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Serie Exodus: Sie wurden ausgewählt

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Seniors
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10.02.2000
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Exodus: Sie wurden ausgewählt

Erster Akt

Bernd Rittermann sieht das Loch nicht kommen. Auf dem Schoß hat er den Ordner mit Parzellenlisten und Gemarkungsgrenzen. In der Hand den fast vollen Grünteebecher. Das rechte Vorderrad taucht abrupt in ein tiefes Loch, Rahmen mitsamt Radaufhängung krachen hinein, treffen auf Widerstand, ein harter Schlag kommt. Grünteebecher, Ordner, Bernd Rittermanns Kopf, so gut wie alles im Fahrzeug folgt den Gesetzen der Physik. Heißer Tee auf Hemd und Hose lässt ihn aufschreien und von seiner Schläfe tropft Blut. Er beugt sich seitwärts und mustert den Handgriff.
»Oh! Scheiße!«, ruft Leonie. »Tut mir leid! Ich hab’s nicht kommen sehen!«
»Dieses Loch ist neu«, erwidert Bernd und schmeißt den Ordner auf die Rückbank. Leonie kurvt um zwei weitere Schlaglöcher. »Noch ein paar solcher Schläge und die Einzelradaufhängung ist im Eimer!«
»Ich sehe kaum die Hand vor Augen«, ist Leonies einzige Bemerkung dazu.
»Dann fahr langsamer!«, fordert er. Leonie hört nicht und Bernd zieht heftig die Luft durch die Nase. Der Tee kühlt sich ab. Hose und Hemd kleben auf der Haut. Gottseidank sind sie auf dem Heimweg und müssen nicht mehr dem Beamten im Katasteramt gegenübersitzen.
»Da vorne wird es heller. Vielleicht schwächt sich endlich der Wind ab«, hofft Leonie und Bernd blickt sie von der Seite an.
»Lass uns Daniel besuchen«, schlägt er vor und hustet. Es fühlt sich an wie ein Sprung ins Wasser. Leonie sieht ihn kurz an.
»Ist gut, Bernd. Wir sollten machen, dass wir von hier wegkommen!« Mit einem schnellen Reflex zieht sie nach links, kommt auf die Gegenfahrbahn, steuert sofort nach rechts und fährt mit einem Viertel des Wagens auf der unebenen Bankette weiter. Bernds Kopf wackelt, die Welt draußen zittert. »Das war auch neu, das Loch gerade«, stellt er fest und grinst Leonie an.
»Vielleicht ist es auch die falsche Straße«, sagt sie und lacht. Bernd knufft sie auf die Schulter.
»Ich liebe dich, Leonie.«
Sie lächelt. In ihren grünen Augen erkennt er einen feuchten Schimmer. Sie liebt mich auch, weiß er.

Der Staubsturm hat sich verzogen, die Sicht im Westen ist klar. Lediglich Richtung Soltau hängen noch gelblich-trübe Schleier in der Luft. Leonie biegt rechts ab, fährt die wenigen Meter zur Hofeinfahrt und stoppt. »Siehst du ihn?«, fragt sie vorgebeugt.
»Nein. Er wird hinten in der Werkstatt sein.«
»Wir steigen hier aus«, beschließt sie. »Strom sparen.«
Bernd nickt, fühlt sich schwer wie Blei, zieht die Staubmaske über den Nasenrücken und öffnet die Tür. Die Hitze trifft ihn wie ein Schlag. Er muss kurz innehalten, aufkommender Schwindel lässt ihn wanken. Leonie kommt um den Hyundai herum, steckt ihre Hand unter Bernds Achsel und zieht ihn zu sich.
»Geht’s?«
»Danke, Leonie. Wird schon klappen …«
Sie wischt Schweißperlen von ihrer Stirn. Sofort wachsen neue. Feiner Staub legt sich darauf ab und erinnert Bernd an Honigtropfen. »Das müssen jetzt schon knapp vierzig Grad sein«, ächzt er. »Dabei ist noch nicht mal zehn Uhr.«
»Lass mich alleine gehen, Bernd. Setz dich ins Auto. Ich schalte die Klimaanlage ein …«
»Aber der Strom …«
»Scheiß auf den Strom!«, fällt sie ihm ins Wort. »Heute kommt kein Staubsturm mehr. Die Sonne soll scheinen, da produzieren wir genug Strom! Keine Widerrede!«
Bernd nickt seufzend. Leonie setzt ihn ins Auto, schaltet die Klimaanlage an, küsst ihn und schließt die Tür. Ein Winken und sie macht sich auf den Weg hinter Daniel Birnbaums Hof. Lauter werdendes Hämmern weist ihr den Weg.

Daniel Birnbaum schmeißt den Fäustel in eine Werkstattecke. Es scheppert und Leonie hält sich die Ohren zu.
»Daniel!«
Ohne eine Reaktion setzt er sich auf einen Metallhocker, zieht eine Schachtel aus der Brusttasche, nimmt einen Joint heraus und zündet ihn an. Einen tiefen Zug später dreht er sich zu Leonie.
»Wo ist Bernd?«
»Im Auto. Die Hitze macht ihm zu schaffen.«
»Versteh ich. Habt ihr alles geregelt?«
Leonie nimmt einen Schraubendreher in die Hand und kratzt kleine Rillen in den Staub auf dem Schraubstock. Sie merkt, dass es Buchstaben sind, ein Wort daraus entsteht. Als hätte es darauf gewartet, in genau diesem Moment in den Staub geritzt zu werden. Daniel steht auf, zieht tief am Joint und stellt sich neben Leonie. »Zuhause …«, liest er laut, was da steht. »Ich weiß, was du meinst.« Daniel lehnt sich an die Tischkante und lässt den Blick durch die Werkstatt schweifen, verharrt ein paar Sekunden auf einer großen Bohrmaschine, wandert weiter zum Schweißgerät. Leonie ist sicher, dass er etwas ganz anderes sieht; vielleicht Bilder von Miriam und Lisa … Seine Starre löst sich.
»Was ist nun? Hat Euch der Kreis die Parzellen abgekauft?«, hakt er nach und tritt den Joint aus. Mit dem Zeigefinger wischt Leonie den Staub vom Schraubstock. Kein Zuhause mehr. Die Hitze in Daniels Werkstatt ist drückender als draußen in der Sonne.
»Nein. Der Landkreis wird aufgelöst, Daniel. Schon nächste Woche. Aus Hannover soll ein Verwalter kommen …«
»Wir müssen schnellstens hier weg«, unterbricht er sie. »Am besten morgen schon. Ich hab mir das schon so oder ähnlich gedacht.«
Leonie sieht ihn an und nickt. »Ich bin ganz deiner Meinung. Pack deine Sachen und komm zu uns. Wir sagen jetzt Georg Bescheid.«
Daniel holt einen weiteren Joint aus der Brusttasche. Leonie legt den Schraubendreher auf die Werkbank und sieht sich um. Dann nickt sie.
»Bis später, Daniel.«

