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Serie Exodus: Vogelgezwitscher

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Seniors
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10.02.2000
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Exodus: Vogelgezwitscher

Erster Akt

Vogelgezwitscher? Die Augen noch geschlossen, spüre ich bereits den Schmerz hinter der Stirn und will liegenbleiben. Liegen und an die Decke starren, an eine ferne Welt denken; noch mit allen Gliedmaßen im Morast meiner Träume steckend. Erwachen ist inzwischen eine zähfließende Mure. Nur die Schmerzen sind wie ein Geflecht in die Realität eines neuen Tages. Nach vier oder fünf Stunden auf diesem jämmerlichen Zustand einer Matratze peinigt mich mein Rückgrat derart, dass aufstehen die einzige Möglichkeit ist, diesen Schmerzen zu entkommen. Und dem Vogelgezwitscher. Die Erkenntnis, woher dieses Geträllere kommt, schiebt sich in mein Wachwerden. Ich verfluche mich. Schon wieder vergessen, das Fenster zuzumachen! Wann bin ich so vergesslich geworden? Das macht mich wütend! Zu hastig drehe ich die Hüfte und will beide Unterschenkel vors Bett stellen. Die Antwort kommt unmittelbar und vehement aus den Lendenwirbeln, sticht nach allen Seiten, lässt jeden unnützen Muskel zucken. Mehrmals. Unkontrolliert. Ich stöhne laut. Durch das gekippte Fenster, dem verdammten Vogelgezwitscher entgegen. Um allem noch eins draufzusetzen, drücke ich mich trotzig dem Schmerz entgegen, richte auf, was von mir übrig ist, und sehe zwei Füße langsam auf den alten Lärchenboden rutschen. Mit dem Hintern noch auf der Bettkante, ist es plötzlich still. Hier drin und draußen. Nachbars Akku ist leer, hoffe ich und greife nach der Kommodenkante, ziehe mich vorsichtig hoch. Einatmen. Ausatmen. Strecken. Den hereingewehten Sand unter den Füßen spüren. Also doch keine sandfreien Tage … Wetterdienste sind überflüssig geworden und das feinmaschige Netz vor dem Rahmen so gut wie nutzlos. Die Pein in den Muskeln versiegt zusehends und lässt mich hoffnungsvoll nach dem Fensterbeschlag greifen. Zudrücken, schließen. Es knirscht. Sand in jedem Falz. Verflucht!

Im Bad hänge ich das Altherrengemächt über die Kante des Waschbeckens und lasse laufen was kommt. Viel ist es nicht und das auch noch stoßweise. Ein kleines Glas für die Wasseraufbereitung. Prost, sage ich laut und schaue in den Spiegel. Ich weiß nicht, was Dreck auf dem Glas ist und was maligne Inseln auf zerfurchter Haut. Dann klickt es hinter mir, piept zwei Mal. Der Strom ist da. Sofort denke ich an rasieren, lasse es bleiben und drücke eine Kaltwasseranforderung. Das Magnetventil öffnet, spendet eine Handschale kühles Nass. Ab damit ins Gesicht. Noch eine Ladung hinterher. Das Handtuch spare ich mir, genieße lieber nasse Haut, lecke mit der Zunge jeden erreichbaren Tropfen ab. Starre in den Spiegel. Es muss Sonntag sein, vermute ich. Ansonsten wäre ich nicht von Nachbars Vogelgezwitscher geweckt worden. Er spart die ganze Woche Energie, um seinen Sonntag so angenehm wie möglich zu beginnen. Das Ordnungsamt interessiert sich nicht für Vogelgezwitscher am frühen Sonntagmorgen, es hat genug andere Probleme. Seit er die Außenlautsprecher unter das Wellblech seiner Veranda montiert hat, geht das schon so. Und das war … ich stutze. Krampfhaft überlege ich, wann das gewesen ist … es fällt mir nicht ein. Egal. Ich bin wach, ziehe mich jetzt an und kontrolliere Strom- und Wasserkonto auf dem Tablet. Alles in Ordnung. Zeit für einen Kaffee.

Zwei Stunden lesen. Alle zehn Minuten einen kleinen Schluck von der kostbaren schwarzen Brühe schlürfen. Nicht zu viel. Gegen elf Uhr klingelt es an der Tür. Es zu ignorieren, gehört zu meinem Standardprotokoll. Dann erneutes Klingeln. Ausdauernder. Und ein drittes Mal. Mein Blick fällt in die Kaffeetasse. ‚Leck mich‘ steht auf der rissigen Innenseite. Nur meine Nachbarin von der anderen Straßenseite klingelt so ausdauernd. Duaa ist ihr Name. Sie kommt wegen meines Kaffees. Traut sich nicht jeden Tag, aber heute hält sie es ohne wohl nicht mehr aus. Wieder die Klingel. Also stapfe ich in den Flur, öffne die Tür, löse das Netz vom Klettverschluss und pfeife. Sie kommt um die Hausecke gestürmt. Wohl schon auf dem Heimweg. Schwer atmend drückt sie sich an mir vorbei, direkt in die Küche und lässt sich auf den vergilbten Lederstuhl fallen. So gut es geht, hefte ich das Netz an den Rahmen und sondiere die Zarge. Kaum Sand. Tür zu, abschließen und noch einmal durchatmen. Dann gehe ich in die Küche. Sie hat inzwischen den Hidschab abgenommen. Prächtiges, volles Haar, bis zur Hüfte reichend, füllt meinen Sichtkreis aus; so kommt es mir jedenfalls vor. Es ist schwarz wie das Universum vorm ersten Licht.
»Guckst wieder mein Haar, was?«
»Ja«, gestehe ich und setze mich ihr gegenüber. »Es ist wunderschön.«
Sie zeigt eine ungebrochene Reihe weißer Zähne, wechselt aber abrupt zum Grund ihres Kommens.
»Machstu Kaffee? Ich brauch Kaffee!«
»Du weißt ja, wo die Maschine steht.«
Duaa nickt, steht auf und wirft einen Blick in meine Tasse, dann auf das Tablet. Der Wetterbericht der nächsten Tage.
»Haben gesagt, dass kein Sand kommt. Heute Nacht doch Sand. Die erzählen Scheiße.«
»Jaja … hab vergessen, das Fenster zuzumachen. Nachher muss ich wieder fegen.«
»Ha! Fenster offen! Heute Morgen wieder viele Vogele gesungen! Hab‘s gehört. Hat dich geweckt, was?«
Sie steht vor der Kaffeemaschine, stellt eine große Tasse darunter und drückt zwei Mal.
»Ich habe nur noch zehn Tüten Kaffeebohnen, Duaa. Sei sparsam. Wenn die leer sind, war es das mit Kaffee trinken beim Nachbarn.«
Sie schüttelt die Mähne und lacht.
»Du bist einzige Mann mit gut Kaffee weit und breit. Und ich einzige Frau, die kommt. Wir können heiraten.«
So was wie ein gepresstes Lachen entfährt mir spontan. Ich sehe sie lange an.
»Bin ich schön?«, will sie mit forschem Blick wissen.
»Das bist du. Ohne Zweifel.«
»Aber bissel dick«, setzt sie nach, hält die Hand über den Kopf und dreht sich einmal um die eigene Achse.
»Schönheit hat nix mit dick oder dünn zu tun.«
Sie sieht mich an, nimmt die volle Tasse, setzt sich wieder.
»Du bist alter Mann. Kannst Vater von Vater sein …«
»Opa …«
»Ja, Opa.« Sie hebt die Tasse an den Mund und trinkt vorsichtig, setzt ab. »Und ich bin alte Frau.«
Ich seufze. »Oh je, du bist 45!«
Sie starrt mich mit aufgerissenen Augen an.
»Ja! 45 Jahre! Alte Frau! Niemand will alte Frau …«
Ich atme tief und hörbar ein, denke an den Sand und sehe dann ihre schwarzen Haare. Ganz unvermittelt legt sich ihre Hand auf meine.
»Warum du weinst, alter Mann?«
Was sagt sie? Ich weine? Zweimal blinzeln. Mein Blick trübt sich ein. Tatsächlich.
»Weiß nicht«, sage ich wahrheitsgemäß. »Wirklich, ich weiß es nicht. Vielleicht … der ganze Staub im Fenster?«
»Du bist allein. Wie ich. Aber allein nicht gut«, erklärt Duaa. Ihr Blick wandert über den Tisch, bleibt aber an nichts hängen. »Und der ganze Sand! Bin weg aus Mauritanie wegen Sand. Jetzt kommt Sand nach Europa, nach Deutschland! So viel Scheiße!«
Sie schließt die Augen und lehnt sich an, legt den Kopf nach hinten. Fast berühren die Haare den Boden. Ich schweige. Was soll ich auch dazu sagen? Duaa hat recht. Ruckartig nimmt sie den Kopf hoch, fixiert mich mit dunklen Augen, zieht das Tablet heran.
»Hast du gelesen? UNO baut Inseln! Seit paar Jahren. Jetzt erst sagen sie uns. Und dass nur die Junge dürfen auf Inseln! Aber nix wir Alte!« Ihre Kohleaugen beginnen zu glühen.
»Du bist nicht alt«, betone ich. Duaas Augen sind magnetisch. Voller Feuer. Für einen kurzen Moment. Dann seufzt sie und alles Glühen erkaltet.
»Gut, ja, bin nicht so alt, aber kann nix. Koche, putze, bete, bei dir Kaffee trinke und quatsche. Lange Haare und schön nicht genug für Insel.«
»Niemand von uns kommt auf so eine Insel, Duaa«, beginnt mein Versuch, sie zu trösten. »Dort brauchen sie Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler …«
»Weiß ja«, unterbricht sie mich. Sie zieht jeden einzelnen Finger lang. Ausnahmslos alle geben ein knackendes Geräusch von sich. »Überall Sand«, fährt sie fort. »Afrika, Europa, Amerika. Sogar Peking! Hab ich gesehen in Fernseh. Keine Menschen mehr in Peking.«
Sie nimmt einen großen Schluck, setzt wieder ab, schaut in die Tasse. Vier Jahre ist Duaa nun in Deutschland, in diesem Dorf, wohnt in einer kleinen Wohnung gegenüber. Eine der Wenigen, die es noch aus dem Maghreb nach hier geschafft haben. Jetzt kommt niemand mehr. Dort töten der Sand und die Hitze. Und hier? Wir wissen es alle. Was bleibt uns übrig? Duaa trinkt leer.
»Was tust du heute?«, will sie wissen, richtet sich auf, greift mit beiden Händen in die Haare und lässt sie über die Handflächen gleiten. Mir bleibt nichts als Bewunderung.
»Dir zuschauen.«
Duaa lacht, steht auf und trägt die Tasse zur Spüle.
»Du hast kein Geschirr. Alles gespült? Dein Wasser steht auf grün. Warum hast du viel Wasser?«
»Ich wasche mich nicht so oft.«
Verwundert schaut sie mich an.
»Was ist ‚nicht so oft‘?«
»Einmal in der Woche. Das reicht.«
Sie verzieht das Gesicht. »Also du stinkst. Dann ich dich nicht heiraten.«
»Als wenn du mich heiraten würdest. Ich bin ein Opa. Vergiss das nicht.«
Sie nickt.
»Lil’asaf … es tut mir leid, mein Opa. Ich darf dich nicht heiraten, weißt du? Mein Mann ist verlore gange in Meer. Vielleicht er lebt noch irgendwo.«
Sie kommt dicht an mich heran und streicht über meine Glatze. Ich nicke gegen ihre Brust.
»Ja, ich weiß, Duaa. War nur ein Witz.«
»Ich geh jetzt. Is besser.« Mit dem Finger drückt sie mein Kinn nach oben. »Du bist allein. Ich bin allein. Wir alle allein.«
Sie nimmt den Hidschab vom Tisch, zieht ihn über, langsam und korrekt, zwinkert mir zu und geht.

