Hier die Lösung:
„Sie sind für die Beachtung der Bewohnerrechte zuständig?“
„Ja, zumindest in diesem Distrikt.“
“Halten sie das Urteil für angemessen?“
„Nun – in einem analogen Fall würden wir auch eine Strafe verfügen, doch bei uns wäre das Geschehene nicht strafwürdig, es wäre außerdem gar nicht möglich. Das Strafmaß selbst kann ich nicht beurteilen.“
Etwas irritiert blickte der Ratsvorsitzende in die Runde, ein leises Summen deutete an, dass er das Gehirnstrom-Interface aktiviert hatte. Die erhaltene Information schien ihn zufrieden zu stellen.
„Gut. Skizzieren sie bitte für die neu hinzugekommenen Ratsmitglieder die bis jetzt der Öffentlichkeit unzugänglichen, näheren Umstände.“
„Selbstverständlich.“
Langsam stand Karl Reth-Cir auf, deutete eine Verbeugung gegenüber den hundert Anwesenden an, sein großer, dünner Körper wirkte zerbrechlich, aber sein Gesichtsausdrück zeigte Ernst und Konzentration.
„Die Quadrianer, so lautet ihre offizielle Benennung, leben auf dem Planeten Aereaos, der die Form eines Möbiusbandes hat. Hier leben diese Wesen friedlich in einer Region entlang der Mitte des Himmelskörpers, aus Angst, sonst dem Ende der Welt zu begegnen. Da sie nur zweidimensional, gewissermaßen in die Fläche ihres Planeten eingebettet sind, weisen sie die Dicke ‚Null‘ auf. Hierzu kommt, dass sie nur Flächen, keine Linien kennen. Sie leiden nämlich unter einer Art ‚Unendlichkeitsagnostie‘, eine Linie mit der Breite ‚unendlich klein‘, wie wir das definieren, kennen sie nicht. Dies hat auch religiöse Gründe, was Ursache, was Wirkung ist, wird von Wissenschaftlern noch diskutiert.
Die Quadrianer bewegen sich amöbenartig und können dabei bis zu elf Körper-Ausstülpungen bilden. Davon leitet sich ihr Zahlenraum ab, der nur ganze Zahlen kennt und maximal elf mal elf beträgt, also 121. Diese ist für sie eine heilige Zahl, da sie symmetrisch ist und die Quadratzahl ihrer Fortsätze. Quadrate lieben die Quadrianer in besonderem Maße, sie halten diese wegen ihrer Ästhetik für göttlich und daher vollkommen, während Kreise eher als ‚sulftierhor‘ gelten, wir würden das vielleicht als ‚teuflisch‘ bezeichnen. Ein ganz kleines Quadrat mit der Fläche ‚1‘, ist ihre Standardfläche.
Nun komme ich zu dem Teil, der direkt mit dem Vergehen zu tun hat. Bitte bedenken sie, dass nach Anweisung des Höchsten Rates die kulturellen Bedingungen einer Lebensform in unsere Beurteilung einfließen müssen, nur ein Verstoß gegen die allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze des Distrikts als problematisch anzusehen ist.
Jahrhundertelang gab es mit Zahlenraum und Quadraten keine Probleme, bis vor zwei Großzeiteinheiten ein einheimischer Wissenschaftler in einem besonderen geistigen Zustand, letztlich ein durch Überdosierung von Krökakop entstandener Rausch, zum heiligen Fest des ‚Suiböm‘, folgende Überlegung anstellte:
5 x 5 Quadrate ergeben 25. Gut. 6 x 6 Quadrate ergeben 36. Was passiert, wenn ich ein Quadrat mit 27 Feldern haben möchte? Was passiert dann mit dem Standartquadrat? Abgesehen davon kommt man auf die ‚27‘ nur mit drei gleichen Zahlen, nicht mit zwei! 3 x 3 ergeben neun Quadrate, eine schöne Fläche – multipliziert man nun nochmals mit 3, um auf die ‚27‘ zu kommen, kann es kein Quadrat geben – aber, was ist ‚Es‘ dann? Man bedenke, die Quadrianer kennen nur ganze Zahlen, bzw. Standardflächen.
Quadrate, die es nicht gibt und etwas ‚über Quadrate hinaus‘ – das ist selbstverständlich Blasphemie! Die seit Generationen anerkannte Göttlichkeit und vor allem Verstehbarkeit ihrer Welt wurde in Frage gestellt. Es kam zu Unruhen auch Gewalt. Wie so oft in solchen Situationen bildeten sich schnell zwei Lager, was für diese Gesellschaft erstaunlich ist, da sie auf Konsens und einheitliches Denken aufgebaut ist. Deshalb wurde auch schon vermutet, dass es letztlich einen externen Grund für die neue Erkenntnis gibt.“
„Manipulation?“
„Nicht bewiesen, aber auch nicht undenkbar. Jedenfalls bildeten sich schnell zwei Gruppen: die Modernen und die Konservativen, die meist der älteren Generation angehören und deshalb über mehr Machtpositionen verfügen. Von dieser Gruppe wurde nun die Strafe verhängt:
Als Strafe muss der Wissenschaftler auf dem Planeten immer geradeaus gehen, um zur Läuterung ‚innere Umkehr‘ zu erfahren, da sich auf einem Möbiusband die Seiten eines zweidimensionalen Wesens vertauschen, wenn er die Fläche bis zum Ausgangspunkt durchschreitet.
Wir vermuten nun, dass dies auch einer totalen Gehirnwäsche gleichkommt, was, wie ihr alle wisst, gegen die geltenden Rechtsgrundsätze des Distrikts verstößt.“
Karl Reth-Cir nickte in die Runde und setzte sich wieder. Der Vorsitzende ließ seinen Sitz langsam drehen, bis er dem Berichterstatter direkt ins Gesicht sehen konnte.
„Wir danken für deinen Bericht.“
Der Ratsvorsitzende wirkte nachdenklich, vielleicht auch etwas müde.
„Wir müssen herausfinden, was dieses Urteil bewirkt – was man mit ihm bezweckt oder bezwecken kann. Schließlich wäre durch die Strafe die Zeit nicht zurückgedreht, die Erkenntnis nicht ausgelöscht. Es sei denn …“
Eigentlich wollte ich nur einen kleinen Text schreiben, der eine Analogie zu 'i' ist - dann kam noch dies und das dazu, gemäß der Vorgaben für die Kreativwerkstatt.
Vielen Dank für eure Beiträge!