Zweiter Akt

Bernd Rittermann döst. Leonie steigt ein, schließt vorsichtig die Tür, drückt sich tief in den Sitz und genießt für einen Moment die kühlen 22 Grad. Noch 60 Prozent Akkustrom. Mehr als genug für den Umweg über Walsrode. Es piept zwei Mal in der Konsole. Bernd stöhnt, lässt die Augen aber zu. Leonie kann das Piepen nicht zuordnen. Es wiederholt sich und schlagartig weiß sie, was das bedeutet. Das Handynetz wurde aktiviert. Mit dem Piepen hat der Hyundai mitgeteilt, dass es eine GPS-Aktualisierung gab. Es wird wohl Mitteilungen der Landesregierung geben, denkt sie und schaltet den Motor an, sieht zu Bernd. Nicht mal das Blut hat er sich abgewischt. Es ist immer noch Mai und schon so heiß. Endlich Zeit, in den Norden aufzubrechen. Wie schon andere vor ihnen. Leonies Hand landet auf Bernds Oberschenkel. Sie hofft, dass er nicht ernsthaft krank wird. Dann registriert sie das Summen in der Mittelkonsole. Jemand ruft an? Vorsichtig nimmt Leonie das Smartphone aus dem Fach und sieht auf das Display. Eine SMS.
„Leonie Rittermann. Rufen Sie bitte diese Nummer zurück. Nennen Sie Geburtsdatum und ihre Personalnummer der Universität Hannover.“
Sie liest noch einmal. Mehrmals. Mehr Worte werden es nicht und sie kann sich keinen Reim darauf machen, hört dafür Bernds Schnarchen. Sieh an, jetzt ist er wirklich eingeschlafen. Leonie drückt den Knopf für die Absenkung der Rückenlehne und Bernds Oberkörper erreicht langsam die Horizontale. Dann wählt sie die Nummer. Nach dreimaligem Freizeichen meldet sich eine weibliche Automatenstimme. Leonie nennt Geburtsdatum und die Personalnummer. Es klickt und eine markante Männerstimme meldet sich.
„Leonie Rittermann, antworten Sie nur mit JA oder NEIN. Haben Sie das verstanden?“
»Ja.«
„Leonie Rittermann, Sie sind Meeresbiologin an der Universität Hannover mit Schwerpunkt Algenzucht?“
»Ja.«
„Sie arbeiten gerade an der Veränderung von Eiweißen, um sie als Ausgangsstoff in 3D-Druckern zur Herstellung von Nahrungsriegeln verwenden zu können?“
»Ja.«
„Sie wissen, dass diese Forschung Grundlage für eine alternative Ernährung sein kann?“
Eine plötzliche Wut steigt in ihr auf. Wer ist dieser Kerl? Leonie muss sich beherrschen. Sie stellt sich vor, ihm ins Gesicht zu springen. »Ja«, sagt sie knapp. Für einen kurzen Moment herrscht Schweigen auf der anderen Seite und es ist, als hörte sie ein schwaches Atmen.
„Leonie Rittermann, kennen Sie den Inselbau der Vereinten Nationen?“
Ihr Puls beschleunigt schlagartig. Natürlich!, hätte sie am liebsten geschrien. Und den ganzen Rest, der ihr dazu einfiel. »Ja!«, antwortet sie lauter als gewollt.
„Gut. Leonie Rittermann … Ihre Fachkenntnisse auf diesem Gebiet sind von wesentlicher Bedeutung und wir haben Sie aufgrund dessen ausgewählt. Sie haben bis morgen früh Bedenkzeit. Wenn Sie akzeptieren, kommen Sie um sechs Uhr zu den Koordinaten die jetzt per SMS kommen. Haben Sie verstanden?“
»Ja.«
„Alles Weitere erfahren Sie morgen. Notieren Sie die Koordinaten und löschen Sie beide SMS! Haben Sie verstanden?“
»Ja.«
„Sie erhalten nun einen QR-Code per SMS. Löschen Sie diese SMS NICHT! Zeigen Sie diesen Code an der ersten Schranke. Verlieren Sie den Code, werden Sie nicht durchgelassen. Haben Sie verstanden?“
»Ja.«
Er legt auf. Leonie schließt die Augen. Es summt. Die zweite SMS. Neugierig mustert sie die Positionsangaben, die ihr nichts sagen. Ein dritter Ton. Das muss der QR-Code sein. Seufzend legt sie das Smartphone zurück in die Konsole und denkt an die Worte des Unbekannten. Sie wurden ausgewählt …
Nach geraumer Zeit gibt der Hyundai einen Warnton aus. Kein GPS mehr und das Handynetz ist nicht mehr aktiv. Bernds Schnarchen ist einem leisen, dauerhaften Röcheln gewichen. Bernd! Hat der Kerl auf der anderen Seite nur mich gemeint? Nein! Das kann nicht sein! Sie wendet in Daniels Hofeinfahrt und fährt, so schnell der Straßenzustand es erlaubt, zu Georg. Die wissen alles über mich. Natürlich … wer die Inseln plant muss alles wissen über die Menschen mit besonderen Kenntnissen … also auch, dass ich verheiratet bin und nur mit Bernd zusammen gehen würde! Leonie entdeckt ihre Augen im Rückspiegel. Sie schimmern feucht. Bernd …

Der Feldweg zu Georg ist in besserem Zustand als die Hauptstraße nach Walsrode. Leonie fährt auf den Hof, lässt den Hyundai auf dem fast weißen Sand ausrollen und deaktiviert den Motor. Sie beobachtet Bernd. Er ist blass. Als läge ein dünnes, weißes Tuch über seiner ganzen Erscheinung. Unwillkürlich legt sie die Hand auf seine Wange, spürt die Wärme darin, schließt kurz die Augen und atmet tief ein.
»Ich lass dich schlafen. Bin gleich wieder zurück«, flüstert sie, steigt aus und geht in Richtung Wohnhaus. Georg besitzt einen der alten Vier-Seiten-Höfe in der Gegend. Mein Rittergut, betont er bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Jetzt ist es still auf diesem Rittergut. Den Pferden hat er die Freiheit geschenkt. Er kann sie nicht mehr versorgen. Bullen- und Schweinezucht sind ebenso verwaist wie die Ziegenhaltung. Leonie wischt den Schweiß von der Stirn und steigt die vier Stufen hinauf. Die Tür steht offen. Sand auf der Fußmatte verdeckt nur schlecht ein fast abgewetztes Willkommen. Es ist still.
»Georg?!«
Niemand antwortet. Leonie sieht sich um, lauscht, mustert die Stallungen. Offene Tore, kleine Sanddünen wachsen in die dunklen Öffnungen hinein. Einer Ahnung folgend, geht sie auf dem gepflasterten Weg aus dem Carré hinaus zu den Fischteichen. Karpfen und Forellen, Georgs Hobby, seit vielen Wochen ausgetrocknet, die Fische verkauft und am Ende verschenkt. So viele Menschen kamen mit Hunger und ohne Geld. Georg war es egal. Dann sieht sie ihn auf der Holzbrücke über der Warnau stehen. Er dreht sich zu ihr, als er Schritte hört; sieht ihr nur entgegen, ohne eine Regung, ohne eine Begrüßung.