Zweiter Akt

Wind kommt auf. Und mit ihm setzt das Knirschen im Mund ein. Genervt zerre ich die Maske aus der Hosentasche, ziehe sie über, prüfe den Sitz. Rasieren ist zwingend erforderlich. Bartwuchs macht undicht. Dann klingele ich bei Herrn Vogelgezwitscher. Er hat eine Automatiktür. Das Netz rollt sich ein und das Stahltürblatt schwingt auf. Es ist kühl im Flur.
»Tür zu!«
Kopfschüttelnd komme ich seiner Aufforderung nach, was ich sowieso getan hätte, aber nicht so zackig. Vogelgezwitscher heißt eigentlich Kevin Lohmann, aber wir Nachbarn bevorzugen die Alternative. Er wohnt seit zehn Jahren im Dorf, hat das Haus nebenan von einem verstorbenen Ingenieur übernommen und damit auch die eingebaute Technik. Photovoltaik, Wärmepumpe, Wasseraufbereitung, elektrostatische Fensterrahmen. Seit der Sand jedoch mehr und mehr die Solarzellen bedeckt und Lohmann immer öfter die Module davon befreien muss, kotzt ihn das Leben hier an und er probiert es mit der Verschönerung der Umwelt mittels Vogelstimmen am Sonntagmorgen und holographischer Blumenwiesen auf der Hauswand. Mit einem Ruck reißt er die Küchentür auf und wirft mir einen stieren Blick zu.
»Du bist es …«
»Ja. Nur ich. Enttäuscht?«
»Ich hab die Du … Du … Dingens bei dir rauskommen sehen. Habt ihr beiden was?«
»Duaa, heißt sie. Duaa Sidi.«
Er macht kehrt. »Wie auch immer«, murmelt er in die Küche hinein. Ich verstehe das als Einladung, folge ihm, setze mich ungefragt an den alten Eichentisch und falte die Hände. Lohmann sieht auf sein Tablet, wischt hin und her, hoch und runter. Tippt zwei Mal, wirft es achtlos auf die Arbeitsplatte und dreht sich mir zu.
»Ich hau ab«, eröffnet er mir. Mit diesem Satz überrascht er mich wirklich einmal. Er merkt es mir an.
»Jetzt fällt dir nichts mehr ein, was?«
»Nicht wirklich«, muss ich zugeben. »Was verstehst du unter ‚Ich hau ab‘?«
Er stellt eine Schale Eiweißriegel auf den Tisch. Von den Guten. Lohmann hat Geld. Er nimmt Platz, beugt sich vor und sieht mich lange an, als gäbe es eine Verschwörung zu organisieren. Ich nehme einen Riegel, reiße das Papier auf und genieße den tollen Geschmack.
»Hast du von den Inseln gehört?«, fragt er leise.
»Klar, hab ich das, Lohmann. Alle haben von den Inseln gehört.«
Er lehnt sich an, gestreckt, atmet ein, klopft mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Ich hab ne Einladung …«
»Einladung?«
Lohmann verdreht die Augen.
»Einladung ist das falsche Wort. Es ist so was wie eine Berufung, verstehst du?«
Ich kann ihm nicht ganz folgen.
»Wohin? Für was?«
Er grinst.
»Meine Güte, Heinrich, du weißt doch, was ich bin, oder?«
Ich erinnere mich, dass er sich einmal als Molekularbiologe definierte, aber hauptsächlich drehen sich unsere Gespräche um die bei uns so gut wie ausgestorbenen Vögel und Insekten und wer denn in den Treibhäusern die Blüten bestäubt. Und um Duaa. Die seiner Meinung nach nicht so alleine leben sollte als schöne Frau, die sie ja nun mal ist. Mir geht ein Licht auf.
»Du wurdest als Molekularbiologe auf so eine Insel berufen?«
Lohmann nickt mit kleinen Bewegungen, sehr bedächtig und bedeutungsschwer.
»Darf eigentlich nicht drüber reden. Hab was unterschrieben, aber dir kann ich es ja sagen. Dir vertraue ich.«
Ich presse einen Seufzer durch den geschlossenen Mund und deute auf die Riegel.
»Kann ich noch einen?«
»Klar, Mann. Iss so viel du willst.« Ein breites Grinsen zieht über sein Gesicht. Unverschämterweise lege ich gleich drei Stück neben mich und reiße den ersten auf.
»Pass auf, Heinrich. Ich will das Haus verkaufen, nein, ich muss es ja verkaufen. Wollte dich schon vor paar Tagen fragen, ob du es kaufen willst.«
Ich höre auf zu kauen und ziehe die Augenbrauen hoch.
»Das Haus kaufen? Und was mache ich dann mit meiner Hütte?«
Er starrt mich entgeistert an.
»Was ist das für eine Frage? Hier hast du genug Strom, eine Wärmepumpe, der Staub bleibt fast zu hundert Prozent draußen und es gibt eine Tiefbohrung für Wasser! Du bist so gut wie autark, Heinrich! Sei nicht dumm!«
»Und die Vogelstimmen krieg ich umsonst?«
Lohmann stutzt und bricht in polterndes Gelächter aus bis er händeringend nach Luft schnappt. Ich stehe auf, klopfe ein paar Mal auf seinen Rücken und drücke ein Glas Wasser aus dem Ventil. Vorsichtig hebe ich es gegen das helle Fenster. Klar und kühl. Nicht wie das von uns anderen. Während wir mit immer weniger Wasser zurechtkommen müssen, das meist aus der Aufbereitung kommt, die Dürre uns fest im Griff hat, pumpt Lohmann sein eigenes Wasser aus wer weiß wie viel Meter nach oben. Ein Haus mit einem gerichtlich bestätigten Brunnenrecht zu kaufen, war sein Meisterstück. Ohne Zweifel. Ich trinke das Glas leer.
»Lohmann, ich bin achtzig Jahre alt. Was denkst du, wie lange ich noch lebe?«
Er zeigt mir den Rücken, zuckt mit den Schultern.
»Wie lange du lebst, weiß ich nicht. Aber du könntest gut leben.«
Ich will antworten, dann wiederhole ich in Gedanken den letzten Satz.
»Hm, da ist was dran …«
»Du musst ja deine Hütte gar nicht verkaufen. Die Kommune sucht ständig Wohnungen für die ganzen Flüchtlinge aus Südeuropa. Vermiete an die Gemeinde zu nem guten Preis und überweis mir die Kohle.«
Ich schweige. Von irgendwo her beschleicht mich die Erkenntnis, dass diese Idee gar nicht mal so übel ist.
»Außerdem … ja, ich muss dir noch was sagen …«
»Was?«
»In diesen Verträgen, du weißt, mit der UNO, den Inseln, da …«
Lohmann wird still, bekommt so einen Blick nach innen. Er darf es ja gar nicht erzählen. Jetzt hat er wohl Fracksausen.
»Ich bin ganz Ohr, Lohmann.«
»Es wird kein Geld geben. Keinen Lohn. Ich brauche also kein Geld mehr. Man hat eine kleine Wohnung, Essen, ein ganz normales Leben, so weit das auf einer Insel normal sein kann. Sie sagen, dass es eine Arbeit für die Gemeinschaft ist. Für die Menschen auf so einer Insel …«
Sein Blick driftet erneut ab. Träumt er? Lohmann scheint begeistert. Nach zehn Jahren Nachbarschaft macht es Klick bei mir. Lohmann ist ein Idealist und hat noch so was wie eine Utopie im Hinterkopf. Das Vogelgezwitscher fällt mir ein, die mit Blumenwiesen ausgeleuchteten Außenwände. Was soll ich ihm antworten? Was sagen?
»Okay, Lohmann. Ich mach es.«
Sein Blick kehrt zurück an diesen Tisch. Dann lächelt er und legt seine Hand auf meinen Unterarm.
»Danke. Das ist gut. Frag doch die Frau von gegenüber, ob sie nicht hier mit dir zusammenwohnen will. Kann man gut zwei Wohnungen draus machen. Ihr müsst ja nicht gleich heiraten. Die Menschen sollten zusammenhalten solange es geht. Warte, ich zeig dir was …« Er steht auf, holt das Tablet und legt es auf den Tisch. Die Nachrichten von heute Morgen. SARS-CoV4 und dieser indische Nipah-Virus wüten in Fernost. Die Menschen sterben dort wie Vögel und Insekten. In Massen. Oder vegetieren dahin. Lohmann schiebt das Tablet beiseite. Gerade im richtigen Moment. Sonst hätte ich es getan.
»Morgen gehen wir zum Notar ins Rathaus und bringen das mit dem Verkauf hinter uns.«
»Aber gleich um sieben Uhr«, schlage ich vor. »Wir sollen an die 38 Grad bekommen. Da will ich schnell wieder daheim sein.«
Er nickt. Ich denke an das Vogelgezwitscher und Duaa.

