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Heinrich (10): Alles Gute
»Alles Gute«, flüsterte Mama in mein Ohr.
War ich noch im Traum?
»Komm, Heinrich, aufstehen! Es geht wieder los.«
Nein, kein Traum. Der erste Tag im neuen Schuljahr. Vierte Klasse. Nun einer der Großen. Und ich wurde wirklich immer größer. Von Tag zu Tag, so hatte es den Anschein. Oft klagte ich über schmerzende Beine, aber Mama schickte mich in die warme Badewanne – und am Ende in den Sport. Seit den Sommerferien ging ich zwei Mal die Woche ins Handballtraining und ebenfalls zwei Mal in Leichtathletik. Es war viel, aber ich hatte Spaß; und merkte schnell, dass mehr in mir schlummerte, als die Menschen um mich herum ahnten. Ich stand auf.
»Lass dich ansehen«, bat mich Mama. Sie legte Kleider zurecht und ich zog den Schlafanzug aus, tippte auf ihre Schulter. Gelbe Socken in der Hand, drehte sie sich um und stemmte die Hände in die Hüften.
»In einem halben Jahr hast du mich erreicht, wenn du so weiterwächst. Und die Füße werden auch immer größer. Die Socken haben schon wieder ein Loch …« Sie steckte den Zeigefinger durch. »Heinrich, Heinrich, wo ist nur der kleine Bub hin verschwunden?«
»Muss ich in die Schule?«, fragte ich wider besseres Wissen.
Sie legte den Kopf auf die Seite.
»Herr Bausch ist nicht mehr an der Schule. Du bekommst einen neuen Klassenlehrer. Ich bin mal gespannt. Du nicht auch?«
»Nein.«
Sie knuffte mich.
»Sei nicht so ein Griesgram. Zieh dich an und komm frühstücken.«
Es führte kein Weg dran vorbei, also wusch ich mich und zog die Kleider über. Das Toastbrot duftete schon.
Mama saß mir gegenüber und fischte mit einer Gabel die Toastbrote aus dem neuen Gerät, das Papa letzte Woche gekauft hatte.
»Da hat er Mist gekauft«, seufzte sie. »Die Feder ist viel zu schwach.«
»Ist Papa schon früh weg?«
Mama nickte beiläufig, belegte die beiden Scheiben mit Käse und wickelte sie in Brotpapier.
»Nach Meschede. Ein großes Schulzentrum aufmessen.«
»Dann hat er doch viel Arbeit. Das ist gut, oder?«
Sie sieht mich an und faltet die Kante der Tischdecke.
»Natürlich, Heinrich … ja, die Firma wächst so schnell …«
Ich überhörte nicht den Ton hinter Mamas Worten. Eine Angst, die ich nicht fassen konnte, aber in ihren suchenden Blicken entdeckte, die am Brotpapier hängenblieben.
»Du musst gehen, Heinrich. Vergiss deine Schulbrote nicht.«
Ich nickte und stand auf, einen Knoten im Magen. Mamas Gespür für Unheil war wie tieffliegende Schwalben. Sie kündigten Schlechtwetter an. Man konnte die Tage zählen bis zum Regen. Meine Angst und ich machten uns auf den Weg ins neue Schuljahr.
Groß, breitschultrig, die Hosenbeine viel zu lang und Arme bis zu den Knien.
»Guten Morgen, Herr Milz«, kam es wie aus einem Mund.
»Der säuft«, setzte Andi flüsternd nach. Ich meinte, meinen Ohren nicht zu trauen und schlug ihm auf den Oberschenkel. Er blickte mich an und nickte Richtung Tafel.
»Die Nase ist so rot wie sein Hemd«, fuhr er fort. »Ist wie bei meinem Alten. Ich schwör‘s.«
Klaus war hängengeblieben und Andi saß nun neben mir. Einen Kopf kleiner, blass, schmales Gesicht und schütteres, blondes Haar. Jeder erstbeste Windstoß fegte ihn von den Füßen. Dafür verfügte er über ein loses Mundwerk, das ihn immer wieder in prekäre Situationen brachte.