»Georg! Was ist los?«
Leonie drückt ihre Schulter gegen seinen breiten Rücken, legt den Arm um den schlanken Hals. Er dreht sich zur Brüstung und nickt zum Bach, der keiner mehr ist.
»Seit letzter Woche endgültig ausgetrocknet. Ich bin durchs Bachbett gelaufen bis nach Ahrsen. Kein Wasser mehr.« Er legt die Unterarme aufs Geländer und starrt zu einem entfernten Punkt. Die Koordinaten kommen Leonie in den Sinn, der unbekannte Anrufer. Sie schämt sich, mehr zu wissen als Georg oder Daniel – und Bernd. Auserwählt zu sein, drückt sich wie eine glühende Nadel in ihr Herz. Warum ich? Nein! Warum wir? Bernd und ich …
»Der Verkauf ist fehlgeschlagen, Georg. Der Landkreis löst sich auf. Es wird ein Verwalter aus Hannover kommen.« Sie überlegt kurz. »Kann gut sein, dass die Wasserrationierung noch restriktiver wird. In Fallingbostel habe ich bewachte Tankwagen gesehen.«
Georg dreht langsam den Kopf. »Wir müssen hier weg. Mich hält hier nichts mehr. Lass uns morgen abhauen.«
Leonie nickt, presst die Lippen zusammen und schaut auf das ausgedünnte Buschwerk links und rechts der Warnau. Vor Jahren noch ein grünes Dickicht; jetzt mit eindeutigem Savannencharakter.
»Wo ist Bernd?«, hakt Georg nach.
»Im Auto und schläft. Die Hitze macht ihm mehr zu schaffen als er zugibt.«
»Morgen Abend fahren wir!«, sagt er bestimmt.
»Ja, du hast recht.«

Dritter Akt

Bernd ist kaum wachzubekommen. Es ist bald Mittag und die Hitze erreicht den Zenit. Als wäre die Erde einige Millionen Kilometer näher an ihr Heimatgestirn gerückt.
»Komm, Bernd! Aussteigen! Wir sind wieder daheim!«
Sie beugt sich über ihn, öffnet das Gurtschloss und spürt mit dem Oberarm Bernds durchfeuchtetes Hemd. Es ist nicht die Hitze auf meinem Rücken, erkennt sie plötzlich, es ist die Hitze in Bernds Gesicht! Schnell legt sie die Hand auf seine schweißnasse Stirn. Kaum zu unterscheiden von der Außentemperatur, stellt sie fest. Der Schreck fährt in ihre Glieder. Nein! Nicht das! Bitte kein Fieber! Mit Schwung legt sie Bernds Arm um ihren Nacken, hebt ihn so gut es geht aus dem Sitz. Nur mühsam reagieren seine Beine, bleiben am Schweller hängen, sind endlich auf dem Teer. Sie zieht.
»Komm, Bernd! Hilf mir ein bisschen!«
Nur vier Schritte zur Tür. Leonie schreit. Bernds schwachen Körper auf der Hüfte, vornübergebeugt, so torkeln beide ins Haus, dann lässt sie ihn fallen. Muss ihn fallen lassen. Mit dem Fuß kickt sie die Tür zu, schaut auf die im Flur hängende Anzeige der aktuellen Stromproduktion. Genug. Mehr als genug. Die Augen auf dem verrenkt vor ihr liegenden Bernd, zieht sie das Smartphone aus der Hosentasche und regelt die Klimaanlage hoch. Höchste Leistung. Dann läuft sie in die Küche, tränkt zwei Handtücher mit kaltem Wasser und ist sofort wieder bei ihm, kniet sich auf den Boden. Ein Tuch in den Nacken, eines auf die Stirn, richtet seine Arme und Beine aus.
»Bernd …« Mehr als ein Krächzen kommt nicht aus ihrem Mund. Wieder geht sie in die Küche, füllt ein Glas mit Wasser, trinkt es leer, lässt Wasser in Bernds Trinkflasche laufen und ist wieder bei ihm. Langsam setzt sie den Trinknippel an.
»Bernd … hier … Wasser! Aus deiner Lieblingsflasche! Schön kühl …«
Leonie registriert das unregelmäßige Atmen, hält zwei Finger an seinen Hals. Fast meint sie, der Puls würde wie ein gereizter Löwe aus dem heißen Fleisch springen.

»Scheiße!«, entfährt es ihr. Sie steht auf, bringt seinen Oberkörper in die Vertikale und erinnert sich an einen DLRG-Griff. So zieht sie ihn ins Wohnzimmer, wuchtet den schlaffen und glühenden Körper auf die Couch. Bernds Hemd rutscht aus der Hose. Leonie sieht die blauen Flecken, keucht, reißt das Hemd auf. Sie sind überall. Aus seinem Mund kriecht leises Röcheln an ihre Ohren. Entferntes Gurgeln. Einer sanft aus dem Boden sprudelnden Quelle gleich. Leonie weiß, was das heißt. Die Lungen sind voller Wasser. Ein Ödem. Das Telefon! Kein Netz! Die Hand erhoben, will sie das Gerät an die Wand werfen. Der QR-Code! Bernds Röcheln lässt sie den Arm herunternehmen. Öffnet er gerade die Augen?
»Bernd! Hörst du mich?!«

Sie will seine Wangen klatschen, ihn schütteln, an den Schultern reißen, das Wasser aus den Lungen drücken. Beatmen? Ich habe keine Ahnung, was zu tun ist, sticht die Erkenntnis durch sie hindurch und sieht Bernd auf einmal lächeln. Den Ansatz eines Lächelns. Vorsichtig hebt sie seinen Kopf ein wenig, setzt ihre Nasenspitze auf seine, bewegt sie langsam hin und her. Darf ich ihn küssen? Aber ja, ich bin eine Immune …
»Jetzt bist du seit Jahren daheim und hast dich doch irgendwo angesteckt, du Trottel …«, flüstert sie und küsst ihn. Wahnsinnig heiße Lippen, heiß wie die Sonne da draußen. Bernds Schmolllippen. Aus seinem Mund kommt ein Wort oder der Bruchteil eines Wortes. Leonie legt das Ohr vor die schmale Öffnung. Es bleibt still. Selbst das Röcheln ist verschwunden. Ruckartig fährt sie hoch und sucht ihren Mann in diesen Augen. Der Blick ist starr geworden. Er ist weg, erstickt … Leonie rutscht auf den Boden, lehnt sich an die Couch. Bernd im Rücken.