Dritter Akt

Dieses Mal klingele ich bei Duaa. Das dritte oder vierte Mal in den Jahren ihres Hierseins. Durch die Tür höre ich deutlich ihre Schritte. Sie öffnet und blickt mich überrascht an.
»A-Salaam-Aleikum«, eröffne ich. Sie ist baff. Sprachlos. Steht wie angewurzelt im Flur, den Türgriff in der Hand. Es ist mehr als heiß und der Schweiß drückt sich aus jeder meiner Poren.
»Komm rüber zu mir, Duaa. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Außerdem ist es in meiner Küche kühl und es gibt eine Tasse Kaffee extra.«
Sie nickt und schlägt die Tür zu. War gar nicht so schwer, denke ich, blinzele zum Himmel hinauf. Keine Wolke, aber hoch oben gelbe Schlieren, die das Licht diffus streuen. Sand. Die Sahara bestraft uns. Eine fast schattenlose Welt. Ich spüre mein Herz. Der Hals pocht. Zeit für etwas Abkühlung. Langsam quere ich die sandige Straße, schaue zurück auf meine Spuren, die der Wind nach wenigen Minuten verwischt. Wieder ein Schlagen der Tür. Schnelle Schritte. Duaa hakt sich unter und zieht mich mit sich in die Durchfahrt. Ich schließe auf, wir gehen ins Haus, durch den Flur in die Küche. Ihr Hidschab landet auf dem Tisch, geschüttelte Haare treffen mich am Hinterkopf.
»Jetzt was los, Vater von Vater …«
»Opa.«
Sie geht schnurstracks zur Kaffeemaschine, greift auf dem Weg nach der größten Tasse in meinem Besitz und drückt zwei Mal. Vorsichtig balanciert sie die randvolle Tasse zum Tisch und setzt sich.
»Ich höre.«
»Vogelgezwitscher verkauft sein Haus. Er geht weg.«
Duaa nickt nur. Als wäre das alltäglich.
»Ich habe es gekauft«, eröffne ich ihr. »Heute Morgen.«
Ihre Augen werden groß. Größer als sie eh schon sind und ich wäre am liebsten hineingesprungen.
»Du hast ein Haus! Bist du Millionär, oder was?«
»War gar nicht so teuer. Ich werde mein Haus der Gemeinde vermieten. Die ganzen Flüchtlinge aus Südeuropa brauchen Wohnungen und …«
Duaas Blick lässt mich schweigen. Sie beugt sich zur Tasse und schlürft einen großen Schluck, packt dann mit beiden Händen zu und trinkt sie halbleer. Ich verstehe es nicht. Das muss doch wahnsinnig heiß sein. Langsam richtet sie sich wieder auf und schüttelt den Kopf.
»Du bist alt … Opa. Achtzig. Ich mag dich. Aber guck … wer hat Scheiße gemacht? Spanier, Italiener, Franzosen … und Deutsche … alle hier in Europe«, sie winkt ab. »Und noch viel andere.« Ich kann ihrem Blick nicht ausweichen. »Was meinst, haben Menschen in Mauritanie Scheiße gemacht? Oder in Senegal? Oder wo?«
Sie steht auf. Geht Kreise in der Küche. Setzt sich wieder.
»Warum bin ich in dein Küch?«
»Ich, äh, wollte dich fragen, ob du mit mir zusammen in Lohmanns Haus ziehst. Du musst keine Miete zahlen, hast Wasser aus dem Brunnen, Strom vom Dach und Warmwasser von der Wärmepumpe. Ich wohne unten, du oben …« Dass ihre Wohnung frei wird für Flüchtlinge verschweige ich lieber.
»Warum soll ich das tun?«
»Ich bin achtzig. Und krank. Ich brauche Hilfe. Du wohnst im Haus, musst nichts zahlen, nur mir ab und zu helfen.«
»Und ich muss dich nicht heiraten?«
Ich muss lachen. Es schüttelt mich mehr und mehr, bis die Lendenwirbel bohrenden Schmerz durch den Körper jagen und ich fast vom Stuhl rutsche. Duaa greift zu, rückt mich gerade. Ich verziehe unwillkürlich das Gesicht, so weh tut es.
»Ich hab Kraft. Du hast kaputte Rücke, was?«
»Ja, leider.«
»Scheiße!«
»Duaa, du musst mich nicht heiraten. Aber ich vertraue dir und … ich mag dich. Mir fällt sonst niemand ein, den ich fragen könnte.«
»Du bist achtzig. Bald vielleicht sterben. Und dann?«
»Erbst du das Haus.«
»‘Erbst‘? Was ist ‚erbst‘?«
»Ich schreibe auf ein Papier, dass es dir gehört, wenn ich sterbe.«
Sie macht einen beeindruckenden Schmollmund, reibt die Nase dabei und sieht mich lange an. Ich sehe, wie die Glut langsam ihre Augen ausfüllt.
»Inschallah, Opa.«
Duaa kippt den Kaffee in einem Zug in sich hinein, steht auf und drückt eine zweite Tasse. Das Mahlwerk raspelt lauter als sonst? Oder hat mich ihr Einverständnis aufmerksamer werden lassen?
»Freust du dich, Opa?«, ruft sie durch das Mahlgeräusch.
»Ja, ich freue mich.«
Sie grinst, wartet das Befüllen ab und setzt sich neben mich.
»Hast du kein Familie?«
Die Frage trifft mich wie der Schmerz beim Aufstehen. Quer durch den ganzen Körper. Ohne eine Möglichkeit zu entkommen. Ich stehe auf, gehe in den Flur und von dort in die kleine Gästetoilette. Schließe die Tür ab, knipse das Licht an. Nichts zu lesen da. Noch drei Rollen vom Eiweiß-Klopapier aus dem 3D-Drucker. Also setze ich mich auf den Deckel und schalte das Licht wieder aus. Sie kann ja nichts dafür. Natürlich. Eine ganz normale Frage. Jeder hat eine Familie, oder? Naja, Lohmann offenbar nicht. Auf den Inseln ist es wohl ohne Familie besser. Und schließlich kann man dort auch jemanden finden, sich verlieben, Kinder bekommen … Kinder auf den Inseln? Dann sehen sie nur Wasser und die Insel. So kommen sie auf die Welt, werden groß und das Land ist weit außerhalb ihrer Realität. Neue Menschen. Und wir? Wie Brechdurchfall bricht das Schluchzen aus mir heraus. Findet alle Öffnungen. Augen, Nase, Mund, nichts hält es auf. Nicht mal der Schmerz im Rückgrat. Ich bin zu laut, denke ich. Es klopft an der Tür.
»Opa … mach auf! Bitte!«
Zuerst schalte ich das Licht an, schnäuze ein paar Mal in das Einmal-Handtuch und spüle mit einer Handvoll Wasser die Tränen aus dem Gesicht. Dann schließe ich auf. Duaas Hände greifen zu, ziehen mich raus. Kraftvoll schiebt sie mich in die Küche. Ich komme mir vor wie ein Brotteig an dem ein Profi seine Knetkünste exerziert. Schon sitze ich. Duaa mir gegenüber. Bevor sie den Mund aufmachen kann, lege ich den Zeigefinger auf ihre Lippen. Sie lässt es geschehen. Der Schublade entnehme ich meine Kladde und lege sie auf den Tisch.
»Meine Familie«, sage ich.
Duaa sieht mich lange an. Sie ist unsicher. Was ihre Augen ausdrücken können, ist faszinierend. Wie flackernde Kerzen im Wind, so bricht ihr Blick wieder und wieder. Dann öffnet sie das alte Heft, blättert, Seite für Seite. Das erste Foto.
»Meine Frau. Vor fünfzehn Jahren gestorben. Krebs.«
Duaas Daumen fährt ein Muster über das Bild. Blättert weiter. Ein junger Mann. Voller Kraft, mit Rauschebart. Zwischen Bäumen, die heute längst nicht mehr stehen.
»Mein Sohn. Vor zwanzig Jahren ums Leben gekommen. Unfall. In Chile. Bäume absägen, für die es zu warm wurde, mit viel Hoffnung neue Bäume pflanzen. Ein alter Baum hat ihn erschlagen.«
Duaa sieht mich mit gesenktem Kopf an. Hält die Hände still. Ich blättere für sie weiter, drei Seiten. Bis zu einer jungen Frau.
»Meine Tochter. Niemand weiß, wo sie ist. Hat bei Ärzte ohne Grenzen gearbeitet als Logopädin. Menschen mit Kriegsverletzungen wieder das Sprechen beibringen. Sie war in Äthiopien. Das ganze Team ist verschwunden.«
Langsam lehne ich mich an und weiß nicht, was ich sagen soll.
»Vielleicht lebt sie ja noch …«, flüstere ich an die Decke.
»Wann ist verschwunden?«
»Vor dreizehn Jahren.«
»Allah ma’ak, Baabaa.«
»Ich weiß nicht, was das heißt, aber danke.«
»Du bist nicht alleine …«, sie stutzt. »Warum ich weiß nicht dein Name?«
»Heinrich.«
»Das schwer. Geht anders? Nom en français?«
»Aber ja. Henri.«
Duaa klappt das Heft zu und legt die Hand darauf, schließt die Augen und murmelt ein paar unverständliche Worte. Sicher ein Gebet auf Arabisch. Ich lasse sie. Es beruhigt mich seltsamerweise. Mir fällt ein, dass diese Kladde sicher schon seit fünf oder sechs Jahren in dieser Schublade ruht und ich mich geweigert habe, sie herauszuholen, um darin zu blättern. Schließlich ist alles vorbei. Familie und Leben. Warum tue ich das hier? In Lohmanns Haus ziehen? Meines vermieten. Duaa fragen, ob wir zusammenwohnen. Ich schüttele den Kopf über so viel Unvernunft. Ob man im Alter so wird? Irrational?
»Henri«, holt mich Duaa zurück. »Wann ziehen wir ein?«
Für einen Moment bin ich perplex.
»Lohmann ist in vier Tagen weg. Er wird Freitag in der Früh abgeholt.«
Sie nickt.
»Freitag ist gut. Muss noch alles packen. Und Möbel?«
»Drüben gibt es alles doppelt und dreifach. Nimm nur deine Papiere mit, Kleider, persönliche Sachen …«
»Hab ich nicht. Liegt alles in Meer.«
Sie steht auf.
»Ich gehe und packe. Morge und übermorge muss ich arbeite. Bei Doktor putze.«
Dann verschwindet sie. Mit einer Hand auf meiner Schulter, die kurz zudrückt, deren Wärme ich für zwei Sekunden genieße. Es ist still. Da liegt die Kladde. Aus einem Reflex heraus will ich sie tief in der Schublade vergraben. Etwas in mir wehrt sich. Mit einem Eiweiß-Riegel und der Kladde gehe ich ins Wohnzimmer, nehme das Tablet vom Tisch und suche nach den Inseln.

Vierter Akt

Es gibt Kämpfe in zehn südafrikanischen Städten. Die Regierung hat den Notstand ausgerufen, sagt die Sprecherin. Ich wische das Bild auf den großen Schirm. Die Armee dort hat sich teilweise aufgelöst. Australien wird seine Bürger nächste Woche auffordern, das Land zu verlassen. Zu heiß, Dürren, kein Wasser mehr. Der Premierminister bittet Commonwealth-Staaten um Aufnahme und Unterstützung. Und die Viren sind in Russland, Bulgarien und Rumänien angekommen. Experten befürchten ein schnelles Übergreifen auf Resteuropa. Man befiehlt den Menschen, in den Häusern zu bleiben.
Ich meine, im Augenwinkel der blonden Sprecherin eine Träne zu entdecken. Ihre Brust hebt sich ein paar Mal heftig. Sie ringt nach Atem, bewahrt die Fassung so gut es geht. Dann geht es um Essensmarken für folgende Städte und Regionen … ich schalte ab und suche im Netz nach Informationen über die Inseln. Die UNO baut Werften auf den Kerguelen … wo sind die Kerguelen? Ah, zwischen Südafrika und der Antarktis. Weitab von allem. Norwegen hat angeboten, der UNO Spitzbergen zu überlassen. Schließlich sei dort auch der Global Seed Vault. Dann entdecke ich einige Fotos von diesen ominösen Gebilden. Wie Sterne sehen sie aus. Offenbar können sie sogar abtauchen, um den vielen Wirbelstürmen zu entkommen … ich lege das Tablet weg und denke an Duaa. Was wird es uns bringen, gemeinsam in Lohmanns Haus zu wohnen? Es klingelt und ich seufze.

