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Nicks Rache
Die Sommerferien waren wie im Flug vergangen und der erste Schultag fühlte sich an wie gewaschene Jeans, die frisch von der Leine kamen: fremdartig und unbequem. Andererseits waren aber auch kleinere Streitigkeiten zwischen Lehrern und Schülern vergessen. Sie alle hatten sogar etwas gemeinsam an diesem Morgen. Sie ahnten nichts von der Katastrophe die über sie herfallen würde, wie ein hungriger Wolf über ein neu geborenes Lamm.
Hinter der Glastür des Schuleingangs wuchs ein Schatten in die Höhe, die Konturen einer großen Gestalt wurden langsam schärfer. Alle hielten den Atem an, während sich die Tür geräuschlos öffnete. Ohne Eile kam Nick heraus und füllte seine Lungen mit kühler Morgenluft. Er machte ein Gesicht, als blende ihn die Sonne. Ein grausamer Spaß der Natur, denn er sah immer so aus.
„Der Blinzler!“ hörte er jemanden rufen. So nannten sie ihn. Blinzler riefen sie, wenn sie an ihm vorbeiliefen und hässliche Grimassen schnitten. Er mochte diesen Namen genau so wenig wie den Blick in einen Spiegel. Doch an diesem Tag kümmerte ihn das alles nicht. Niemals wieder würde sich jemand über ihn lustig machen. Nicht an diesem und nicht an irgendeinem anderen Tag.
Die Tür krachte ins Schloss und Nick blieb abrupt stehen. Sein Oberkörper neigte sich, als wollte er in einen Abgrund blicken. Das runde Kinn berührte fast seine Brust, Haarsträhnen klebten auf der Stirn und ragten ihm über die Augen. Die rechte Hand, geschwollen wie ein aufgeblasener Gummihandschuh, umklammerte den Griff eines beachtlichen Revolvers. Wie eine Spinne kroch der Irrsinn über Nicks windschiefes Gesicht. Er lächelte.
Sein Gehirn gab ihm gerade den Befehl die Revolverhand zu heben, da knallte es auch schon hinter ihm. Glassplitter prasselten zu Boden. Stille. Niemand bewegte sich. Erstaunt drehte Nick sich um, zeigte mit der Pistole auf die Tür und versuchte etwas zu sagen. Sein Atem drang nicht bis in den Mund, füllte ihn nicht ausreichend, um verständliche Worte zu formen. Stattdessen drangen zischende Laute aus seiner Kehle.
Was war denn überhaupt passiert?
Der nervöse Finger eines Scharfschützen hatte eine Gewehrkugel auf den Weg gebracht, die zunächst Nicks Kehle durchschlug, zwar die Wirbelsäule verfehlte, aber seine Stimmbänder glatt durchtrennte, bevor sie klirrend die Glastür hinter ihm zerstückelte. Blut lief ihm am Hals herunter. Sein Gesicht glich dem eines schreienden Säuglings. Nick wurde hektisch, hielt eine Hand auf die blutende Öffnung und versuchte erneut zu sprechen. Wieder zeigte er mit der Pistole auf die Tür oder vielleicht auf das was hinter ihr lag. Doch er brachte nur Zischlaute hervor, rote Blasen quollen zwischen seinen Fingern hervor und zerplatzten. Ihm wurde übel. Sein Verstand rebellierte wie ein Magen der faulen Fisch erhalten hatte.
Er atmete flach und schnell, hob wütend beide Arme und bevor die Situation komplett außer Kontrolle geriet, wiederholte ein anderer Scharfschütze die Behandlung mit der Bleikugel.
Dichter Rauch umschlang seine Beine, legte sich wie ein Mantel über beide Schultern, stülpte seine stickige Kapuze über Nicks Kopf. Dunkelheit bohrte sich wie schwarze Daumen tief und schmerzhaft in die Augen. In den Sekunden in denen er zu Boden fiel, zogen die letzen Minuten wie ein Daumenkino an seinem inneren Auge vorbei. Rauschen erfüllte seinen Schädel. Er wollte sich nicht erinnern, wollte diese Bilder nicht mehr sehen. Doch es war nicht aufzuhalten. Er ging ein weiteres Mal durch die Hölle.
Er sah sich durch einen dunklen Gang schreiten, dessen Ende nur schwach beleuchtet war. Das Rauschen in seinem Kopf hatte sich zu einem reißenden Fluss verwandelt und ertränkte jeden Laut, der an sein Ohr zu drängen versuchte. Zügig, aber mit gleichmäßigen Schritten bewegte er sich voran.