Der Tag fließt widerstandslos um Leonie herum, hinterlässt keine Strudel, keine Eindrücke. Sie ist außerhalb jeglicher Zeit. Einen steifer werdenden Körper hinter sich, die tiefer sinkende Sonne vorm großen Fenster. Über den Lärchenboden wandernde Schatten kriechen am Weiß der Wand hinauf. Ein Mann sagt, er sei zufrieden mit den Forschungsergebnissen, dass die Algenzucht potentiell viele Menschen ernähren könnte und … es klingelt irgendwo und klopft. In ihrem Labor existiert keine Klingel …
Ein aufgeregt winkender Mensch steht vor der Scheibe, hämmert mit den Fäusten dagegen. Leise Rufe dringen nach und nach in Leonies Ohren. Sie rafft sich auf, denkt an morgen früh, die Insel … und öffnet die Tür.
»Meine Güte!«, erreicht Daniels Stimme sie aus einer seltsamen Ferne, obwohl er doch direkt vor ihr steht. »Was ist denn los mit dir?!« Leonie tritt beiseite, macht ihm Platz. Er kommt herein, macht sich nicht die Mühe einer ordentlichen Begrüßung und verschwindet direkt im Wohnzimmer. Ein Schrei folgt.
»Bernd!« Hastige Bewegungen sind zu hören, ein Stuhl poltert, dann erscheint er wieder im Flur und starrt Leonie an. »Was zum Teufel ist passiert?!«
»Das Virus …«
»Wie konnte er sich anstecken?! Er war doch immer im Haus! Seit Monaten!«
Leonie atmet tief ein und aus. Wenn sie es nur wüsste. »Keine Ahnung, Daniel, ich …«
Er lässt sie nicht ausreden. »Und jetzt?! Was tun wir jetzt?!«
Sie presst die Lippen zusammen. »Ich muss dir was sagen …«
Er wird bleich, schließt die Augen und reibt mit der Hand über seine Stirn. So kräftig, dass seine Haare zittern wie Birkenzweige im Wind.

»Komm, wir setzen uns …« Leonie nimmt Daniels Hand von der Stirn und zieht ihn in die Küche. »Setz dich!«, fordert sie ihn auf und etwas in ihrer Stimme gefällt ihm ganz und gar nicht. Etwas, das nichts mit unserem Plan zu tun hat, ahnt er. Leonie stellt zwei Gläser Wasser auf den Tisch, lässt sich auf den Stuhl fallen. Daniel zögert, folgt aber Leonies aufforderndem Blick zum zweiten Stuhl und nimmt Platz. »Wann ist das passiert?«, fragt er nach einem Schluck Wasser. Sie räuspert sich.
»Er war heute Morgen schon schwach. Die Hitze, dachte ich zuerst. Als wir von Georg zurückkamen, habe ich ihn kaum aus dem Auto bekommen. Und hier drin ging es nur noch ein paar Minuten …«
Daniel sagt nichts. Dass ein Notruf nichts mehr bringt, weiß er nur zu gut. Er trinkt das Glas auf einen Zug leer und stellt es lauter als gewollt auf die Tischplatte. »Wir müssen ihn beerdigen, Leonie.«
Beerdigen? Wen? Ihr Fingernagel kratzt Dreck aus den Vertiefungen in der Eichenplatte. Bernd hat keine langen Fingernägel … eine zweite Hand schlägt auf den Tisch. »Leonie?« Daniel schwenkt die Hand hin und her.
»Daniel … du musst etwas wissen.«
»Hat es mit Bernd zu tun?«
Sie schüttelt den Kopf und er zieht die Augenbrauen hoch.
»Ich habe einen Anruf bekommen. Sie haben gesagt, ich wurde für eine Insel ausgewählt.«

Vierter Akt

Metall fällt zu Boden. Der Klang ist so nah und langsam öffnen sich Leonies Augen. Ich bin in der … was ist das für ein Ort? Ein Rauschen? Nein, etwas brutzelt. Die Tischplatte aus Eiche unter ihr, voller Längsrisse, Dreck darin. Leonie begreift, dass ihr Kopf auf angewinkelten Unterarmen liegt und jemand mit der Pfanne hantiert. Es riecht nach Bratkartoffeln. Vielleicht die Kartoffeln, die sie aus den Gewächshäusern der Uni mitgebracht hat. Langsam hebt sie den Kopf und sieht den Rücken von Daniel. Vor dem Fenster ist es dunkel.
»Daniel?«
Er dreht sich ihr zu und sie fährt hoch. Steht mit einem heftigen Ruck auf. Der Stuhl kippt und schlägt gegen die Wand. »Bernd!«, ruft Leonie in den Raum und rennt ins Wohnzimmer. Die Couch ist leer. Niemand liegt tot darauf. Habe ich das nur geträumt? Einen Atemzug später spürt sie eine Hand auf der Schulter.
»Ich habe ihn rausgebracht und notdürftig begraben«, sagt Daniels Stimme. Es war also kein Traum. Ich bin so weit weg! Warum sind da keine Tränen in mir?
»Komm, Leonie, iss was! Du hast lange geschlafen.« Daniel zieht sie zurück in die Küche, stellt ein Glas Wasser auf den Tisch.
»Wie spät ist es?«
Er deutet auf die Uhr und schaut in die Pfanne, kratzt mit dem Holzschaber darin herum. Kurz nach ein Uhr in der Nacht. Ein Uhr? Ihr fällt der Anruf ein. Und Daniels aschfahles Gesicht, als er begreift, was sie ihm sagt.
»Ich bin wahrlich nicht der beste Koch. Gegen Miriams Kochkünste komme ich nicht an«, sagt er mit dem Gesicht zu den hängenden Töpfen überm Herd. Leonie trinkt in einem Zug leer. Vor drei Monaten starb Miriam, dann Daniels Tochter Lisa und jetzt Bernd.
»Es ist eine Strafe, immun zu sein«, stellt sie fest.
»Oder Schicksal«, erwidert Daniel, hebt die Pfanne von der Platte, füllt zwei Teller mit dem Inhalt und reicht einen an Leonie.
»Danke … und vielen Dank, dass du Bernd …«
»Lass uns was essen«, unterbricht er sie. »Wir sollten in einer Stunde aufbrechen.« Leonie horcht auf. In Daniels Mund verschwinden zwei Gabeln mit fast schwarzen Kartoffelscheiben. Es hört sich an, als würde er Kräcker kauen.

