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Himmelsschafe
„Bähhh“, sagte das kleine Schaf, legte den Kopf schief und blickte nach oben. Von da kamen nämlich lauter kleine, weiße Flocken nach unten geschwebt, so etwas hatte das kleine Schaf noch nie erlebt. Eins der kalten Gebilde sank auf seine Nase, woraufhin es vor Schreck einen Luftsprung machte und niesen musste.
Die anderen Schafe standen im gemütlichen Unterschlupf, fraßen an den großen Heuraufen und kuschelten sich eng zusammen, denn es war kalt. Sie blickten nach draußen, wo das eine kleine Schaf ganz alleine die ersten Schneeflocken des Winters erkundete.
„Wisst ihr“, sagte eins der älteren, weiseren Schafe, das sich ganz dicht an das warme Heu anschmiegte, „Wisst ihr eigentlich noch, was der Schäfer vor ein paar Jahren über den Schnee gesagt hat?“
Die anderen Schafe begannen nachzudenken. Aber keins von ihnen wusste noch von den Worten des alten Mannes. Sie hatten auch nie zugehört, wozu auch, die beiden flinken Mischlingshunde hatten ihnen schon gezeigt, wo´ s hinging, und sie waren schließlich immer nur einander nachgetrottet. Wozu hätte da jemand auf diesen Menschen hören sollen?
„Was denn?“ fragte schließlich ein jüngeres Schaf mit einem vorwitzigen braunen Fleck am Maul.
„Er hat erzählt, dass der Schnee eigentlich nur gefrorenes Wasser ist.“
„Was?! Gefrorenes Wasser?“ Die Empörung war groß.
„Wie kann er so etwas nur sagen?“, blökte das junge Schaf mit dem braunen Fleck erschrocken und blickte hinaus, wo sein kleiner Bruder immer noch damit beschäftigt war, die weißen Flocken anzusehen.
„So dumm kann er doch gar nicht sein!“
„Er ist ein Mensch.“, warf eins der ältern Tiere bedächtig ein. „Er weiß es eben nicht besser.“
„Aber alle wissen es doch! Jeder weiß, dass der Schnee von den Himmelsschafen kommt!“
Mittlerweile blickten sie alle nach draußen, um dem kleinen Schaf dabei zuzusehen, wie es versuchte, mit seiner Nase möglichst viele der weißen Gebilde aufzufangen. Das, das den brauen Fleck auf der Nase hatte, drängelte sich dicht an ein altes, weises Tier mit dichtem, weichem Fell.
„Das stimmt doch, oder?“, fragte es leise, und stupste in den wolligen, warmen Bauch neben sich.
„Natürlich stimmt es... Wenn eins von uns Schafen hier zu müde für das Leben wird, dann legt es sich nieder, zum ewigen Schlaf. Dann träumt es von einer großen Herde, mit all seinen Brüdern und Schwestern, und sie laufen alle gemeinsam über die Wiesen des Himmels... mit zarten Kräutern... und Gänseblümchen... manchmal, im Frühjahr und im Herbst, wenn der Wind weht, kann man sie am blauen Himmel laufen sehen...“
Das alte Schaf hatte die Augen voller Sehnsucht zum Himmel gerichtet, aus dem immer mehr Schneeflocken herabschwebten, um auf dem kargen Gras liegen zu bleiben.
„... und dann... wenn es Winter geworden ist, denken sie an uns. Sie schenken uns ihre Wolle und erinnern uns daran, dass auch wir einmal, wenn wir alt sind, mit ihnen laufen dürfen... “
Verträumt blickten sie alle hinaus auf die Wiese. Das kleine Schaf spielte immer noch mit der Wolle der Himmelsschafe.
Zögernd trat das Tier mit dem Fleck hinaus, tappte auf seinen Bruder zu. Bald drauf spielten beide fröhlich zusammen, bis sie atemlos zu den anderen in den Unterschlupf zurückkehrten.
„Mama denkt an uns...“ sagte das Tier mit den braunen Fleck am Maul leise. „Ja... alle diese Flocken sind nur von ihr. Für uns.“ Und erschöpft schmiegten sie sich zusammen und schliefen in einer windgeschützten Ecke nahe bei den Heuraufen ein.
„Wir sollten dem alten Mann wirklich nicht mehr zuhören.“, stelle das alte Schaf fest. „Er erzählt uns nur Sachen die gar nicht stimmen, und die uns traurig machen.“
Die anderen Schafe stimmten ihm zu. „Er weiß es nicht besser... Menschen verstehen das einfach nicht...“
Und kurze Zeit später waren sie nach diesem langen Tag alle eingeschlafen, wärmten sich gegenseitig mit ihrem weichen Fell und dachten an die Himmelsschafe.
Und die schickten weiterhin ihre weiße Wolle auf die Erde, als sie über die Wiesen trabten, und sich an die Herden auf der Erde erinnerten.