»Lohmann … hast du kein Leben mehr? Noch nicht gepackt?«
Er drückt mich weg, kommt herein, geht direkt in die Küche und setzt sich.
»Und? Hast du die Dame aus …«
»Mauretanien.«
»… Mauretanien überzeugt?«
»Hab ich.«
Er nickt, wie um sich selbst zu bestätigen.
»Ich glaube, du warst früher mal ein ganz schöner Schwerenöter.«
Schwerenöter … das Wort habe ich schon fünfzig Jahre nicht mehr gehört.
»Sag mal, Lohmann, was ich mich schon immer und dich nie gefragt habe: hast du keine Familie?«
Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
»Um Gottes Willen. Ein Leben voller Kompromisse. Nix für mich.«
Ich überlege kurz und denke an die Inseln. Seine Zukunft.
»Glaubst, dass es auf so einer Insel nicht ausschließlich um Kompromisse geht?«
»Kann schon sein. Ich weiß nur, dass ich hier weg will.« Er steht auf, läuft durch die Küche wie ein gehetzter Hund. »Hast du die Nachrichten gesehen? Die Viren kommen näher. Was denkst du, wie lange es dauert, bis sich das um uns herum ebenfalls auflöst? So wie in Südafrika …«
»Nicht lange, vermute ich …«
Er starrt mich entgeistert an, steht neben dem ausrangierten Kühlschrank. »Wie kannst du nur so ruhig bleiben?«, setzt er leise nach.
»Bin achtzig und krank.« Mehr muss ich nicht sagen.
Lohmann nickt gedankenverloren. Mit dem Blick irgendwo, nicht in meiner Küche.
»Kann ich dir was zu trinken anbieten?«, versuche ich eine Ablenkung. »Ich habe noch ein paar Flaschen Rotwein. Darunter Achtzehnjährige.«
Er ist abwesend. Ich bekomme keine Antwort, also gehe ich in die Speisekammer, hole eine Flasche Spätburgunder aus dem Regal, entkorke sie und schenke uns ein. Lohmanns Position am Kühlschrank hat sich nicht verändert. Behutsam bugsiere ich ihn an den Tisch.
»Setz dich, Mister Vogelgezwitscher.«
Der Aufforderung kommt er nach. Ich ebenso. Der Spätburgunder verströmt einen Duft nach Brombeeren und Kirschen. Ich habe noch drei Kisten davon. Mit echtem Kork, liegend gelagert. Darauf bin ich stolz. Und mein Nachbar sitzt da wie ein Häufchen Elend.
»Komm, lass uns anstoßen, Lohmann«, animiere ich ihn, hebe das Glas, ziehe absichtlich geräuschvoll den betörenden Duft in die Nase. »Auf deine Zukunft … immerhin hast du eine.«
Jetzt hebt er den Kopf und zieht die Augenbrauen zusammen.
»Du bist achtzig. Aber die Frau aus Mauretanien und viele andere noch nicht.«
Von seiner Jammerei genervt, halte ich ihm sein Glas vors Gesicht.
»Los! Trink! Du hast mit allem recht. Und jetzt? Es gibt immerhin einen Plan. Und du bist Teil des Plans. Wenn du mich fragst …«
Ich werde ungeduldig und kippe den Spätburgunder in mich hinein, schenke nach. Lohmann trinkt endlich und macht ein erstauntes Gesicht.
»Gut, ich frage dich«, sagt er dann. »Was denn eigentlich?«
»Wenn du mich fragst, haben wir es nicht verdient, das Überleben. Wir sollten Platz machen für Neues. So viel Unvernunft auf einen Haufen ist Grund genug, uns von der Oberfläche zu fegen.«
Er trinkt leer. Gießt sich zügig nach. Schaut auf das etwas verblasste Etikett und nickt anerkennend.
»Ich bin depressiv«, gibt er dann zu und trinkt aus. »Das macht mich alles fertig. Aber du …«, mit dem leeren Glas deutet er in meine Richtung. »Du bist ein Defätist. Das sind die Allerschlimmsten. Dir ist alles scheißegal.«
Ich schnalze mit der Zunge, schüttele ein wenig den Kopf.
»Dir steht dein Idealismus im Weg, Lohmann. Sieh es realistisch. Die Menschheit verschwindet. Ein paar bleiben übrig und versuchen einen Neuanfang oder was auch immer da mit diesen Inseln geplant ist. Was sollen die mit uns Alten anfangen? Ihr braucht die Besten, nicht den Müll. Wenn du die Kontrolle über das Ganze verlierst, solltest du wenigstens die Kontrolle über ein paar Wenige behalten. Und sei ehrlich …« Ich starre in seine Augen. »Wir hatten lange genug Zeit, es abzuwenden oder uns darauf einzustellen.«
Er zeichnet imaginäre Figuren auf den Tisch. Ich trinke leer und schenke uns wieder nach.
»Und? Hast du etwas dafür getan, die Katastrophe abzuwenden?«, will er mit herausforderndem Blick wissen. Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort.
»Nein, habe ich nicht. Okay, diese PV-Anlage, aber am Ende habe ich doch alles hingenommen. Am Ende wollte ich, wollten wir einfach leben, und …« Meine Stimme bricht.
»Und?«
»… und als sich meine Familie auflöste, verschwand, dachte ich, es wäre gut, die Menschen und das Leben zu bestrafen … mich zu bestrafen.«
Lohmann leert sein Glas und schaut in die Flasche. Sie ist leer. Ich stehe auf, hole Nachschub.
»Für was?«, höre ich im Rücken.
»Dafür, dass ich am Leben geblieben bin.«
Er schweigt. Ich ziehe die Flasche aus dem Regal, schließe leise die Tür und starre auf den Griff. Dann ein Schniefen. Schluchzen. Lohmann weint.

Fünfter Akt

Er ist weg. Ganz unauffällig mit einem E-Taxi. Noch jemand saß darin. Eine Frau mittleren Alters. Sicher eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Die besten eben. Vor einer Stunde war es zu Zwischenfällen in Karlsruhe und Mannheim gekommen. Ein Mob hatte Geflüchtete aus Bulgarien und Rumänien am Bahnhof abgefangen und massakriert. Angst vor den Viren. Hass auf die ausweglose Situation. Nur noch die Eiweißriegel, Essensmarken, der ewige Sand und diese Hitze. An die dreihundert Geflüchtete starben. Ein Blutrausch. Die Bundespolizei hat das Feuer eröffnet, in die Luft, dann in die Menge. Fünf Menschen aus dem Mob starben. Ansonsten wäre die Polizei der Situation nicht Herr geworden, sagte jemand im Deutschlandfunk. Nun ist der Frieden in beiden Städten und anderswo dahin. Ich gehe vor Duaas Tür und klingle. Sie öffnet in derselben Sekunde. Zwei Koffer neben sich.
»Ist das alles?«, rutscht mir erstaunt raus.
»Mein ganzes Leben«, erklärt sie nickend.
»Ganz schön wenig Leben.«
Sie lacht und ich nehme einen der Koffer.
»Meine Güte, ist der schwer …«
»Komm, alter Mann, ich mach das.«
»Nix.«
Mühsam schleppe ich den größeren der beiden bis zu Lohmanns Hauseingang, wuchte ihn hinein. Duaa trägt ihren ohne Anzeichen von Schwäche.
»Jetzt Kaffee?«
»Ja, ich habe die Kaffeemaschine und das Wichtigste schon rüber getragen.«
Wir stellen ihre Koffer ab und machen es uns in Lohmanns Küche gemütlich. Duaa gibt einen schrillen Pfiff von sich. Ich zucke zusammen.
»Er ist reicher Mann.«
»Zumindest hat er keine Not gelitten …«
Duaa sieht mich fragend an.
»… keine Not gelitten …«, wiederholt sie langsam.
»Das ist besseres Deutsch für: er war nicht arm.«
Sie nickt und schaltet die Kaffeemaschine an. Ich setze mich und ziehe ein paar Bögen Papier aus meiner Ledertasche, lege sie auf den Tisch. Wie selbstverständlich bringt sie kurz darauf zwei volle Tassen Kaffee und stellt beide auf das Eichenholz.
»Jetzt wir sind Ehepaar.«
Ich grinse sie an, pralle aber an ihrem ernsten Gesicht ab und stutze.
»Meinst du das wirklich so?«
»Ich meine so. Ja.«
Mir fehlen die Worte. Obwohl ich ein dutzend Mal zu etwas ansetze, bringe ich doch nichts zuwege. Nur einen offenen Mund. Ich fühle ein großes Messer aus meinem Inneren kommen, von tief unten, schneidend, bis es an der Oberfläche aufblitzt. Der kalte Stahl wandelt sich in heiße, heftige Tränen. Hände, Arme, alles an mir zittert und will in tausend Richtungen abhauen. Duaa steht auf, drückt mich an ihre Brust, streichelt über meine Glatze und zitiert ganze arabische Lexika. Redet in dieser wunderbar weichen Sprache voller Bögen und Harmonien, bis ich wieder ruhig vor ihr sitze. Der Kaffee wird inzwischen kalt geworden sein. Langsam setzt sie sich wieder und deutet auf die Papierbögen.
»Was ist das?«
»Mein Testament. Alles gehört dir, wenn ich sterbe. Gestern Morgen war ich beim Notar. Mach damit, was du möchtest. Versuch zu überleben.«
Vorsichtig legt sie die Bögen aufeinander, steckt sie in den Karton und ihn in meine Ledertasche.
»Shukraan laekaa, Henri.«

»Montag wir gehen zu Rathaus, dein Haus vermieten?«, fragt sie mich am Abend, als wir in Lohmanns, nein, in unserem Wohnzimmer auf den Monitor starren.
»Ja, machen wir. Und was ist mit deiner Wohnung?«
»Hab schon gesagt bei Gemeinde, dass ab heute leer. Sie war sehr froh.«
Duaa sitzt neben mir wie seit vierzig Jahren verheiratet. Immer wieder sehe ich sie von der Seite an. Alles an ihr ist markant. Wie eines der großen Sternbilder. Wangen, Nase, das Kinn, lange Wimpern. Die Haare, Lohmanns halbe Zweier-Couch bedeckend. Seit sehr langer Zeit denke ich wieder an meine verstorbene Frau, meine Kinder. Es drängt mich, Duaas Kopf zu berühren, stoppe aber die Bewegung.
»Duaa?«
»Hm?«
»War das dein Ernst, dass wir verheiratet sind? Gibt es das im Islam?«
Sie lacht laut auf. Dreht den Kopf. Das Glühen der Augen erdrückt mich fast.
»Nein, Dummerche, gibt es nicht in Islam! Aber bei Duaa! Wir sind es einfach. Oder?«
»Warum?«
»Jetzt wir sind nicht mehr allein. Allein ist nicht gut. Schau da in Fernseh. Heute in Mannheim, du gesehen? Ist überall. Kommt immer näher. Allein lebe, wir sterbe auch allein.«
Sie beugt sich zu mir, legt meinen Arm um ihre Schulter und drückt den Kopf gegen meine Brust. Fast hätte mich etwas in mir zum Aufspringen gebracht. Aber ich zwinge meinen Blick auf die Haare. Vorsichtig streiche ich ihr Ohr frei, lege die schwarze Pracht nach hinten weg, fahre Linien und Formen ihres Gesichtes nach. So starren wir auf die Bilder. Bis ich irgendwann einschlafe.