»Wohin aufbrechen?«
»Nach Munster. Die Koordinaten auf dem Zettel sind nicht weit entfernt. Es ist eine Kaserne in Munster.«
Leonies Gabel sinkt auf den Teller zurück, ihr Blick heftet sich an Daniels Mund. Sie muss sich verhört haben.
»Daniel … wir wollten zusammen nach Tallinn und mit der Fähre nach Finnland. Du, Georg, Bernd und ich …«
Er hört auf zu kauen und sieht sie an. Hinter dem Blau seiner Augen formt sich etwas Kaltes. Leonie fröstelt plötzlich. Sie weicht einige Zentimeter zurück, fast sicher, dass diese Kälte sie gleich anspringen wird.
»Vergiss Georg und Finnland! Dieser Anruf ist unsere beste Überlebenschance!«
»Unsere?! Wie soll das gehen? Du bist nicht Bernd!«, protestiert sie. Daniel isst weiter, trinkt einen Schluck und verzieht das Gesicht.
»Dann bin ich eben jetzt Bernd! Leider kann ich nicht so gut kochen wie er …«

Der helle Fleck der Taschenlampe wandert über den Boden. Sand. Nichts als Sand. Neben der fast ausgetrockneten Wacholderhecke entdeckt Leonie einen unförmigen Hügel. »Hier?« Sie leuchtet in Daniels Gesicht. Er hebt die Hand vor die Augen und nickt. Leonie schaltet die Lampe aus und denkt an Bernd auf der Couch, versucht sich an sein Röcheln zu erinnern. Doch alles ist so weit weg. Kein Bild, kein Geräusch erreicht die Oberfläche. Alles bleibt diffus. Kein Gefühl. Wie ein umgelegter Lichtschalter. Es ist dunkel in Leonies Zimmer.
»Bernd hätte gewollt, dass du lebst. Du weißt das. Ich weiß das. Er hätte alles gegeben, um dich bei diesen Koordinaten zu wissen. Die beste Möglichkeit, aus all dem Mist herauszukommen.«
Leonie lacht verächtlich. »Ein schöner Freund bist du.« Sie schließt die Augen, sorgt für eine Nacht in der Nacht; ohne Sterne – und sucht Bernds Bild in sich. Nur Fetzen, Puzzlestücke.

»Leonie«, sie spürt Daniels Hand auf der Schulter und ekelt sich, als säße eine Hauswinkelspinne auf ihrem Schoß. »Es ist kein Platz mehr für Freunde! Hast du das noch nicht gemerkt? Die auf den Inseln werden es vielleicht schaffen … der Rest wird sterben! Egal, wohin wir gehen!«
»Verstehe, Daniel … und du willst nicht sterben!«
»Nein, natürlich nicht! Ich wollte auch nicht, dass Miriam an diesem Virus stirbt. Und noch weniger Lisa. Was für eine Chance hatten beide?!« Daniels Finger drücken zu. Leonie windet sich aus dem Griff, öffnet die Augen und schaltet die Lampe an, leuchtet in den Himmel. Mehr als genug Sterne.
»Du bist die Forscherin, die sie brauchen! Sag einfach, dass ich Bernd bin! Mehr verlange ich gar nicht! Danach …«
»Und Georg?«
Daniel packt ihre Schultern und rüttelt sie. »Die Zeit ist zu knapp, Leonie! Auf den kaputten Straßen müssen wir langsam fahren. Und wer weiß, welche Hindernisse zwischen hier und Munster herumliegen!«
Sie kniet sich und legt die Hand auf den Sand. Er ist warm. Mit ein wenig Wasser würden schöne Kartoffeln darin wachsen. Mach’s gut, Bernd. Ich liebe dich, denkt sie. Es bleibt still.
»Na gut, Daniel. Fahren wir.«

Fünfter Akt

Ein schwarzer BMW, die Scheiben offen. Die Stürme haben im Laufe der Monate eine breite Düne an seiner Seite wachsen lassen. Der Sand hat das Innere erobert. Leonie sucht nach Personen, aber sie weiß, dass lange niemand mehr nach diesem Wagen gesehen hat. Die Besitzer? Tot oder schon geflüchtet. Es ist einfach nur ein vergessenes Auto am Straßenrand. Wie alle anderen hier, durch die Daniel seit zwei Stunden hindurchmanövriert. Sie ist dankbar, dass er fährt und beobachtet sein Gesicht im hellen Blau der Instrumentenbeleuchtung. Der Akku des Hyundai ist fast voll.
In Dorfmark standen Menschen auf der Straße, mitten in der Nacht. Sie diskutierten heftig. Beim Vorbeifahren trafen sich Leonies Blicke mit denen dieser Menschen. Für einen Moment waren die Frauen und Männer still. Vielleicht planen sie auch den Aufbruch, dachte sie. Daniel hat recht. Wohin könnte man aufbrechen? Die Erde ist eine Kugel. Alle Wege führen ins Nichts. Und obwohl die Uni Hannover nur noch wenige Informationen vom Zustand der Meere bekommt, und diese spärlichen Infos wenig Anlass zur Hoffnung geben, sind die Inseln vielleicht die einzige Rettung. Leonie dreht sich zur Rückbank. Hatte sie alles eingepackt? Oder zu viel? Was für Menschen sind auf so einer Insel? Eine Tür tief in ihrem Inneren öffnet sich. Es kribbelt. Sie spürt Neugier und schämt sich. Bernd fällt ihr ein. So alleine in diesem Sandhaufen neben dem Wacholder.

»Woran denkst du?«, hört sie Daniels Stimme. Vor ihnen taucht ein toter Körper auf. Kaum sichtbar im welligen Sand. Zwei Arme stehen hervor wie Baumgerippe in der Wüste.
»Ich denke an das Leben auf so einer Insel …«
Daniel fährt um die Sanderhebung herum. Die Hände des Toten sind bis auf den Stumpf abgenagt. »Sicher Rabenfraß oder ein Fuchs«, murmelt er.
»Sie essen unsere Toten«, stellt Leonie fest.
»Das ist nur fair. Wir haben sie gegessen, nun essen sie uns.«
»Am Ende werden sie ebenso sterben«, erwidert Leonie und sieht auf die Uhr. Kurz nach halb vier. Seien Sie um sechs Uhr bei den Koordinaten … »Kommen wir rechtzeitig an?«
»Mach dir keine Sorgen. Ich umfahre Soltau im Süden.«
Leonie mustert Daniels Profil. Er hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Bernd. Wie sollen wir durch eine Passkontrolle kommen? Georg fällt ihr ein. Vielleicht packt er gerade, trinkt einen frühen Tee, freut sich auf die gemeinsame Fahrt nach Tallinn. Zusammen sind wir stark, sagte er vor zwei Monaten. Zwei Monate Vorräte sammeln, Wasser von den Rationen abknapsen, in Kanister füllen, Reinigungstabletten besorgen, aus der Uni Erste-Hilfe-Material klauen … und nun? Der Elektromotor summt. Leonies Augen fallen zu.