»Heute werden wir uns kennenlernen«, sagte Herr Milz und schrieb seinen Namen an die Tafel. »Wisst ihr, was das Wort Milz noch für eine Bedeutung hat, außer mein Nachname zu sein?«
Stille in der Klasse. Er lächelte und zeigte auf seinen Bauch.
»Hier drin gibt es ein Organ. Es nennt sich Milz. Und was macht die Milz?«
»Keine Ahnung«, sagte jemand in der vorderen Reihe.
»Natürlich, das werdet ihr erst viel später lernen. Deswegen sage ich euch heute nur die wichtigsten Punkte: Die Milz verwertet die alten, roten Blutkörperchen und unterstützt unser Immunsystem. Also, damit wir unsere Krankheiten schneller überwinden.«
Er schwieg und erwartete offenbar eine Reaktion. Sein Mund öffnete sich. Ich bekam den Eindruck, in einen tiefen Schlund zu blicken. Ein Mädchen links hustete und Andi zählte seine Stifte.
»Na, ich sehe schon, das ist noch nicht euer Thema«, meinte er dann. Mit Schwung umrundete er den Tisch und setzte sich auf die Platte, verschränkte die Arme.
»Aber eines kann ich euch verraten: Zwischen Leber und Milz, passt immer noch ein Pils.«
»Siehste«, sagte Andi, »ich wusste es doch.«
Eines Tages gingen er und ich in den Kartenraum, ein entgegenkommendes Mädchen vor uns stolperte, fiel hin. Herr Milz hob es wieder auf, ganz besorgt, fragte, ob alles in Ordnung sei, sortierte die Papiere auf dem Boden. Ich starrte auf seinen hochgerutschten Pullover und entdeckte eine Unmenge schlecht verheilter Wunden, lange Narben, Hautfetzen, dunkelrot, lila, bis hinunter zum Gesäß; in das mich seine weite Hose blicken ließ. Als das Mädchen alle Papiere beisammen hatte und sich artig bedankte, bat er es, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein und drehte sich zu mir. Wir blickten uns in die Augen. Er wusste, was ich gesehen hatte und ich, dass wir nun beide ein Geheimnis teilten. Schweigend setzten wir den Weg fort, suchten und fanden die Reliefkarte von Europa mitsamt Asien, plapperten dabei Belangloses und gingen zurück.
»Warum kommt Andi immer zu dir? Du gehst nie zu ihm«, fragte Mama. »Gibt es dafür einen Grund?«
Ich überlegte. Er hatte mir nie einen genannt. Am Verstehen der Aufgaben lag es nicht, denn damit hatte er keine Schwierigkeiten, war also nur Vorwand.
»Ich glaube, Mama, er ist nicht gern zuhause.«
Sie stutzte und setzte sich neben mich, blätterte in meinem Erdkundeheft.
»Ist er alleine?«
Markus fiel mir ein. Aber ich wusste nicht, ob es bei Andi ebenso war.
»Sein Vater trinkt, hat er erzählt.«
Mama sah mich genau an. Dann nickte sie, abwesend, ihr Blick wanderte in die Ferne.
»Er ist immer willkommen«, sagte sie dann, drückte meinen Arm und stand auf. Schon im Türrahmen zur Küche drehte sie sich noch einmal.
»Heinrich?«
»Ja, Mama?«
»Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ich schluckte und fixierte schnell den eurasischen Teil des Kontinents auf dem Papier. Ein Träne landete auf meiner Bildunterschrift. Ural stand dort, die blaue Tinte verlief. Einem Erdbeben gleich rüttelte mich das tiefe Gefühl, allein zu sein. Allein wie Dirk aus der dritten Klasse oder Andi, Markus und Robert. Allein wie vielleicht auch Herr Milz … und allein wie Mama. Mit dem Löschpapier trocknete ich den Ural und zog das Wort nach.
»Ich geh rein. Mir ist arschkalt. Kommst du mit?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich finde das schön. Geh du nur. Komm gleich nach.«
Er rieb sich die Hände und stapfte los. So wie er machten es noch viele andere Schüler. Verbrachten die Pause in der Aula. Von rechts sah ich Herrn Milz kommen, direkt auf mich zu. Er paffte seine stinkende, filterlose Zigarette. Eine nach der anderen.