Das Zimmer ist blau. Dann wieder dunkel. Und wieder blau. Bis ich begreife, dass ich in Lohmanns Wohnzimmer liege, jemand die Couch in ein Bett verwandelt hat und dieser Jemand mich ansieht, über mich gebeugt, vergeht eine geraume Zeit.
»Was ist …«
»Polizei«, flüstert Duaa. »Viel Polizei. Fahre seit zehn Minute an Fenster vorbei.«
Wieder blaues Leuchten an der Decke und Duaas nackte Schultern über mir. Mit ihren Haaren kann sie uns wohl ganz zudecken. Von ihrem Gesicht ist kaum was zu sehen.
»Ich sehe dich gar nicht vor lauter Haaren.«
»Oh, warte …«
Mit einer komplizierten Bewegung wickelt sie alles zu einem großen Knoten zusammen.
»Hast du nichts an?«
»Nein«, bestätigt sie grinsend. Ich taste mich ab und bin beruhigt. Dann beginnt sie mein Hemd aufzuknöpfen. Bis zum vierten Knopf schafft sie es.
»Duaa … Duaa, warte!«
»Was?«
»Ich nehme da so Medikamente, Blutdruck und so, also, da ist dann kaum noch Blut da für … du weißt schon …«
Sie lacht.
»Das nicht wichtig, Henri. Wir nackt und streicheln. Wir fühlen. Ich dich und du mich. Wir sind nicht mehr allein.«
Ihre Worte, diese Stimme, all diese Selbstverständlichkeit bringen mich zum Schweigen. Beseitigen jeden hirnverbrannten Widerstand.
»Ja, du hast recht.«
Duaa zieht mich vollständig aus, legt sich neben mich. Von den Zehen bis zur Stirn spüre ich ihre Haut. Vorsichtig drehe ich mich ihr zu, im Stillen meinen Rücken um Erbarmen anflehend, lege die Hand auf ihren Bauch und spüre das Leben in ihm. All die Wärme und Weichheit. Der Zauber von Duaas Existenz.
»Henri?«
»Hm?«
»Morge Samstag. Solle wir Vogelstimme einschalte? Für alle Menschen dort drauße?«
Ich überlege. Und staune dann über eine Weisheit, die ich zuvor wohl übersehen haben muss in diesem ganzen Vogelgezwitscher. Tagein, jahraus. Lohmann hatte recht.
»Ja, eine gute Idee, Duaa. Wirklich eine gute Idee. Das machen wir jetzt jeden Morgen.«
Sie lächelt in das blaue Leuchten hinein.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber @Morphin
Danke für deine Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe. Vieles was da runterzieht, aber Duaa bringt die überlebenswichtige Leichtigkeit. Und Wärme und den Humor. Find die super. ?Und auch die Beziehung der Beiden. Wundervoll.
Einmal mehr gelernt von dir! ?
Einzig den Lohmann konnt ich nicht so greifen, den hätt ich beim Lesen gern noch eigener gehabt. War mir im Charakter fast zu nah an Heinrich. Da hat mich das Gespräch der beiden Männer weniger berührt. Sein Vogelgezwitscherritual könnte sich ja auch in seiner Art zeigen …
So, als nächstes lese ich nun endlich dein Buch!
Gute Nacht und liebe Grüsse, Akelei

 

Hallo @Morphin ,

wow, du kannst Geschichten erzählen. Ich hoffe, ich komme in den nächsten Tagen noch zu ein wenig Textkritik. Auf jeden Fall hat mich deine Geschichte gepackt und aufgewühlt.

Dua, der Sand und Henri. Der Schmerz, die Vogelstimmen und ein wenig Hoffnung. Großes Kino.

Kennst Du das hier?
https://klimazukuenfte2050.de/ Dort gibt es einen Literatur-Wettbewerb, in den deine Geschichte super hinein passt.

Herzliche Grüße,
Gerald

PS: Was für ein Buch?

 

Guten Morgen @Akelei,

zu früher Stunde am Sonntagmorgen, zwei oder drei Vögel zwitschern draußen. Nicht mehr so viel wie früher. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, der Lohmann, der soll eigentlich nur die Existenz der Inseln transportieren und das mit dem Gezwitscher. Den hab ich vernachlässigbar angelegt. Benutze ihn, um dem Heinrich Dialoge zu geben, aber er ist unwichtig, soll nicht sehr hervortreten und verschwindet ja auch dann. Ein Sidekick.
Ein Kernpunkt ist das Gezwitscher der Vögel am Morgen. Wir Älteren erinnern uns noch an das mannigfaltige Konzert an jedem Morgen von dutzenden unterschiedlicher Vögel, an das Brummen der Insekten, an einer nach 100 km auf der Autobahn völlig zugekleisterten Windschutzscheibe.

Das ist nicht mehr. Ich habe noch mein Berichtsheft aus der Lehrzeit als Landwirt Anfang der 80er. Wetter musste jeden Tag notiert werden. Das Gefühl starker Veränderungen täuscht mich also nicht. Muss nur da reingucken. Und doch nehmen sehr viele Menschen es nicht wahr oder wollen es nicht wahrhaben. Beharren auf dem Gewohnten.

Das mit Duaa ist nicht weit hergeholt. Es gibt hier im Dorf geflüchtete Frauen aus dem Maghreb, deren Existenz vom Sande verweht wurde.

Also werden noch ein paar Geschichten daraus entstehen. Und ja, die Idee war, die Geschichte im Buch zu erzählen, also was in der Übergangszeit passierte. Das Buch spielt ja 110 Jahre später. Es ist also eine Art 'Prequel'.

Und sie soll natürlich unterhalten.

Salü @C. Gerald Gerdsen,

auch dir ein frühsonntägliches Danke fürs Lesen und Kommentieren. Freut mich, wenn es dich gut unterhalten hat. Das ist trotz aller Inhalte ein Hauptaspekt von Geschichte(n). Sie muss mich unterhalten. Inwieweit sie nachdenken, innehalten, reflektieren ermöglicht, hat auch was mit den Leser:innen zu tun.

Die Seite kannte ich noch nicht. Mit dem breiten Spektrum an Wettbewerben beschäftige ich mich nicht so oft. Aber es ist gut, dass es zu diesem Thema Anreize für - vor allem - junge Autor:innen gibt. Aus meiner Sicht muss die Literatur das noch mehr sichtbar machen. Aber eben nicht mit dem Hammer, eher bei den Menschen ansiedeln, die davon betroffen sind und sich nicht wehren können. Offenbar ist es ja schwierig, ein Bewusstsein für die Komplexität dieses Problems zu schaffen. Egal wie viel Fakten und Kausales man präsentiert.

Ja, Buch, also es gibt nen Roman von mir, der das behandelt, spielt in der Mitte des nächsten Jahrhunderts. Und für mich als Autor war es spannend, so ne Art Vorgeschichte(n) dazu zu schreiben. Einfach mal sehen, wie sich das in nächster Zeit so entwickelt mit uns und dem Klima.

So, jetzt mach ich mal nen Kaffee.

Schönen Sonntag euch beiden.
Grüße
Morphin

 

Lieber @Morphin
Ja, es ist wichtig diese Veränderung aufzuzeigen, man hört so gut wie nix darüber. ?
Ich sitze gerade im Zug zum Dreh eines dystopischen Kurzfilms. Mein erster Satz darin: „Hast du die Vögel gehört? Seltsam“.
;-)
Liebe Grüsse und einen schönen Restsonntag! Wenn, dann höre ich die Vögel meist nur Abends.
Akelei

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Morphin,
ich habe deine Geschichte gerne gelesen. Sie war die erste, seit langem, die mich gepackt hat. Deinen Mut solche wuchtigen Themen anzupacken kann ich nur bewundern und dennoch ist da etwas, was mich stört, was verhindert, dass dein Text mir richtig unter die Haut geht. Was dieses Etwas ist, möchte ich nun versuchen dir deutlich zu machen. Vielleicht kannst du damit was anfangen.;)

Zu einem ist da diese Geschichte mit dem alten, weißen Mann und einer doppelt so jungen Frau aus Nordafrika. Bei der Beschreibung dieser Beziehung (oder soll man das etwa Liebe nennen?) verwendest du, meiner Meinung nach, zu viele romantische Muster.
Auf der einen Seite ist da die alleinstehende(sic!) muslimische, gutherzige Naturfrau und auf der anderen der verbitterte mit Schuld der Umweltzerstörung beladener Mitteleuropäer, der obwohl er kaum noch gehen kann, sage ich mal gerade aus, einen ziemlichen Zug zwischen seinen Beinen hat. Sätze wie,

Duaa steht auf, drückt mich an ihre Brust, streichelt über meine Glatze und zitiert ganze arabische Lexika. Redet in dieser wunderbar weichen Sprache voller Bögen und Harmonien, bis ich wieder ruhig vor ihr sitze.
suggerieren ziemlich süffisante Bilder, die man komisch finden könnte: Die Frau ist wunder, wunderschön und die Sprache (ob Arabisch oder nicht) weich und voller Bögen und Harmonien! Entschuldigung, aber das ist alles viel zu süß für mich!
Und, die letzte Szene, wo die Beiden nackt aufeinander liegen, möchte ich mir ehrlich gesagt gar nicht erst vorstellen. Realistischer wäre glaube ich, klar zu machen, dass der Prota es einfach mal strafe Haut haben will und die Frau scharf auf sein Geld bzw.. Haus ist.
Dann noch zum Prota, der alle seine Familienmitglieder verloren hatte. Muss das sein? Vielleicht wäre es realistischer, wenn ihn alle seine Kinder einfach vergessen hätten? Beispiele gibt es ja zuhauf.
Und auch seine Motivation für das ignorieren der drohenden Umweltkatastrophe ist sehr, na ja, speziell. Nicht viele verlieren ihre Kinder und wollen sich dann am Leben rächen (und was ist eigentlich mit seinen Nichten, Neffen usw.?)
Vielleicht wäre es besser, wenn der Prota auch hier einfach nur seine Dummheit und seine Bequemlichkeit zugegeben hätte?

So, das wäre es! Ansonsten wie gesagt, finde ich deine Geschichte richtig gut und wichtig!
Danke!

Schönen Sonntag noch
Ruess

 

Moin @Morphin und lieben Dank für diesen wunderbaren Text. Ich mag ihn wirklich und ja, er bringt mich betsimmt endlich dazu, Dein Buch zu kaufen. Mich hindert ja eigentlich auch nur, das ich es schon gelesen habe, so irgendwie und in schönen Schnipseln. Aber diese Vorgeschichte macht nochmal neugierig. Ich habe sogar ein Detail entdeckt, das mir im Buch irgendwie untergegangen ist ...

Den Titel mag ich, auch den Einstieg, aber dann kommt doch die Frage auf, ob es wirklich dreimal hintereinander Vogelgezwitscher sein muss. Ich habe mich mit mir selbst dann auf, "ist halt so" geeinigt.

Vogelgezwitscher … Vogelgezwitscher?
Allerdings frage ich mich, warum er nicht weiß, das es Sonntag ist, wenn es doch immer so passiert.

noch mit allen Gliedmaßen im Morast meiner Träume steckend.
Ich mag das Bild, da gab es noch ein paar von, aber ich habe nicht vor Dich durchgängig zu loben.

auf diesem jämmerlichen Zustand einer Matratze
Dies hier erscheint mir regional. Klar, ich kapiere was Du meinst, aber für ordentliches Deutsch halte ich es nicht.