»Leonie! Wach auf! Wir sind da!«
Schon wieder eine andere Realität? Wo sind wir? Starke Scheinwerfer leuchten jeden Winkel auf der Straße aus. Leonie hält eine Hand vor die Augen. Abwechselnd am linken und rechten Straßenrand abgestellte Betonhindernisse zwingen Daniel zur Slalomfahrt. Auf beiden Seiten fast abgestorbene Kiefern, dürre Birken und Sandhügel. Es ist laut. Selbst im Auto hört man deutlich das Jaulen und Pfeifen. Ein blau uniformierter Mann winkt ihnen vor dem letzten Hindernis zu, bedeutet Daniel anzuhalten.
»Das ist weder eine Polizei- noch eine Bundeswehr-Uniform«, behauptet Daniel. Leonie zuckt mit den Schultern. Ihr ist egal, wer welche Uniform trägt.
»Vielleicht NATO oder so was«, flüstert sie und greift in ihren Brustbeutel, zieht Ausweis und Smartphone hervor, wischt zur SMS-App. Der QR-Code. Das Ticket zu einer der Inseln. Daniel stoppt, lässt die Scheibe herunter.
»Guten Mor …«
»Bitte den QR-Code!«, fordert der Uniformierte sie auf. Er mustert Daniel, dann Leonie. Zügig reicht sie das Gerät nach links, vorbei an Daniels Nase. Der Mann nimmt es ihr ab, drückt es auf einen Scanner an seinem Handgelenk. Ein Foto blendet auf. »Geburtsdatum und Personalnummer, bitte!«
»16. April 2001, UH160401R20439!«
»Bestens«, sagt die Uniform und reicht ihr eine rote Marke. Leonie greift zu, presst die Finger zur Faust. Das Smartphone wirft er in eine gelbe Kiste hinter sich. »Frau Rittermann, steigen Sie bitte aus, gehen Sie rechts auf dem Pfad durch die Hecke! Dort werden Sie erwartet! Bitte lassen Sie alles Gepäck im Fahrzeug! Sie benötigen es nicht! Danke für Ihr Verständnis!«

Daniels Gesichtszüge erstarren. Hastig dreht er den Kopf zu Leonie, sucht ihren ausweichenden Blick. »Leonie! Was soll das hier? Ich bin dein Mann! Sag ihm, dass ich dein Mann bin! Bernd Rittermann! Ich bin Mathematiklehrer! So was braucht man ja wohl auf euren Inseln, oder?!« Den Kopf wieder zum Uniformierten gedreht. »Was soll das?!«, schreit er aus dem Wagenfenster. »Sie ist meine Frau! Wollen Sie mir meine Frau wegnehmen?!« Daniel löst das Gurtschloss, öffnet die Wagentür. Der Uniformierte sieht hinter sich und nickt. Von der Seite kommen zwei weitere Männer dazu, vorher völlig unsichtbar. Eine Hand greift zur Tür, reißt sie auf. Daniel fällt fast, kann sich gerade noch fangen, wird mit verdrehten Armen auf die Seite geführt und verschwindet zusammen mit den zwei Männern im Buschwerk. Zwischen dem Rauschen und Pfeifen schreit Daniel ihren Namen. Die Furcht treibt Tränen in Leonies Augen. Sie schluckt, fängt den Blick des Uniformierten auf und weiß, dass es keinen anderen Weg gibt als durch die Hecke. Nur für sie ist dort Platz. Jetzt oder nie! Eine Sekunde der Entscheidung. Sie umklammert die Marke, nickt und geht hindurch. Tritt auf einen lichtüberfluteten Platz. Fünf große Transporthubschrauber. Einer ist startbereit, die Rampe auf dem Boden. Beide Rotoren beginnen sich zu drehen. Es sind die Motoren, die pfeifen, erkennt sie. Jetzt geht es los. Eine Heerschar Ameisen wälzt sich durch ihren Unterleib. Sie hat Daniel schon vergessen und denkt an Bernds Grab. Wieder ein Uniformierter. Wie aus dem Nichts. Er hält die offene Hand vor Leonie. Sie versteht und legt die rote Marke hinein. Er lächelt und schiebt sie in den hell erleuchteten Laderaum.

Leonies erster Flug in einem so großen Hubschrauber. Alles vibriert. Boden, Seitenwände. Sie drückt sich an ihre Nachbarin, von der sie nicht mal den Namen weiß. Seit etwa einer Stunde sind sie unterwegs. Aus der vorderen Kabine tritt eine Frau, ebenfalls in eine blaue Uniform gekleidet. Sie tippt auf ihren Kopfhörer, zeigt dann nach oben. Zweiundzwanzig Menschen sitzen im Laderaum, blicken hoch. Dort hängen Kopfhörer über jedem Platz. Leonie nimmt ihren vom Haken und setzt ihn auf. Sofort wird es angenehm ruhig. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie die zitternden Hände ihrer Nachbarin. Leonie legt den Arm um sie und lächelt sie an. Vielleicht ist es gar kein Lächeln, denkt sie, nur mehr eine verzweifelte Mimik.

»Guten Morgen, ich bin Pauline Fronmeyer, eine Polizistin im Dienst der Vereinten Nationen«, sagt die junge Frau. »Wir erreichen in zwanzig Minuten Helgoland. Dort steigen Sie aus und werden von Kolleginnen und Kollegen zum Pier gebracht. Haben Sie bitte keine Angst. Von dort geht es mit einem U-Boot weiter nach Spitzbergen. Im U-Boot können Sie duschen, schlafen, Sie erhalten Kleider und können sich über alles Kommende informieren. Die Reise wird drei Tage dauern. Wenn sie Probleme mit Seekrankheit haben, melden Sie sich bitte umgehend beim Bordarzt.« Polizistin also, denkt Leonie. Pauline Fronmeyer blickt alle im Laderaum an, lächelt jeder und jedem zu. »Ich wünsche Ihnen – uns allen – eine hoffnungsvolle Zukunft.«
Leonie zieht den Kopfhörer ab, hängt ihn auf. Eine hoffnungsvolle Zukunft … ohne Bernd … wieder öffnet sich diese Tür in ihrem Inneren. Sie beginnt heftig zu zittern. Die Tränen brechen endlich aus ihr hervor.

 

»Innerhalb der winzigen Elite der Milliardäre, die die Cloud-Computer betreiben, herrscht der laute, zuversichtliche Glaube, dass die Technologie sie eines Tages unsterblich machen wird. Google zum Beispiel finanziert eine große Organisation mit dem Ziel, "den
Tod zu überwinden". Und es gibt viele Beispiele mehr. Ich kenne einige der Hauptbeteiligten der Anti-Tod- oder posthumanen Bewegung, die im Herzen der Silicon-Valley-Kultur sitzt …