»Heinrich, darf ich mich setzen?«
Ich nickte und hustete. Er sah auf die Kippe und trat sie unter der Bank aus. Von der Seite betrachtet, glich seine große rote, stark geäderte Nase ein wenig dem Nildelta. Durchsetzt mit tiefen Dellen, kraterähnlich. Und sogar auf den Backen zogen feinste blaue Adern ihre Bahn, verzweigten, endeten im fleischigen Nichts.
»Heinrich …« Ich lauschte gespannt. »Du hast gesehen, was ich auf dem Rücken habe und dich vielleicht gewundert … bist erschrocken darüber …« Sein Blick war an die gegenüberliegende Wand des Schulgebäudes gerichtet. Dann sah er mich an. Unvermittelt. Mit seinen wasserblauen Augen. »Ich weiß, dass ich dir das erzählen kann. Du bist schon ein Großer.«
Wieder nickte ich. Was sollte ich sonst tun?
»Im Krieg war das«, fuhr er fort. »Ich war bei der Artillerie. Du weißt, was das ist?«
»Ja, ich weiß.«
»Ein Treffer in unsere Munitionskisten. Die Splitter haben mir den Rücken zerrissen. Viele davon stecken heute noch drin. In den Rippen.«
Er seufzte, atmete tief ein und zog eine Filterlose aus einer Schachtel. Dann erinnerte er sich wohl an mein Husten und behielt sie zwischen den Fingern.
»Siehst du meine Nase?«
»Ja, Herr Milz.«
»Ich trinke. Und ich schlafe ein. Ich will das nicht, aber …«
Er schwieg und die Pausenglocke schrillte. Ich blieb sitzen, ebenso wie er.
»Du darfst mir das nicht übel nehmen«, sagte er dann.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Tu ich nicht«, erwiderte ich. »Und ich bin auch nicht erschrocken.«
Er lächelte und zündete sich die Zigarette an. Dann klopfte er mir auf die Schulter.
»Zeit fürs Lernen«, sagte er und stand auf.
»Du hast einen Freund, Heinrich. Das freut mich für euch«, sagte sie lächelnd. Was das bedeutete, bis zu welchem Punkt man plötzlich bereit war zu gehen, das wusste ich noch nicht. Ich genoss diese Zeit wie ein warmes Bad an kalten Wintertagen.
Egal ob in der Freizeit, dem Sport, in der Schule, wir klebten aneinander wie Kletten. Ich hatte zwischendurch das Gefühl, einen Bruder zu haben – und Mama möglicherweise einen zweiten Sohn. Kein einziges Mal nahm Andi mich mit zu sich nach Hause. Er erzählte so gut wie nichts. Und ich fragte nicht. Mama gab mir morgens sogar fünfzig Pfennig mit für ihn, damit wir uns eine Tüte Kakao kaufen konnten am Schulkiosk. So auch an jenem Morgen, einige Tage nach den Winterferien.
»Gib mir das Geld, Heinrich. Ich renne schnell zum Kiosk«, drängelte er. Ich stopfte das Deutschbuch in den Ranzen. »Schnell! Ich muss pinkeln!« Seufzend griff ich in meine Hosentasche und zog die beiden Fünfziger raus. Er riss sie mir aus der Hand und war auch schon weg.
»Heinrich?«
Ich sah hoch. Herr Milz schrieb gerade etwas ins Klassenbuch.
»Ja?!«
Er schaute her und grinste.
»Komm mal bitte.«
Die Klasse leerte sich. Lärmend stürmten alle hinaus. Ich wartete ab, bis Platz war, dann ging ich vor ans Lehrerpult.
»Nimm dir einen Stuhl und setz dich neben mich«, forderte er mich auf, was ich gerne tat, denn Herr Milz war zu meinem absoluten Liebling geworden. Ich vertraute ihm voll und ganz. Und was er alles wusste …
»Heinrich, ich habe deinen Aufsatz über Köln gelesen. Und er hat mich sehr beeindruckt. Es gibt einen Wettbewerb für Grundschüler, der nennt sich: „Schreibe etwas über deine Heimatstadt“. Da habe ich dich angemeldet.«
Er schwieg und blickte mich erwartungsvoll an. Wahrscheinlich machte ich große Augen, mit offenem Mund oder so etwas, denn er fing an zu lachen.