Zu hastig drehe ich die Hüfte und will beide Unterschenkel vors Bett stellen.
Grins! Einzeln, nur die Unterschenkel, amputiert? ohne Füße? Irgendwie liest sich das seltsam, mag abe rauch meinem sonnenverbranntem Hirn geschuldet sein.

sehe zwei Füße langsam auf den alten Lärchenboden rutschen
Okay, das passt dazu, ich habe jetzt Bilder aus dem Anatomiehörsaal vor mir.

versiegt zusehends
Mist, hier habe ich nicht vollständig zitiert. Oder doch. Ich empfinde die Wörter als nicht pasend zueinander. Der Schmerz ist doch etwas an Muskel gebunden, etwas "festes" (ne, ist er nicht). Aber versiegen ist auf Wasser/Flüssigkeit bezogen, etwa sstoffliches. Zusehens ist eine optische Wahrnehmung. Nö! Ich kriege es nicht auseinander. Wenn es für alle anderen passt - lass es!

das Altherrengemächt
Im Kommentar von @Ruess ging es um die sexuelle Komponente des Textes und ich bin sehr gespannt stellt sich der Heinrich hier überhaupt nicht als Mann, als Verführer oder "geiler Bock" oder etwas in die Richtung dar. Mehr so ich bin alt, allein und mag die Nachbarn (als Menschen, okay, er ist nich erblindet und kann blühendes Leben, tolle Haare und blitzende Augen schätzen)
Aber er hat ein realistisches Bild von sich - herrliches Wort "Altherrengemächt", das sagt kein Typ, der Lust auf Frischfleisch hat.

Sofort denke ich an rasieren, lasse es bleiben
Er gibt sich ja auch keine Mühe, im Sinne von Verführen, das geht alles von ihr aus.

Ich bin wach, ziehe mich jetzt an und kontrolliere Strom- und Wasserkonto auf dem Tablet.
Die iNfos, wie es um die Welt steht sind für meinen Geschmack schön im Fluss eingebaut, da kann ich mir wiedermal etwas abgucken.

Es zu ignorieren, gehört zu meinem Standardprotokoll.
Auch hier, Sie ist eine Nachbarin, sie haben Ihren Umgang miteinander, eine bisherige Stufe des Vertrauens.

Sie kommt wegen meines Kaffees.
und dessen ist er sich sehr bewusst.

Ich atme tief und hörbar ein, denke an den Sand und sehe dann ihre schwarzen Haare. Ganz unvermittelt legt sich ihre Hand auf meine.
»Warum du weinst, alter Mann?«
HIer geht es nicht um Sex, hier geht es um Menschlichkeit, um füreinander dasein.

»Du bist nicht alt«, betone ich. Duaas Augen sind magnetisch. Voller Feuer. Für einen kurzen Moment.
Das ist für mich absolut glaubhaft, so ein Aufblitzen auf beiden Seiten.

Duaa trinkt leer.
Regional? Hier hieße es "Trinkt aus", was auch kein vollständiger Satz wäre.

»Ich geh jetzt. Is besser.« Mit dem Finger drückt sie mein Kinn nach oben. »Du bist allein. Ich bin allein. Wir alle allein.«
Genau! Und sie haben die Chance, es zu ändern.

»Es wird kein Geld geben. Keinen Lohn. Ich brauche also kein Geld mehr.
Dieses Detail ist mir im Buch nicht gegenwärtig, ich habe es zumindest nie hinterfragt.

Ihr müsst ja nicht gleich heiraten. Die Menschen sollten zusammenhalten solange es geht.
Genau! Und "Auslöser" ist Lohmann!

»Du bist alt … Opa. Achtzig. Ich mag dich. Aber guck … wer hat Scheiße gemacht? Spanier, Italiener, Franzosen … und Deutsche … alle hier in Europe«, sie winkt ab. »Und noch viel andere.« Ich kann ihrem Blick nicht ausweichen. »Was meinst, haben Menschen in Mauritanie Scheiße gemacht? Oder in Senegal? Oder wo?«
Hie rbin ich unsicher. Braucht es das hier? und wenn, ist es wirklich so, das nur die Industrieländer "Schuld" haben? Ja, Müllexporte und Verlagern von problematischen Produktioen in Entwicklungsländer, fehlende Aufklärung, kein Geld für Umweltschutz, aber auch (noch) kein Verständnis dafür, kein entsprehendes Handeln. Mh, ich merke schon, ich rede mich um Kopf und Kragen. Trotzdem stört mich die Stelle.

Sie grinst, wartet das Befüllen ab und setzt sich neben mich.
»Hast du kein Familie?«
Für mich ist diese plötzliche Frage nach der Familie ein Heben des verhältinisses auf eine neue Stufe des Vertrauens.

deren Wärme ich für zwei Sekunden genieße.
Ja, Miteinander, Füreinander, Wärme, Vertrauen ...

»Sag mal, Lohmann, was ich mich schon immer und dich nie gefragt habe: hast du keine Familie?«
Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
Und schwup, gibt er die Frage und damit auch ein wenig das Verhöltnis weiter, hie rkurz und irgendwie auch ohne Wirkung, denn Lohmann verschwindet ja dennoch einfach.

Mit echtem Kork, liegend gelagert. Darauf bin ich stolz. Und mein Nachbar sitzt da wie ein Häufchen Elend.
Aber er ist für ihn da, teilt seinen guten Wein und erkennt vor allem dessen seelische Not.

tellt beide auf das Eichenholz.
»Jetzt wir sind Ehepaar.«
Ich grinse sie an, pralle aber an ihrem ernsten Gesicht ab und stutze.
»Meinst du das wirklich so?«
»Ich meine so. Ja.«
In diesem Absatz habe ich echt Problem, wer redet? Bitte schau nochnal, vielleicht einmal ein Hinweis mehr?

Duaa steht auf, drückt mich an ihre Brust, streichelt über meine Glatze und zitiert ganze arabische Lexika. Redet in dieser wunderbar weichen Sprache voller Bögen und Harmonien
Das ist schön, freut mich für Heinrich. Aber auch für Duaa. Ich bin sicherlich keine Romantikerin, eher Kitschallergisch, aber für mich passt es.

»Hast du nichts an?«
»Nein«, bestätigt sie grinsend. Ich taste mich ab und bin beruhigt. Dann beginnt sie mein Hemd aufzuknöpfen. Bis zum vierten Knopf schafft sie es.
Sie will nicht allein sein! Punkt! Achso, der Übergang von abtasten und beruhigt über Klamotten zu sie zieht ihn aus ist gefühlt zu schnell. Ein Satz mehr?

Wir fühlen. Ich dich und du mich. Wir sind nicht mehr allein.«
Alles gesagt!
»Morge Samstag. Solle wir Vogelstimme einschalte? Für alle Menschen dort drauße?«
Das wäre mein Schlusssatz, aber bekanntlich ist es ja kein Wunschkonzert.
Nun bin ich gespannt, ob Du uns erklärst, jeder darf lesen was er will, aber mich würde schon interessieren, wie Du die beiden Protas angelegt hast, lass bitte hören.
Beste, sonnige Wünsche
witch

 

Mahlzeit @Ruess,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich hab lange überlegt, von welcher Seite ich deinen Kommentar betrachten bzw. beantworten soll. Hab noch mal geguckt, also sie liegen ja nicht aufeinander. Er hat die Hand auf ihrem Bauch. Auch Nichten und Neffen tauchen nirgends auf bzw. er möchte sich selbst bestrafen, überlebt zu haben, nicht das Leben oder das Leben anderer. Ja, aber grundsätzlich kann ich sagen, dass meine Figuren aus beobachteten Menschen bestehen; sei mal dahingestellt ob Bekannte, Verwandte oder was auch immer. Die Menschen hier in der Pfalz (habe ich so auch noch nirgends erlebt anderswo) werden ganz schön alt und sind noch ziemlich fit (muss am Rotwein liegen). Das ist schon sehr auffällig hier. Quasi habe ich existierende Persönlichkeiten in eine Geschichte gesetzt, ohne dass sie sich erkennen würden. Das ist ja wichtig.

Aber weder der Prota glüht vor Lust auf straffe Haut noch gibt es Sehnsüchte ihrerseits nach einem Haus. Sollte das so rübergekommen sein, muss ich in der Tat etwas verändern. Zwischen beiden passiert etwas, aber für Leser:innen ja noch viel mehr, denn Menschen verschwinden (Expertinnen und Experten werden auf Inseln gebracht, Massensterben durch Viren in Fernost, Dürre, Mob der Flüchtlinge abfängt). Die Ordnung zerfällt. Das ist für mich ein absichtlich nach hinten geschobener, zentraler Punkt. Denn wie kann man leben, wenn man nicht Expert:in ist? Was bleibt?

Es sollen so viele Fragen wie möglich bei den Leser:innen bleiben. Wirkliche Antworten habe ich als Autor nicht. Als Mensch, hier in der Pfalz, in meiner Küche, versuche ich täglich mit der Familie, Antworten zu finden, und doch müssen wir ja leben ... nebenher sozusagen. Es werden noch mehr dieser Texte folgen, aus aller Welt. Wie lebt es sich an diesem Tag mit einer solchen Zukunft? Das ist es eigentlich, was ich versuche.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Morphin,

tatsächlich hat mich gerade diese "offene" Beziehung fasziniert. Offen im Sinne von vielschichtig und nicht eindeutig. Das macht die Geschichte für mich so poetisch und dicht.

Liebe Grüße, Gerald

PS: Wie heißt denn dein Buch ? und wo findet man es?

 

Hallo @Morphin

wollte nur kurz mein Feedback dalassen. Habe deine Geschichte kürzlich gelesen und finde sie wirklich sehr gut. Ich würde nichts ändern, für mich war alles sehr stimmig, die Personen, Dialoge, das Setting. Die Story hat mich gleich voll reingezogen! Toll! :)

Gruß

Mary

 

Hallo @Morphin,

gerne gelesen, wenn auch das "gerne" seltsam aufstoßen lässt. Ich gehöre zu den Alten, die nicht mehr für die neue Welt benötigt werden - und als Hobby-Vogel-Fan brennt mir gerade jetzt jeder Morgen das Vogelgezwitscher in die Ohren. Vor zwanzig Jahren war es noch ein vielstimmiges Durcheinander; davon sind gerade mal 7 oder 8 Vogelstimmen auszumachen. Vor zwanzig Jahren mindestens 20 große Hausspinnen. Sie sind alle fort. Selbst die Kreuzspinne vorm Haus ist fort.
Ich schweife ab. Deine Geschichte haut mir die Weisheit des weißen Mannes um die Ohren. Sein imperialistischer Wahn, Selbstbetrug und seine Ignoranz schilderst Du sinnbildlich in hervorragender Weise. Jeder Satz sitzt, leicht zu lesen und die Charaktere so vollkommen nachvollziehbar. Und in diese drei Personen die ganze Tragik des Menschseins zu legen, seine Fehlbarkeit und seine Suche nach der Liebe, die skurriler nicht enden kann. Diese Hilflosigkeit des Lohmann, der in seinem Denken an ein Überleben hofft, aber nicht wirklich daran glaubt, dieses Wegdrücken der Wahrheit, Verstecken hinter einer selbstgebastelten Realität. Als Gegenstück die Lebensfreude der Duaa, die gekonnt die Situation so annimmt, wie sie ist. Ein bisschen viel Schmerz des alten Mannes, aber ich bin noch keine 80 und daher unfähig, den Worten nachzuspüren.
Eine Geschichte die schmerzt, aber das muss sie auch. Sie sollte Lektüre in den Schulen werden, es kann nicht deutlicher darauf hin gewiesen werden, was uns blüht, wenn wir nicht schnellstmöglich handeln. Ich kenne junge Menschen, die haben Studium, Familie, Erbe und Karriere hingeschmissen und sind nach Südfrankreich, Spanien und Portugal ausgewandert, um als "Hippies" zu leben. Sick of it all. Sie wissen, dass es keine Zukunft gibt, aber sie wollen diese Zeit, die ihnen bleibt, in Liebe und Harmonie leben. Gemeinschaft. Auch das klingt in deiner Story mit. Diese Sehnsucht nach dem glücksbringenden Augenblick ist wichtiger als jede Zukunftsspekulation.
Grüße - Detlev

 

Salut @greenwitch,

sodele ... besten Dank fürs Lesen und Kommentieren (umfangreicher Kommentar :eek:). Also Vogelgezwitscher ist um eines reduziert. Null Problemo.

