschichte jedenfalls, weil sie so simpel ist, so schnörkellos, und trotzdem fährt einem "ein heißes Schwert in den Bauch". Aber ja ... Hm.

Liebe Grüße,

Lani

 

Lieber Friedrichard

wie Recht du hast, lieber Friedel, mit

so wird aus dem Titel ein Spiel mit der Zweideutigkeit der "Lektion" ... bis zum Schluss in der eher harmlosen Bedeutung als Trainingseinheit/Gesangsstund der Mutter beim für Gertie schnöseligen Nachbarn.

Ambivalenz oder gar Mehrdeutigkeit zu erkennen, gelingt mit zunehmender Lebenserfahrung immer besser, aber nur, wenn man mit allen Sinnen am Puls der Zeit bleibt. Mit Enkeln kann das ganz gut funktionieren, bieten sie uns doch wunderbaren Anschauungsunterricht für das, was war, was ist und was wird. Eltern sind meist noch in ihren Selbstbespiegelungen gefangen, aus einer (nahen) Distanz heraus lässt sich viel Erkenntnis gewinnen (glaube ich:shy:)

Danke für dein wie immer: Gern gelesen

und Grüße an den Niederrhein, den ich unbedingt noch kennenlernen möchte.

wieselmaus

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Hallo linktofink

eine traurige, realitätsnahe Geschichte, die ans Herz geht.

Das ist schön, dass du dich davon berühren lässt, obwohl sie doch sehr spröde erzählt wird. Ich habe hier ein Experiment gewagt, nur das aus meiner Sicht Nötigste ausformuliert und ansonsten mit unauffälligen Hinweisen gearbeitet, die jeder Leser nach seinem Willen wahrnehmen oder ignorieren kann. Der Leser soll - so mein Versuch - nicht bevormundet werden.
Scheint halbwegs gelungen zu sein. Denn eine von mir im Hinterkopf gespeicherte Sichtweise ist auch deine:

Gertie lernt ihre Lektion auf die harte Tour

Wenn dich auch andere Sichtweisen interessieren, so kann ich auf spätere Kommentare verweisen. Ich werde später noch ausführlicher darauf eingehen. Auf jeden Fall als mehrdeutig ist der Titel der Geschichte zu verstehen.

Danke für dein Interesse und
liebe Grüße
wieselmaus
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Hallo Charly1406

Du erzählst angenehm ruhig, was das Gefühl für die vielen ungesagten Sachen verstärkt.

Ja, genau das war der Plan und so freut es mich, dass du mir in meiner Absicht gefolgt bist. Danke dafür.

Und genau das passiert dann: Die Leser kommen zu höchst unterschiedlichen Urteilen über die Protagonisten, über Vater, Mutter, Lehrerin und den undurchsichtigen Nachbarn. Und alle können sich auf den Text berufen, haben Recht, weil der Text eben diese absichtlichen Lücken lässt. Also, die Rezeption durch die Leser ist wirklich eine spannende Sache.

Die Aussage der Lehrerin emfinde ich tatsächlich auch irgendwie leicht überzogen. wirkt ein bisschen drüber.

Was meinst du mit "drüber"? Zu viel oder zu wenig Anteilnahme? Oder noch etwas ganz anderes?

Danke für deine engagierte Sichtweise. Die Diskussion kann gerne weitergehen.

Freundliche Grüße
wieselmaus


Fortsetzung folgt bald

 

Hallo wieselmaus,

es ist im Grunde so, wie ich ja geschrieben habe, deine Geschichte erzähst du angenehm ruhig, die plätschert so dahin, im positiven Sinne. Dieser Satz der Lehrerin unterbricht das Plätschern, den gleichmäßigen Klang, den du beim Schreiben ja auch beabsichtigt hast, wie du sagst. Der Satz passt nicht zu der sonst ruhigen Erzählweise. Wenn du die Szene mit dem Fenster irgendwie mehr ausschreibst, würde das eher zum Rest passen. Daher wirkt dieser Satz, im Zusammenspiel mit der Schreibweise der ganzen Geschichte, auf mich übertieben.

Ich sehe in deiner Geschichte eine langjährige Beziehung, die an einem Wendepunkt ankommt. Ich empfinde es nicht als unfassbar schlimm, was die Mutter macht. Wenn sie tatsächlich ein Verhältnis hat, nunja, sowas passiert ... und wenn sie tatsächlich nur singt und sich da so reinsteigert, dass sie ihre Familie vergisst, sagt mir das, sie ist unglücklich und flieht irgendwie aus dem monotonen Alltag. Was sie für mich eben unsympathisch macht, ist nicht das sie diese Dinge tut, sondern, was anhand deiner Schilderungen deutlich wird, ihre Tochter vernachlässigt. Dafür kann ich bei aller Selbstfindung eben kein Verständnis finden.