»Wirklich?«
»Wirklich. Ich habe es gestern von Frau Schadt bekommen und an dich gedacht.«
»Äh, danke, Herr Milz.« Ich wurde rot. Er kratzte sich am Kopf und nickte, ohne etwas zu sagen, steckte seine Stifte ein und holte die Filterlosen aus der Ledertasche.
»Gerne, Heinrich. Und jetzt ab in die Pause.«
Ich stand auf, stellte den Stuhl zurück und rannte hinaus. Zu Andi. Das musste ich ihm unbedingt sagen. Durch den Haupteingang auf den Zwischenhof, die Treppe hoch zum Schulhof der Hauptschule, an dessen Beginn der Kiosk stand. Eine Unmenge Schüler davor. Andi war nicht dabei. Wo könnte er sein? Nichts zu sehen von ihm. Und auch nicht von meinem Kakao. Niemand wusste etwas. Als ich um den Kiosk herumging, die beiden Fahrradhäuschen hinter mir ließ und nun auf dem Schulhof der Hauptschule stand, entdeckte ich Andi zwischen drei großen Jungs. Sie schubsten ihn wie einen Wasserball herum. Er stolperte immer wieder, wobei ihn der nächste auffing und wieder von sich stieß. Sie lachten, zogen über ihn her. Was sollte ich tun? Gab es hier denn keinen Lehrer?
»Heinrich!«
Er hatte mich entdeckt und versuchte zu entkommen. Ein Schlag in den Magen hielt ihn davon ab. Andi knickte ein und lag verkrümmt wie ein Baby auf dem Boden. Neben einem der Jungen standen die beiden Kakaotüten. Einer von den Jungs trat Andi in den Hintern, dann zogen sie mit unseren Getränken ab.
Ich spürte die Wut kommen, aus der Tiefe, die Explosion, und stürmte schweigend los. Rannte auf den Größten zu, dessen Faust in Andis Magengrube gelandet war, trat ihm von hinten in die Kniekehlen, worauf er sofort einknickte und fiel. Wie der Blitz saß ich auf seinem Rücken, griff in diese braunen Haare und schlug den Kopf wieder und wieder auf die Knochensteine. Eine Faust traf mich an der Schläfe, aber da war kein Schmerz, nur ein leichtes Wanken. Andi war auf den Beinen und trat einen der anderen ins Gemächt. Ich sah Blut unter mir. Das Blut von Andis Peiniger. Es färbte die Steine rot. Dann plötzlich Andis Gesicht vor meinem. Der Kopf war immer noch in meiner Hand, landete weiter auf den Steinen.
»Heinrich! Hör auf! Heinrich!«
Starke Hände zogen mich weg. Lehrer, mehrere. Ich schlug wie wild um mich. Jemand goss einen Eimer kaltes Wasser über mich. Der große Junge rührte sich nicht. Wie eine Eisenklammer drückte mich ein Arm fest an einen Körper, den ich nicht sah. Eine Frau kam und drehte den Jungen auf dem Boden, sagte mehrmals einen Namen, bis er reagierte. Ein anderer mit Verbandskoffer erreichte die Menge um uns, all die Mädchen und Jungs, mit Händen vor dem Mund, vor Entsetzen geweiteten Augen. Ich fror plötzlich wie ein Schneider. Endlich entdeckte ich Herrn Milz. Er nahm mich diesem fremden Mann ab, auf seine langen und starken Arme, hielt mich fest. Dann weinte ich und sah durch die Tränen Andi hinter mir mit den Kakaotüten. Was hatte ich getan? Was nur!?