Dies hier erscheint mir regional // Matratze
Ganz und gar nicht. Handelsübliches Deutsch. Soll ich etwa in dieses kaum Auto zu nennende Gefährt steigen? Kann man dieses kaum als Matsch zu bezeichnende Brot etwa essen?

Unterschenkel // stellen
Überlege mir ein anderes Verb.

Versiegt zusehends ... Schmerz
Naja, Schmerz hat ja eine Quelle, die kann versiegen. Also nicht jedes Wort hat eine "harte" Bedeutung im Sinne seiner Verwendung. Das poetische Geflecht um "harte Wörter" ist erlaubt und auch erwünscht. Der Schmerz ist verschwunden ... fast schon medizinisch. Der Schmerz versiegt, wie eine austrocknende Quelle.

Trinkt leer/trinkt aus
Da wüsste ich jetzt nicht, was besser ist. Muss ich mal Google bemühen oder Dr. @Friedrichard befragen.

Hier bin ich unsicher. Braucht es das hier? und wenn, ist es wirklich so, das nur die Industrieländer "Schuld" haben? Ja, Müllexporte und Verlagern von problematischen Produktionen in Entwicklungsländer, fehlende Aufklärung, kein Geld für Umweltschutz, aber auch (noch) kein Verständnis dafür, kein entsprechendes Handeln. Mh, ich merke schon, ich rede mich um Kopf und Kragen. Trotzdem stört mich die Stelle.
Nun, du betrachtest es aus deiner Sicht, fühlst dich also persönlich angesprochen. Aber es ist Duaa, die das sagt. Ihre Historie, ihr Aufwachsen unterscheidet sich von uns hier völlig, führt zu einer anderen Sichtweise. Diese Argumentation ist nicht selten. Mir ist sie oft begegnet im Zusammenhang mit geflüchteten Menschen. In den Wust an Vorwürfen, Denkmustern und Tatsächlichem kommt man nur durch Hineinarbeiten in das Thema heraus. Aber das ist nicht Duaas Ding. Sie ist froh, dem Entkommen zu sein, ohne gleich ihre Denkmuster über den Haufen zu werfen.

In diesem Absatz habe ich echt Problem, wer redet? Bitte schau nochmal, vielleicht einmal ein Hinweis mehr? // Ehepaar-Dialog
Hab mal einen Dialog hochgesetzt und noch was eingefügt.

Letzte paar Sätze von ihm, nach dem Vogelgezwitscher-Plan, ist so etwas wie eine späte Erkenntnis, über all sein bisheriges Leben, die kleinen übersehenen Weisheiten, sie nicht beachtet zu haben. Diese kleinen Dinge, aus denen nicht selten große Hoffnung wird. Auch wenn, wie in diesem Fall, die Hoffnung ein löchriges Gewand hat.

Sodele, ich hoffe, ich konnte das eine oder andere klären, bessern, ausbessern, nahebringen.

Griasle
Morphin

 

Salü @C. Gerald Gerdsen,

ja, das ist es, was ich ebenfalls faszinierend finde (so ganz allgemein). An solchen Geschichten habe ich immer Interesse. Hab dir eine PN geschickte bezüglich deiner Frage.

Grüße
Morphin


Hi, @Marys_Bücherwald,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Freut mich, wenn sie dich gut unterhalten hat. Die individuellen Sichtweisen auf einen Text, wie er gelesen wird, ist schon sehr interessant. Vor allem, weil ich weiß, dass ich in einem halben Jahr, bei erneutem Lesen, vielleicht hie und da was ändern würde. Schöne Restwoche wünscht

Morphin

Servus @Detlev,

Vor zwanzig Jahren mindestens 20 große Hausspinnen
Ich weiß, das sollte ich nicht sagen, aber: :bounce: Denn wenn es etwas gibt, weswegen ich den Planeten verlassen würde, dann wegen der Spinnen. Doch zunächst mein Dank fürs Lesen und Kommentieren. Und ich komme selbstverständlich nicht mehr auf so ne Insel. Bin auch schon Ausschussware. Gleichwohl meine ich, solche Themen aufgreifen zu müssen. Wäre es ohne eigene Kinder anders? Keine Ahnung. Unsere Kinder sind groß, erwachsen, in Ausbildung oder schon Beruf. Um mich herum, bei den Nachbarn, Bekannten, Verwandten, sehe ich nicht den Hauch einer veränderten Lebensweise, nicht die Spur von Diskussions- oder Redebedarf, kein Reagieren auf die Fahrt aufnehmenden Veränderungen. Ich schätze, des Menschen Vorstellungsvermögen reicht nicht weiter als ein paar Monate, bei wenigen ein paar Jahre. Interessant ist auch, was Astronauten sagen, wenn sie zurückkommen, egal ob Amerikaner, Europäer, Russen ... es fand ein Perspektivwechsel statt. Eine Erweiterung des Bewusstseins, ein Gefühl für das Ganze bildete sich heraus. So ähnlich wie die Geburt eines Kindes, das Halten des Neugeborenen ... plötzlich verschiebt sich was im Inneren.

Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin,

danke für Deine Sicht auf die Welt, die ich mit Dir teile - auch in mir wächst die Bereitschaft auf eine Erweiterung des Bewusstseins. Ich freue mich mittlerweile über jede Veränderung in uns.
Grüße
Detlev

 

Trinkt leer/trinkt aus

Da wüsste ich jetzt nicht, was besser ist. Muss ich mal Google bemühen oder Dr. @Friedrichard befragen.

Beides wird korrekt sein, Jacke wie Hose, ob ich was leer trinke oder austrinke, der Unterschied zeigt sich erst in der Grundform und m. E. nur ne Frage der Zeit (und des Votums der Schreibenden), wann "leer" trinken zusammengeschrieben wird wie "austrinken".

Irgendwann werd ich mich hier mal durcharbeiten -

bis dahin

Friedel

 

Hallo @Morphin,

also ich habe nur kleine Anmerkungen. Du hast so viel Talent und Übung beim Schreiben, dass da annähernd alles perfekt ist. Du beschreibst alles so, dass man denkt vor Ort zu sein. Quasi mit allen Sinnen. Und ich finde diese Geschichte sogar stärker als den Roman. Sie hat genau das, was mir am Roman manchmal fehlt: Sie lässt einen Blick in das Innere der Protagonisten zu. Der Heinrich geht einem Nahe. Ein einfacher Mensch mit einem einfachen Leben, ein bisschen sozial, ein bisschen egoistisch, ein Pragmatiker, aber trotzdem verletzlich.

Hier die Staubkörnchen:

Vogelgezwitscher? Die Augen noch geschlossen, spüre ich bereits den Schmerz hinter der Stirn und will liegenbleiben. Liegen und an die Decke starren, an eine ferne Welt denken; noch mit allen Gliedmaßen im Morast meiner Träume steckend. Erwachen
Dieser Anfang ist toll; sehr poetisch.

stellen. Die Antwort kommt unmittelbar und vehement aus den Lendenwirbeln, sticht nach allen Seiten, lässt jeden unnützen Muskel zucken. Mehrmals. Unkontrolliert. Ich stöhne laut
Das meine ich. Man spürt den Schmerz, auch wenn man ihn (noch) nicht kennt.
Sie starrt mich mit aufgerissenen Augen an.
»Ja! 45 Jahre! Alte Frau! Niemand will alte Frau …«
Ja, also da bin ich voll auf seiner Seite. Mit 45 ist man noch nicht alt :D
eigentlich Kevin Lohmann,
Oh, die Opas der Zukunft heißen Kevin …
Lohmann sieht auf sein Tablet, wischt hin und her, hoch und runter. Tippt zwei Mal, wirft es achtlos auf die Arbeitsplatte und dreht sich mir zu.
Ich wundere mich, dass die Tablets noch funktionieren. Das heißt ja auch, dass Internet und Satelliten noch in Takt sind. Erstaunlich, dass gerade diese Infrastruktur noch aufrecht erhalten wird.
Sie macht einen beeindruckenden Schmollmund, reibt die Nase dabei und sieht mich lange an. Ich sehe, wie die Glut langsam ihre Augen ausfüllt.
»Inschallah, Opa.«

Hier ist die Stelle, die Ruess anders interpretierte, als Du wolltest. Und ich kann es ihm nicht verübeln. Mir kommt auch die Zustimmung zu schnell nach dem angekündigten „Erbe“. Ich würde es vielleicht andersrum machen. Sie stimmt zuerst zu und er sagt dann so etwas wie „Du musst dich nicht sorgen. Wenn ich einmal tot bin, musst du nicht ausziehen. Ich vererbe dir alles.“ Oder so … dann ist das für sie eine Überraschung.


LG
Mae

 
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“Ach!” spricht er, “die größte Freud
Ist doch die Zufriedenheit!”
...
,,,

aus: Wilhelm Busch: „Max und Moritz"

»A-Salaam-Aleikum«, eröffne ich. Sie ist baff. Sprachlos. Steht wie angewurzelt im Flur, den Türgriff in der Hand.
...​
»Wir hatten lange genug Zeit, es abzuwenden oder uns darauf einzustellen.«

wie wahr,

lieber Heinrich,
pardon Morphin,

spätestens in den 60er Jahren und allerspätestens mit den Veröffentlichungen des Club of Rome (1972) und den Benennungen der „Grenzen des Wachstums“.

Ich kann mich erinnern, dass selbst Comics einen voll-elektrisierten und automatisierten, geordneten Individualverkehr auf Schiene darstellten – nix mit freier Fahrt für freie Bürger, alles wohldiszipliniert usw. auf sicheren Abstand, aber darüber lohnt nicht mehr zu trauern … ungelegte Eier halt. Stattdessen greif ich mal auf das erste Zitat und den Gruß zurück - »A-Salaam-Aleikum«, oder auf hebräisch „Shalom“ und frage jeden, warum die semitischen Sprachen zum Gruße den Frieden wünschen (ob realisiert oder potenziell, Jacke wie Hose, wenn selbst in Zweierbeziehungen es schon mal knirscht), wir aber den „guten Tag“.

Mag sein, dass der Friede ein frommer Wunsch bleibt – aber was ist ein „guter“ Tag?