Daher empfinde ich den Vater so sympathisch. Er versucht all das aufzufangen, den gewohnten Alltag für seine Tochter aufrecht zu erhalten. Er wartet ab. In sehr langen Beziehungen, entstehen irgendwann solche Phasen, ist oft so. Da man sich als Mensch ja weiterentwickelt, neue Interessengebiete findet u.s.w. dann muss man schauen, ob man es schafft, dass sich Interessen verbinden lassen oder nicht. Oft gibt es auch einfach Phasen, in denen einer, ich sage mal spinnt.
Ob man dann sofort alles wegwerfen muss, ist die Frage. Daher empfinde ich das Verhalten des Vaters, als menschliche Größe.

Ich möchte die Geschichte so zu Ende denken, die Mutter singt nur, kommt durch das Auftauchen ihrer Tochter zur Besinnung. Erklärt ihr, wie viel Freude sie daran hat. Sie lässt ihre Familie daran teilhaben und sie überwinden diese Krise.
Ja, ist Friede, Freude, Eierkuchen. Aber ich mag das halt.

In der Zeit, in der du schreibst, waren Scheidungen halt noch eine größere Sache. Eine Lektion daraus, im Bezug die Geschichte in unsere Zeit zu übernehmen, ist vielleicht auch, man sollte nicht zu vorschnell urteilen.
Eine Moral könnte man aus deiner Geschichte auch ziehen. Heute trennen sich Paare ruckzuck, wenn irgendwas passiert, Zack vorbei.
Natürlich sollte man nicht in Beziehung verharren, die aussichtslos sind. Aber oft lohnt es sich auch, gemeinsam etwas zu überstehen, aus dem eine Beziehung sehr viel an Intensität gewinnen kann.

Liebe Grüße
Charly

 

Liebe Novak,

ich freu mich sehr, dass du mir deineen ersten Kommentar nach der Pause widmest. Und dabei hast du gleich bei mir eine Freud'sche Fehlleistung erwischt Kopf oder Knopf,, beide will Gertie zum Klingeln bringen.

Ich verrate dir was: Ich freue mich darüber, dass du unzufrieden bist. So geht es mir nämlich auch mit meinem Experiment, bei dem ich mich aufs Allernötigste beschränkt und ganz viele Lücken gelassen habe, damit der Leser seine eigene Geschichte entwickelt. Bloß den Leser nicht in seiner Freiheit der Interpretation beschränken, ist das nicht die moderne Lehre? Und verstärkt nicht der zweideutige Titel "Eine Lektion" die Aufforderung, sich selbst eine passende Lektion auszudenken, nicht nur für Gertie, sondern für alle beteiligten Personen, einschließlich der Leser?

Über zu viel "tell" hat sich bisher niemand beklagt, eher über zu wenig. Die Geschichte, die ich noch im Kopf habe, wäre üppig, eindeutig und wahrscheinlich moralisch. All das wollte ich mal dem Leser überlassen.

Es gibt Schwachstellen im Text, z. B. die Dialoge. Ist Gertie nun ein Kind oder ein Mädchen in der Pubertät? Ihre Sprache ist mal kindlich, dann wieder redet sie recht elaboriert daher. Ich könnte mich jetzt herausreden, es handle sich dabei um eine Art mentalen Stimmbruch. Grundsätzlich finde ich es gar nicht einfach, die Alltagssprache in einer bürgerlichen Familie vor sechzig Jahren zu treffen. Da gibt es gewaltige Veränderungen. Umgangston und die Wortwahl möchte ich nicht einfach von heute übernehmen, aber ich arbeite daran. Das gilt z.B. auch für die Mutter. Sie verwendet das Wort "antreten", ein militärischer Ausdruck. Die Sprache hatte (damals) ganz viele Begriffe aus dem Militärischen, dabei war das vielen überhaupt nicht bewusst.
Ich gebe zu, das ist ein Steckenpferd von mir, mit solch kleinen Stolpersteinen die zeitliche Verortung zu bieten, ein darling, auf den ich auch verzichten kann.

Du hast auch richtig tolle Komplimente für mich:

Nöstlingermäßig

Das ist eine großartige Adresse. Als Autorin ist sie mir nur aus einem Buch präsent, aber ich kenne natürlich ihren Ruf, ihre vielen Auszeichnungen. TeddyMaria sieht sich an die Trilogie "Gretchen Sackmeier" erinnert, Ich glaube ich muss mal im Bücherregal meiner Schwiegertochter kramen, da könnte dieses Exemplar stehen.