»Hier, bitte zieh die an.«
Ich tat, was sie sagte. Sie legte die Hose ins Spülbecken, ließ Kaltwasser ein und streute Salz auf das Blut. Dann kam sie mit schnellen Schritten aus der Küche, zog mich vom Stuhl auf die Couch, ich auf ihrem Schoß. So saßen wir und sagten einfach nichts. Ihre Hand auf meinem Kopf, die ab und zu kraulte. Vielleicht hat sie ihre Stimme verloren, dachte ich, vielleicht würde sie jetzt nie mehr mit mir sprechen. Aber sie wusste wohl einfach nicht, was sie sagen sollte. Vor dem Fenster wanderten die Schatten und wurden länger, bis sie mich von sich wegdrückte und ansah.
»Erzähl mir mal, was du fühlst, bei so einem Ausbruch.«
Das war nicht schwer.
»Wut.«
Sie überlegte.
»Du bist sehr gut in Erdkunde. Wenn die Wut ein großer Fluss sein kann, welcher von diesen großen Flüssen war deine Wut heute?«
»Der Nil.«
»Ist das der längste Fluss?«
Ich nickte.
»Wo ist denn deine Wut, wenn sie nicht aus dir herausbricht?«
»Im Marianengraben.«
Sie sah mich überrascht an.
»Was ist denn der Marianengraben?«
»Der tiefste Meeresgraben, den es gibt. Elf Kilometer unter der Oberfläche. Dort ist es immer dunkel.«
Mama atmete tief ein und aus, schloss die Augen für einen Moment.
»Hast du Angst, dass diese Wut aus dem Graben auftaucht?«
Ich fing an zu weinen, wollte mich an sie schmiegen, aber sie wartete auf meine Antwort. »Ja«, gab ich zu. Ihre Arme umschlossen mich fest.
»Wir müssen was gegen diese Wut tun«, erklärte sie. »Aber erst werde ich mit der Mama dieses Jungen telefonieren.«
Mein Herz rutschte bis hinab in den Keller und mir wurde elend schlecht.
»Weißt du, was mein Papa gesagt hat, Heinrich?«
Dies war das erste Mal, dass er von daheim erzählte, von einem Gespräch. Ich war überrascht, dass dort überhaupt geredet wurde.
»Nein. Was hat er denn gesagt?«
»Bring den mal mit. Der hat Eier in der Hose.«
»Ich hab was?«
Andi lachte und griff sich in den Schritt.
»Mensch, du weißt schon. Eier, die zwei Murmeln da unten in deinem Sack.«
Ich wurde rot. Er lachte immer noch und hüpfte von einem Bein aufs andere. Dann blieb er wieder stehen.
»Heinrich?«
»Mh?«
»Du hast mir geholfen …« Er weinte plötzlich und ich traute meinen Augen nicht. Klar, immer, wollte ich sagen. Schwieg aber. Stattdessen schnappte ich seinen Arm und zog ihn mit mir. So trafen wir in der Aula ein und ich spürte förmlich den Unterschied, fühlte die Blicke, das Ausweichen an engen Stellen, auf der Treppe, lauschte dem Tuscheln. Was war passiert? Andi schniefte, putzte sich die Nase. Niemand sagte etwas zu uns. In der Klasse machten sie Platz in den schmalen Durchgängen. Und diejenigen, die vorher gleichgültig waren, nur ein Hallo sprachen, lächelten scheu. Ich entdeckte etwas in ihren Augen. Klaus fiel mir ein, der Sitzenbleiber. Plötzlich wusste ich, was es war. Sie hatten Angst. Sie fürchteten mich. Vielleicht sogar uns. Das war es nicht, was ich wollte. Niemals. Und doch … machte es mich plötzlich unangreifbarer. Da kribbelte etwas in meinem Magen. Ich setzte mich, legte Buch und Heft auf den Tisch, lächelte Andi an und knuffte ihn auf den Oberarm. Er packte ein Bonbon aus und reichte es mir. Herr Milz erschien, seine Ledertasche unterm Arm.
»Guten Morgen, meine Lieben!«
»Guten Morgen, Herr Milz!«, antwortete der Chor.
Er trommelte mit zwei Fingern einen Takt auf sein breites Kinn. »Wisst ihr, wer heute Geburtstag hat?« Sein Kopf schob sich nach vorne. »Na? Keiner?«
Niemand sagte etwas.
Andi grinste mich an und hob die Hand.
»Du?«, flüsterte ich. Er nickte leicht.
»Alles Gute, Andi.«