Die Arithmetik ist klar. Falls die Unsterblichkeitstechnologie, oder auch nur eine Technologie der drastischen Lebensverlängerung zu funktionieren beginnt, müsste sie entweder auf die kleinste Elite beschränkt bleiben oder wir müssten aufhören, Kinder in die Welt zu setzen, und in eine unendlich fade Gerontokratie übergehen. Dies sage ich um hervorzuheben, dass in der digitalen Technologie häufig, was radikal scheint - was auf den ersten Blick wie kreative Zerstörung wirkt -, sich in Wirklichkeit, wenn es tatsächlich umgesetzt würde, als hyperkonservativ und unendlich fade und langweilig herausstellt. Eine weitere populäre Idee ist, unser Gehirn in die virtuelle Realität "upzuloaden", damit wir für immer in einer Softwareform weiterleben könnten. Und das trotz der Tatsache, dass wir noch nicht einmal wissen, wie das Gehirn funktioniert. Wir wissen nicht, wie Ideen durch Neuronen repräsentiert werden. Wir stellen Milliarden von Dollar bereit, um das Gehirn zu simulieren, dabei kennen wir jetzt noch nicht einmal die grundlegenden Prinzipien, nach denen es funktioniert. Wir behandeln Hoffnungen und Glaube, als wären sie etablierte Wissenschaft. Wir behandeln Computer wie religiöse Objekte …« (S. 56)
aus: Jaron Lanier: Für einen neuen Humanismus. Wie wir der digitalen Entrechtung entkommen. Rede zum Empfang des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 12. Oktober 2014 in der Frankfurter Paulskirche, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2014, S. 42 ff. hier zitiert aus: Arbeit, Konsum und Freiheit – Schiller, Marcuse, Lanier: „Der eindimensionale Mensch“ (https://www.wortkrieger.de/threads/...useLanier-„der-eindimensionale-mensch“.54897/)

Die Couch ist leer. Niemand liegt tot darauf. Habe ich das nur geträumt?

Kein GPS mehr und das Handynetz ist nicht mehr aktiv.

Hab ich schon mal eingestanden, dass ich gar kein "Handy" besitze, auch gar nicht will (wiewohl im vorigen Jahrtausend ein solches Gerät sich als nützlich erwies, ausgebüchste Hunde wenn schon nicht von einer Autobahn, so doch von einer gleichwertig anzusehenden Umgehungsstraße zu holen).
Ich bin und bleib halt „unerreichbar“ … aber das ist ein Werk,

lieber Morphin,

das es in sich hat und eine gelungene Strophe in der mir bekannten Katastrophen-Literatur bildet. Hut ab – und doch zugleich ein wenig Flusenlese.

Das rechte Vorderrad taucht abrupt in ein tiefes Loch, Rahmen mitsamt Radaufhängung krachen hinein, treffen auf Widerstand, ein harter Schlag kommt. Grünteebecher, Ordner, Bernd Rittermanns Kopf, so gut wie alles im Fahrzeug folgt den Gesetzen der Physik.
Was natürlich eine Untertreibung ist hinsichtlich des „kleinen“ Restes der Welt

Einem wuchtigen Eichenbalken ähnlich, trifft ihn die Hitze.
Gewagter Vergleich, selbst wenn jeder von uns auf seine Weise ein Brett vorm Kopf hat oder gegen die Wand läuft. Hitze hat so wenig Balken wie das Wasser (an sich). Aber mir fällt gerade nur der Blitz ein.

Feiner Staub legt sich darauf ab und erinnern Bernd an Honigtropfen. »Das müssen jetzt schon knapp vierzig Grad sein«, ächzt er.
Da war wohl eine plurale Fassung im Wettbewerb um die Formulierung und hat sich für die Niederlage gerächt
Staub – singulär, folglich „erinnert Bernd an Honig…“ (wahrscheinlich haben die Tropfen den Plural erzeugt)

Et klappt mit dem Konj. II! Nun frohlocke und jubele!

Für einen kurzen Moment herrscht Schweigen auf der anderen Seite und es ist, als hörte sie ein schwaches Atmen.
Selbst, wenn es etwas schwieriger wird
»Leonie«, sie spürt Daniels Hand auf der Schulter und ekelt sichKOMMA als säße eine Hauswinkelspinne auf ihrem Schoß. »Es ist kein Platz mehr für Freunde!

Er ist blass. Als läge ein dünnesKOMMA weißes Tuch über seiner ganzen Erscheinung.
(Beide Attribute/Adjektive sind gleichrangig. Die Gegenprobe mit „und“ widerspricht mir nicht.)

Dann sieht sie ihn auf der Holzbrücke über die Warnau stehen.
Dativ, über „der“ Warnau, „dem“ Fluss

Er dreht sich zu ihrKOMMA als er Schritte hört; sieht ihr nur entgegen, ohne eine Regung, ohne eine Begrüßung.

Sie ist dankbarKOMMA dass er fährt und beobachtet sein Gesicht im hellen Blau der Instrumentenbeleuchtung.

»Sie essen unsere Toten«, stellt Leonie fest.
»Das ist nur fair. Wir haben sie gegessen, nun essen sie uns.«
Ist humaner als die Nachricht, die mich vor Kurzem ereilte: Bonobos – unsere armen Vettern – sind als Leckerbissen entdeckt ...

Aus der vorderen Kabine tritt eine Frau, in dieselbe blaue Uniform gekleidet.
Kann eigentlich nicht sein – dann sind in der Uniform zwo Frauen. Sie tragen halt die/eine gleiche Uniform

Vielleicht ist es gar kein Lächeln, denkt sie. Vielleicht es nicht mehr als eine verzweifelte Mimik.
Da wurd Dear die Wiederholung langweilig ...

Haben sie bitte keine Angst. ,,, Im U-Boot können Sie duschen, schlafen, sie erhalten Kleider und können sich über alles Kommende informieren.
(geht noch weiter im Anschluss …
und findet eine Variante)
»Ich wünsche ihnen – uns allen – eine hoffnungsvolle Zukunft.«

Puh, jetzt hab ich mir'n Bierchen verdient.

Bis bald

Friedel

 

Hallo @Morphin,

es ist immer wieder spannend zu lesen, wie du eine gar nicht so weit entfernte Zukunft beschreibst. Besonders in diesem Text bin ich auf viele Hintergrunddetails gestoßen, die du organisch neben der Handlung eingebaut hast. Die Staubstürme, die Strom- und Wasserrationierung, die ausgetrockneten Fischteiche ... ich kann gar nicht alle aufzählen.

Bernd Rittermann sieht das Loch nicht kommen.
Bernd Rittermann nimmt die ersten Wörter im allerersten Satz ein, das ist auch im zweiten und sogar im dritten Akt der Fall. Damit wird suggeriert, dass er die Hauptperson ist, was sich als clevere Irreführung herausstellt. Leonies Innenansichten sind deutlich spürbar, besonders kurz nach Bernds Tod.
Gegen Ende wird es jedoch vorhersehbarer, was passieren wird: Dass Daniel nicht einfach mitkommen kann, konnte ich mir schon denken. Aber es hat mich nicht besonders gestört.
Leonie ist sicher, dass er etwas ganz anderes sieht; vielleicht Bilder von Miriam und Lisa …
Ich finde es gut, dass Miriams und Lisas Schicksal hier noch nicht erwähnt wird, sondern erst später. Man behält Fragen im Kopf, es bleibt spannend. Die Auflösung dieses kleinen Nebendetails wird auch verraten, was ich wichtig finde, weil ich sonst enttäuscht wäre.