Besonders froh bin ich, dass du die Szene mit der Lehrerin gelungen findest. Da bist du ja auch Insiderin und kennst die pädagogischen Tricks, wie man sich Schüler oder Schülerinnen sich vom Leibe hält ...

Also, ich bin jetzt ein Stückchen schlauer, was das Experiment angeht.

Liebe Novak, ich danke dir ganz herzlich für deinen aufschlussreichen Kommentar. Falls du die Diskussion verfolgst: Die Meinungen gehen ganz schön auseinander. Aber Unfreundliches habe ich bisher noch nicht lesen müssen.

Herzliche Grüße von der in Ansätzen wieder kämpferischen

wieselmaus

 

Lieber hell,

danke dafür, dass du dich so gründlich mit dem Text auseinandergesetzt hast. Ich bin gerade am Bearbeiten der Dialoge. Ich weiß schon, dass sie für heutige Ohren steif klingen.Aber, so meine Intention, in Gertie findest du ein Mädchen, das sich besonders gut anpasst: Bei der Mutter das traurige Kleinkind, beim Vater die junge Frau, die glaubt, auf Augenhöhe mit ihrem Vater zu kommunizieren. Und in ihrer Gedankenwelt hat sie das juvenile Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, weil der Vater sie darin im Stich lässt. Das Basta! hat bei der Tochter den Glauben an einen omnipotenten Vater erschüttert. "Mama" und "Papa" werden aber noch lange in ihrem Wortschatz bleiben. Einen auktorialen Erzähler sehe ich nirgends, nur den Gedankenfluss bei Gertie, ausgesprochen oder eben nur gedacht.

Dieser Text ist für mich ein Experiment, wie weit man Informationen, das Ausarbeiten von Charakteren, die Eindeutigkeit in der Zuweisung von Rollen zurückstellen kann, um den Leser zu erreichen. Die Diskussion hier im Forum nimmt ja gerade (wieder) Fahrt auf, nicht zuletzt auch wegen deines Vorschlags für eine neue Rubrik für Kürzestgeschichten. Wie du weißt, bin ich sehr dafür, schon allein deshalb, weil ich dann in aller Ruhe meine Erzählungen ausgestalten kann. Ich habe als Tag diesmal nur Alltag genommen, der natürlich alles und nichts bedeutet. Meine Ambitionen als Autorin liegen schon immer in der Verknüpfung von Alltag, Gesellschaft und Zeitgeschichte.

Wenn ich eine Lektion dem Leser nahelegen würde, wäre es die: Gerties Elend besteht nicht so sehr in der von ihr als Ausrede verwendeten Scheidungsbehauptung gegenüber der Lehrerin, sondern in der Tatsache, dass die Eltern nicht offen mit ihr reden, auch der geliebte Vater nicht. Kommunikation wäre das Zauberwort, soll ja sogar bei Fußballern nützen:D

Bei Chai findest du übrigens eine Deutung, die meinen Intentionen ziemlich nahe kommt. Einen schwulen Hausfreund kann ein Vater der fünfziger Jahre einer pubertierenden Tochter kaum zumuten, glaubt der fürsorgliche Vater. Wenn er sich da nur nicht irrt:lol:! Aber die Opferrollen kriegen dadurch einen ganz anderen Dreh.

Ich bin auch eine, die eine Lektion bekommt. Allen kann man es nicht recht machen, siehe maria.meerhaba.
Dazu eine Anektdote aus meinem Leben. Meine Deutschlehrerin (in der Sexta) hatte ein Aufsatzthema gestellt:
Man kann es nicht allen recht machen Schreibe dazu ein Erlebnis.

Mein Schlusssatz lautete: Man kann es eben keinem recht machen.
Thema verfehlt? Oder doch nur kindliche Wahrnehmung?

Danke fürs Kommentieren und Glückwunsch für den Einstieg ins harte Literaturgeschäft

wieselmaus

 

Einen schwulen Hausfreund kann ein Vater der fünfziger Jahre einer pubertierenden Tochter kaum zumuten, glaubt der fürsorgliche Vater. Wenn er sich da nur nicht irrt! Aber die Opferrollen kriegen dadurch einen ganz anderen Dreh.
Liebe wieselmaus, das schreibst du, und ich muss sagen, der Mantel legt das schon nahe, ich musste auch kurz daran denken, als ich die Beschreibung des Mannes las, habs dann aber wieder ad acta gelegt. Aber jedenfalls könnt man überlegen, das noch ein bisschen, ein Quäntelchen zu verstärken, wenn es dir wichtig ist, dass auch diese Komponente der Lektion rauskommt.

Und nun noch: Gut, dass du wieder ein bisschen kämpferischer geworden bist. Das freut mich sehr. :kuss:

 

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