Für den selbstzufriedenen Bürger – es wird schon werden, et hätt schließlich noch immer jut jejangen – greif ich gern auf Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel zurück ... Es kann aber auch der selbstgefällige Ton eines Unternehmers, Politikers oder Landesherren sein, dem ein Coup geglückt ist ...

Gern gelesen vom

Freatle

Zum Titel fällt mir natürlich das "Pfeifen" nicht nur im Walde ein, sondern auch das Pfeifen, wenn was auch immer glückt - und sei es eine Beziehung über welche Grenzen auch immer hinweg-

Anhang, 14.05. kurz nach Mittag, bissken Flusenlese

aber um ’n bissken Flusenlese muss es noch,

wie bereits hier das Komma m. E. weg kann

Nach vier oder fünf Stunden auf diesem jämmerlichen Zustand einer Matratze, peinigt mich mein Rückgrat derart, dass aufstehen …
zumindest käme es bei der Standardfolge SPO nicht vor

„Mich peinigt mein Rückgrat derart nach vier oder fünf Stunden auf diesem jämmerlichen Zustand einer Matratze, dass aufstehen …“

Um allem noch eins draufzusetzen, drücke ich mich trotzig dem Schmerz entgegen, richte auf, was von mir übrig istKOMMA und sehe zwei Füße langsam auf den alten Lärchenboden rutschen.

Im Bad hänge ich das Altherrengemächt über die Kante des Waschbeckens und lasse laufenKOMMA was kommt.

So gut es gehtKOMMA hefte ich das Netz an den Rahmen und sondiere die Zarge.

»Machstu Kaffee? Ich brauch Kaffee.«
Klingt nicht auch der zwote Satz nach mehr als einer Aussage?!

... Wenn die leer sind, war es das mit Kaffee trinken beim Nachbar.«
„… beim Nachbarn.“

Sicher eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Die Besten eben.
M. E. besser „die besten“, da es schlicht ein Attribut der nun weggelassenen „Koryphäen“ ist

Nu is' aber genuch!, behaupt ich mal & wünsch ein schönes Wochenende

Friedel

 
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Hallo Morphin,
da ich das Gefühl habe, dass mein Hauptkritikpunkt nicht so angekommen ist wie ich es wollte (woran zweifelsohne nur ich allein Schuld bin) melde ich mich nochmal.

Zum Einstig ein etwas längeres Zitat von Michael Ende, das ich mit meinem ganzen Herzen teile:

"Immer wieder tauchte nach 1945 die Frage auf, ob es denkbar sei, dass es je zu einem dritten Weltkrieg kommen könne. Ich glaube, wir befinden uns schon mittendrin. Nur bemerkt es offenbar niemand, weil dieser Krieg nicht territorial, sondern zeitlich geführt wird. Wir haben einen erbarmungslosen Krieg gegen unsere eigenen Kinder und Enkel, gegen die kommenden Generationen, entfesselt. Wir werden ihnen eine verwüstete Welt hinterlassen, auf der das Leben für sie sehr schwer sein wird. Aber da sie ja nicht zurückschlagen können, fahren wir damit fort – wir können schon gar nicht mehr anders – und beruhigen unser Gewissen (sofern es nicht ganz zum Schweigen zu bringen ist) mit der Annahme, dass ihnen schon etwas einfallen wird, um unsere Gemeinheiten wiedergutzumachen.“

Fazit, wir befinden uns im Krieg und da, lieber Morphin, wünsche ich mir von den Schriftstellern mehr Einsatz!

Ja, der alte Heinrich mag ja so ein, (wie Maedy schreibt) einfacher Mensch sein, der ein bisschen Wärme will oder was auch immer.
Das ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist, soll man das so einfach stehen lassen? Können die Autoren es sich noch leisten immer nur Beobachter zu sein? Der Platz zwischen den Stühlen ist ja schön und gut, aber ist es nicht an der Zeit, ja ich scheue dieses Wort nicht, mal Propaganda zu machen? Propaganda für die Umwelt, für die Erde, wenn man so will!

Nicht einfach immer nur beschreiben, sondern den Leser provozieren, ihm den Spiegel seiner Verlogenheit vorhalten! Damit endlich mal was passiert! Denn, das Problem ist doch diese schreckliche Leugnung der Schuld verbunden mit Resignation (ist halt so, was soll man da machen?) Übrigens auch in den Kommentaren zu deiner Geschichte ist es deutlich zu spüren. Niemand gibt zu, Mitschuld daran zu haben, dass es immer weniger Vögel gibt. Oder sind das alles Öko- Aktivisten der ersten Stunde? ( Achtung Provokation!)

Kurz, ich hätte mir in deiner Geschichte mehr Biss gewünscht. Wahrscheinlich wirst du mir erwidern, dass diese Geschichte den ja hat. Sogar mehrere, menschliche Schicksale, Katastrophen, Brutalität, die Insel? Ja sicher, aber die gehen, meiner Meinung nach, in unnötiger schwulstiger Dramaturgie, ein wenig unter.

Gut, ich glaube das wäre es dann meinerseits! Bin gespannt auf die Fortsetzung!

Viele Grüße
Ruess

 

Ich bin Ökoaktivist. Mein Garten bietet Brutmöglichkeit und Nahrung für mehr als 40 Vogelarten, Nattern, Kröten, Molche und tausende von Insekten. Außerdem funktioniert er als Kreislaufwirtschaft und ist im Grunde genommen eine CO²-Senke.

Trotzdem oder gerade deshalb stimme ich dir zu, @Ruess .

Das macht die Geschichte von @Morphin nicht schlecht, aber evtl. stimmt es, dass wir noch klarer Position beziehen und aufrütteln müssen.

 
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Tagchen @Maedy,
besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ist schon so, dass das ständige Schreiben eine Art Sicherheit im Umgang mit Worten generiert hat ... wenn ich jetzt mal ein Resümee der letzten 40 Schreibjahre ziehen darf. Vielleicht kann ich auch sagen, dass ich inzwischen mehr und mehr den Eindruck habe, 'bei mir selbst zu sein', ohne nach irgendwas suchen zu müssen. Natürlich, all die Charaktere sind existierende Personen, denen ich im Laufe der Jahrzehnte begegnet bin, da muss ich nix erfinden. Da überrascht mich immer wieder die Vielfalt an Persönlichkeiten, Schrägem oder auch Unvorstellbarem. Die ganze Bandbreite menschlicher Regungen und Handlungen. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich nie lange an einem Ort war und es so zu keiner Gewöhnung kam. Wichtig war immer nur: Augen, Ohren offen halten, nicht wundern, beobachten und zur Kenntnis nehmen (ins Kopftagebuch schreiben).

Ob ich das mit der Erbschaft drehe, überlege ich noch. Erst muss ich den neuen Teil fertig machen, sonst komme ich mit den Gedanken draus.

Griasle
Morphin


Friede seit mit dir und deiner Hütte @Friedrichard,
und zack, habe ich die Flusen ausgebessert. Ich hab mich schon gewundert. Niemals hast du alles richtig, sprach ich zu meinem Spiegelbild. :D

Da das Wochenende schon fast vorbei ist, wünsche ich dir eine schöne Woche.

Bis die Tage
Morphin


Mahlzeit @Ruess,
diese alte Frage, die du da aufwirfst, wird IMMER unterschiedlich beantwortet werden. Egal von welcher Seite. Ohne empirische Studien durchgeführt zu haben, möchte ich folgende These aufstellen:

In der Kunst sollten Künstler:innen Bilder, Texte, Installationen in die Menge werfen, die den Menschen zeigen, was passiert (gestern, heute oder morgen). Sie sollen NICHT ihre Meinung oder ihr Weltbild präsentieren, denn das ist subjektiv und angreifbar. Das in diesen Kunstobjekten präsentierte Problem muss OHNE die Meinung der Künstler:innen existieren können.
Warum denke ich so?
Das hat was mit meinen Lebenserfahrungen zu tun. Ob als ZDL, später bei den Johannitern, als Landwirt, Dozent an der VHS, Flüchtlingshelfer oder Arbeitserzieher bei straffälligen Jugendlichen ... die Rolle des zeigefingerhebenden Anklägers birgt die große Gefahr der Abwehrhaltung als Resultat einer als persönlichen Angriff aufgefassten Zurechtweisung. Dagegen waren das neutrale Beschreiben eines miesen Zustandes, das Herleiten von Problemen, das Warum, auch die Nennung eigener Fehler, die "rhetorische, kulturelle und dialektische Augenhöhe", immer die Mittel der Wahl, um Reflexion zu motivieren. Anders habe ich es nie erlebt.

Sicher wird es Menschen geben, die geradezu hoffen, ihre schon latent vorhandenen Erkenntnisse von Literatur, Malerei, Musik, also der Kunst, bestätigt zu sehen (bspw. zum Thema Klimawandel). Dann aber ist NICHT das Kunstobjekt angreifbar, die Künstler werden angreifbar (bspw. durch Leugner des menschengemachten Klimawandels) und damit instrumentalisierbar. Ein Fressen für die Geier.

Als Künstler beschreibe ich möglichst objektiv, was passiert, was ich sehe. Denn der WICHTIGSTE Aspekt, ist die Sichtweise der Betrachter:innen. Sie KANN sich durch die möglichst peinlich genau Objektivität des Kunstobjekts von subjektiver Ablehnung über Reflexion zu objektiver Annahme ändern. Dann, wenn sie nicht bevormundet, keine Schuld zuschiebt, keine Anklage führt (gegen wen sollte man im Klimawandel Klage führen? Gegen 2 Millionen oder 500 Millionen, Nordhalbkugel gegen Südhalbkugel?).

Es ist kein Essay, kein Kommentar, es ist ein belletristischer Text, der eine Alltagssituation einfängt, beiläufig Hintergrundinfos bietet. Lesende beginnen nun zu vergleichen (im besten Fall). WAS vielmehr Wirkung zeigen KANN, ist die Häufigkeit und die Intensität solcher Kunstobjekte. Doch auch hier hast du nachweisbar wieder Abwehrreaktionen (man denke nur an die jährlichen Gedenktage zu Holocaust, WKII, Dokumentationen etc. pp., die zu "nicht schon wieder", "jetzt ist aber mal genug" führen.

Der Mensch ist in seiner Natur nicht so angelegt, eine langsam sich einschleichende Realität als Gefahr zu erkennen, in einem Wellenberg mitten auf dem Ozean einen Tsunami von außerordentlicher Gewalt zu identifizieren, denn für ihn hebt sich sein Schiff nur sanft um fünf Meter. Propheten werden maximal geduldet. Auch wenn die Prophetie auf Evidenz beruht.

EINES hat der Text ja mal begründet: eine Diskussion zu diesem Thema. Also hat er ja Wirkung gezeigt. So kann es weitergehen.

Griasle
Morphin

PS.: Ich sehe übrigens eine Ausnahme - das Theater. Eher die kleinen Theater. Wo es einen unmittelbaren Kontakt zum Publikum geben kann. Theater, in denen die Menschen nicht hinter einem Orchestergraben in langen Reihen sitzen, sondern vielmehr ein direktes Spielen möglich ist, sie über das entsprechende Stück eventuell sogar eingebunden werden. Dort, so denke ich, kann man unmittelbare Wirkung erzielen. Provozieren.

 

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