Ansonsten nur Kleinigkeiten:

»Wir steigen hier aus«, beschließt sie. »Strom sparen.« [Zeilenumbruch]
Bernd nickt, fühlt sich schwer wie Blei, zieht die Staubmaske über den Nasenrücken und öffnet die Tür.
Den Perspektivenwechsel würde ich hier mit einer neuen Zeile kennzeichnen.
Tun Sie das nicht, lege ich auf und Sie werden nie wieder etwas von mir hören.
Ich weiß nicht, woran es liegt, aber irgendwie klingt dieser Satz ein wenig zu kindisch.
»Georg … was ist los?«
Entweder:
Georg … Was ist los?
Oder:
Georg, … was ist los?
»Komm, Bernd! Hilf mir ein bisschen!«
Nur vier Schritte zur Tür! Leonie schreit![.]
Das würde ich anders formulieren, vielleicht mit einem Punkt. So hat es mich irritiert, weil ich bei so einem Satz kein Ausrufezeichen erwarte und es schon sehr viele nacheinander sind.
»An was denkst du?«
Woran denkst du?

Viele Grüße
Michael

 

Servus @Friedrichard,

hier ist das Bierchen :anstoss: und besten Dank fürs Lesen, Kommentieren und Korrigieren. So weit alles ausgebessert. Hab auch noch - wie üblich - das eine oder andere zusätzlich gefunden oder geändert, weil ein Gedanke besser war als gestern Abend.

Das mit den Bonobos ... man will sich zunehmend zurückziehen und die Rollläden unten lassen ... ich werde noch sprachlos.

Ich habe einen Song zu dem Text entdeckt, der gut passt: Stone River von J.J. Cale. Kam mir wie angegossen vor. Sollte es mal Kurzfilme geben, wird der Song dazu laufen.

Was wäre ich nur ohne dich ... :kuss:

Bis in Bälde
Griasle
Morphin

 

Guten Morgen @Michael Weikerstorfer,

gestern Abend war ich zu kaputt, um noch mehr zu denken oder zu schreiben. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Deine Anmerkungen habe ich umgesetzt, danke dafür.

Ich hatte erst eine andere Umgebung geplant (ist auf einen weiteren Teil verschoben). Für diesen Plot habe ich dann spontan die Heide gewählt. Habe Verwandtschaft da oben und in Jugendjahren viele Sommerferien dort verbracht. Der sandige Boden, das Bächlein (Warnau), eine vertraute Umgebung. Seit Jahren sinkt dort der Grundwasserspiegel, weil Hamburg Wasser abpumpt. Dann sah ich letztens den Bericht der Cola-Fabrik, die das Grundwasser in Flaschen abfüllt und einen dritten Brunnen bohren will ... das war wohl ausschlaggebend für den Plot. Etwas zu verlieren, geht so einfach ...

Meine Frau fragte mich, ob ich was mit diesen Texten erreichen wolle. Na ja, die Grundidee war ja a) auf den Roman hinzuweisen, der 110 Jahre später spielt und b) eine Herleitung für dessen Handlung zu sein. Aber inzwischen hat sich da noch was eingeschlichen ... ich schätze, du weißt, was ich meine. Ein vielleicht ... obwohl ich es weit von mir schiebe.

Den Boden bereiten für einen Wandel, der gar nicht schnell genug vollzogen werden kann? Bisher war ich der Meinung, Kunst - in welcher Form auch immer - sollte beobachten, reflektieren. Ohne den Finger zu heben. Angesichts der Lage muss man das über Bord werfen. Wir stehen alle in der Pflicht. Auch wenn viele es ignorieren wollen/werden/können. Es führt kein Weg daran vorbei. Zumindest kein gemeinsamer.

Grüße und einen schönen Tag.

Morphin

 

Gut. Leonie Rittermann … Ihre Fachkenntnisse auf diesem Gebiet sind von wesentlicher Bedeutung und wir haben Sie aufgrund dessen ausgewählt. Sie haben bis morgen früh Bedenkzeit. Wenn Sie akzeptieren, kommen Sie um sechs Uhr zu den Koordinaten die jetzt per SMS kommen. Haben Sie verstanden?“

Das muss der QR-Code sein. Seufzend legt sie das Smartphone zurück in die Konsole und denkt an die Worte des Unbekannten. Sie wurden ausgewählt
...
… Die Couch ist leer. Niemand liegt tot darauf.

Hoppla,

Morphin,

da komm ich statt zu Deinem nächsten Beitrag nochmals zu dem fast biblischen Thema – es kann ja Zufall sein, dass Du hebräische Namen einflichst und selbst , wenn heute niemand einem Gott oder jenem höheren Wesen, das wir alle verehren (frei nach dem Dr. Murke Heinrich Bölls), anrufen wird – oder anders gewendet, es zugeben wird, mit jenem Unbekannten zu kommunizieren (da sind die modernen Telefone schon vor!). Religion kann schon des Wortinhalts wegen keine Privatsache sein.

Aber wenn keine Hoffnung mehr besteht, so denke ich, ist der Dreiklang Glaube, Liebe (von der egoistischen Seite bis hin zur Solidarität – nix anderes meint „Nächstenliebe“), Hoffnung, die in jeder Illusion auf bessere Zeiten mitschwingt.

Ein Problem des Wassers, das uns alle angeht, erwähnstu eher nur am Rande hinsichtlich des Grundwassers, das immer schon als Allmende galt und an der sich heute Konzerne bereichern.

Da ist der Benzinpreis ein Klacks. Benzin löscht keinen Durst! Aber da, wo keine Hoffnung mehr besteht, kommen schon Glaube und Hoffnung wie von alleine und alles fängt mit der Frage an „warum ich“. Interessant – zumindest für mich – ist da vor allem, dass am Toten Meer tatsächlich uralte Ruinenstätten liegen, die wahrscheinlich als Sodom und Gomorrha Eingang ins Alte Testament gefunden haben.

Die Einsicht

»Es ist eine Strafe, immun zu sein«, stellt sie fest.
hat was alttestamentarisches. Man schaue nur, wie lange Moses rumgezappelt hat, bevor er seinen "Job" übernahm und das auch nur mit Aaron - wahrscheinlich der Mann, der das Goldene Kalb am Sinai einführte, als die ghöttliche Botschaft länger auf sich warten ließ als erwartet.

Nur mühsam reagieren seine Beine, bleiben am Schweller hängen, sind endlich auf dem Teer. ...
Ich erinner mich noch eines Sommers Ende der 1950er (eher 59, statt 58), als die geteerten Straßen nicht mehr zu betreten waren vor Hitze (schon gar nicht bar-fuß) – die Luft flimmerte & eigentlich wars ein erster Hinweis auf den Wandel … und kurz darauf hatt’ ich einen Comic (weiß den Titel nicht mehr) gelesen, in dem der individuelle Straßenverkehr per Schiene gesteuert wurde (was natürlich alles andere als der Devise „freie Fahr für freie Bürger“ entspricht).

Es ist also alles schon vorbereitet … nur ist es doch schöner, in gewohnten Bahnen alles laufen zu lassen.

Sind wir nicht alle irgendwie Gewohnheitstiere?,
will ich mal schließen.

Bis bald und schönen Restsonntag

Friedel

 

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