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Gravitation
Die Haut fahl, die Lippen bläulich, das wirre Haar feucht vom Morgentau, so finde ich sie zusammengekauert schlafend neben den Mülltonnen. Da gehörst du hin, denke ich, da bist du richtig - und noch im Gedanken spüre ich meinen Selbsthass. Meinen auflodernden Zorn bekämpfend kehre ich ins Haus zurück. Dort stehe ich nun mit der beruhigenden Wärme der Kaffetasse zwischen meinen Händen am Fenster und schaue auf sie hinab. Wie sie dort liegt. So schutzlos. Verletzlich.
Einst liebte ich sie mit einem leidenschaftlichen Verlangen, das sie immer wieder aufs Neue entfachen konnte. Als wir uns begegneten, damals, in meinem vergangenen Leben, reagierten wir sofort aufeinander, wie Chemikalien, die sich in ihrer Verbindung zum Schäumen bringen. In ihren Augen lag etwas Dunkles. Ein Rätsel, das mich rief. Ein Geheimnis, das gelüftet werden wollte. Ich nahm sie und sie liess es zu. Und wir lebten! Wir waren Cäsar und Kleopatra, sie war die femme fatale und ich der Gigolo. Wir liebten und feierten uns. Doch das ist Vergangenheit. Ich nehme einen Schluck aus der Tasse, um den schalen Geschmack der Erinnerung wegzuspülen.
Gestern Abend überspannte sie den Bogen. Nicht zu ersten Mal, doch diesmal brach etwas entzwei. In einem ohnmächtigen Wutanfall riss ich sie an ihren Haaren hoch, zerrte sie durch den Flur und stiess sie zur Tür hinaus. Schrie sie an, sie solle verschwinden, solle nie wieder kommen. Sie tobte und schrie, hämmerte gegen die Tür, bis ich es schliesslich nicht mehr ertrug und mich unter dem Kopfhörer Beethovens Neunter ergab. Die Musik schenkte mir zunächst eine zeitlose Ruhe. Als jedoch der Chor einsetzte fand ich mich in Kubriks Film wieder. Alex' arretierte Augen starrten mich an, mir wurde übel und ich riss die Musik von meinen Ohren. Es war still. Ich schlich zur Tür. Lauschte. Lugte hinaus. Sie war nicht mehr da. Mit einem flauen Gefühl der Leere ging ich ins Bett, um einen schweren Schlaf zu finden.
Ohne den Blick von ihr zu nehmen stelle ich den kalten Kaffee zur Seite. Sie rührt sich nicht. Hält sich raus und wartet meine Entscheidung ab. Fragt mich in stummer Anklage, ob ich tatsächlich so ein Schwein sein kann. Nötigt mich zu reagieren. Wütend verpasse ich der Küchenzeile einen Tritt und gehe hinaus. Als ich sie mit der Schuhspitze berühre schreckt sie hoch. Doch sie tariert ihre Augen nicht richtig aus, bekommt die ängstliche Überraschung nicht in ihren Blick. Sie lügt. Sie war bereits wach und hatte mich erwartet. Ich drehe mich wortlos um. Gehe zurück ins Haus und lasse die Tür offen.
Kurz darauf schleicht sie hinein, den Blick gesenkt, die Haltung eines geprügelten Hundes. Steht einfach nur da, stumm und still. Ich ertrage es nicht, packe ihren Arm und stosse siea ins Schlafzimmer. Der Knall der Tür ist das erste Geräusch, das ich heute bewusst wahrnehme. Ich kehre zurück in die Küche, setze mich an das Fenster. Fühle mich müde. Ausgebrannt.
Dabei brannte ich einst so sehr für sie! Sie war mir eine Offenbarung, ein Feuerwerk der Leidenschaften. Führte mich an geheimnisvolle Orte, dunkel und gefährlich. Jeder neue Tag war auch ein neuer Schritt in einem neuen Land. Und ich folgte ihr bereitwillig, liess mich antreiben von ihrer Gier nach Sensationen. Sie führte mich an meine Grenzen und darüber hinaus. Wollte mehr, immer mehr. Härter, kompromissloser, rücksichtsloser. Und ich, ich liebte sie. Folgte ihr.
Noch nie zuvor war sie so zufrieden, noch nie zuvor erschrak ich derart vor mir selbst, als an dem Tag, an dem ich sie zum ersten Mal blutig schlug. Das war der Tag, der alles änderte. Je grausamer ich wurde, umso friedvoller schien sie. Doch liess ich nach, wurde ich zu sanft, zu zugänglich, wurde sie unerträglich. Reizte mich mit bissigen Seitenhieben, verspottete und verhöhnte mich. Bis ich zuschlug und sie wieder zufrieden zu meinen Füssen liegen konnte. Und ich - ich begann, mich zu hassen.
Das leise Geräusch der Schlafzimmertür holt mich aus meinen Gedanken. Nackt und auf allen Vieren erscheint sie im Türrahmen. Sie möchte Unterwerfung zeigen, doch ihre Augen sind verräterisch. Sie lauert, beobachtet, schätzt ab. Ich stehe auf und trete ihr mit Wucht in die Seite. Sie bricht stöhnend zusammen und tritt den Rückzug an. Schwer atmend stehe ich einen Moment da, greife nach meinem Zorn und versuche, ihn zu bändigen. Als ich das Wohnzimmer betrete liegt sie zusammengekauert am Boden. "Du liebst mich nicht mehr...", ihre gebrochene Kleinmädchenstimme ist kaum mehr als ein Flüstern. "Stimmt.", antworte ich ihr aus der Kälte meines Herzens. Unter diesem Wort entspannt sie sich. Eine Welle der Ruhe geht von ihr aus, die mich zu ersticken droht. Ich ziehe den Gürtel aus der Hose.
Als ich an sie herantrete, drängt sich ein Bild in meine Gedanken. Einsame schlaflose Stunden. Nachtprogramm, n-tv. Die Geheimnisse des Universums. Überschreitet man den Ereignishorizont eines schwarzen Loches, bemerkt man es nicht. Doch man ist schon rettungslos verloren.