Mit dem Schuh stieß er gegen etwas Weiches, stolperte und trat auf eine Hand. Ein angewinkelter Finger knackte unter seinem Gewicht. Er ließ sich nicht aufhalten und fand schnell in seinen alten Rhythmus zurück. Das nächste Hindernis nahm Nick früher wahr und umging den leblosen Körper. Er weitete die Augen in der Hoffnung besser sehen zu können.
Vor ihm zeichneten sich Umrisse einiger Stufen ab. Nick bewegte sich langsam nach oben.
Bloß nicht stürzen. Am Ende der Treppe verschloss eine Tür den Weg. Der schwefelfarbige Lack, stellenweise abgeblättert, die Fensterscheibe, nicht größer als eine Aktentasche, war zerschlagen. Stumpfes Licht drang durch die scharfkantige Öffnung und setzte ein bizarres Bild in Szene. Ein Arm haftete senkrecht an der Tür, im grotesken Winkel zu seinem am Boden liegenden Rumpf. Die ausgestreckte Hand, so täuschte es das Dämmerlicht vor, tastete beharrlich weiter, suchte den Türgriff, bereit ihren schlaffen Körper an diesem gottverhassten Ort zurückzulassen.
Nick ergriff die Klinke, wollte die leblose Masse einfach zur Seite kehren und zog kräftig an der Tür. Sie stockte. Er zerrte an dem Griff, als wollte er das Schwert Excalibur aus dem Felsen ziehen. Ohne Erfolg, die andere Hand des Leichnams hatte sich unter der Tür verkeilt. Nick beugte sich nach unten, packte die Schultern, riss den zierlichen Körper hoch und rollte ihn wie einen ausgedienten Teppich zur Seite.
Ihre Haare fegten ihm durchs Gesicht. Er hielt inne. Ein vertrauter Duft hüllte Nick in ein Laken voller Erinnerungen und entführte ihn in eine Zeit, die mehr als zehn Jahre zurücklag.
Nick musste sechs oder sieben gewesen sein. Die Kleine war ein Jahr jünger. Sie hieß Daniela. Er erinnerte sich, wie er ihr damals seinen Kletterbaum zeigen wollte und sie überredete hinauf zu steigen. Es war eine kräftige alte Linde. Nick war bereits auf dem ersten Ast und streckte ihr beide Hände entgegen. Es dauerte bis sie endlich seine Handgelenke umfasste. Er wunderte sich wie leicht sie sich hochziehen ließ. Den Rest schaffte sie allein. Sie saßen stundenlang unter dem Dach aus grünem Laub. Nick glaubte für einen kurzen Moment sich an den Geruch der Blätter erinnern zu können. Beim Abstieg passierte dann das Unglück. Daniela rutschte von einem der knorrigen Äste ab und fiel in die Tiefe. Nick trug sie auf dem Rücken nach Hause. Sie weinte den ganzen Weg lang und er machte sich fürchterliche Vorwürfe.
Spät abends saß er heimlich auf der Treppe im Flur des alten Bauernhauses, lauschte den Worten seines Vaters
„Immer macht er Schwierigkeiten dieser Bengel. Das war schon bei der Geburt so. Mit der Zange mussten sie ihn da rausholen. Immer nur Schwierigkeiten!“
Daniela schlich aus ihrem Zimmer, setzte sich neben Nick und strich ihm die Tränen von der Wange. Sie hielt ihm stolz ihren eingegipsten Arm unter die Nase. Nick musste grinsen.
Ihre Mutter war damals am Hof seines Vaters angestellt. Sie hatten ein Zimmer im Haus seiner Familie. Eines Tages zogen sie vom Hof, aus beruflichen Gründen, hatte seine Mutter ihm gesagt. Seltsamerweise hatte Nick sie nie wieder gesehen, obwohl sie eine Weile wie Geschwister aufgewachsen waren. Warum war sie hier? Wohnte sie wieder in der Nähe? Dann war das ihr erster Tag in dieser Schule.
Er schob beide Hände unter ihren Nacken und wunderte sich über die Wärme, die sie ausstrahlte. Er hob ihren Kopf, sein Gesicht war jetzt ganz dicht über ihrem. Winzige Blutstropfen, vollkommen rund, waren von ihren langen Wimpern aufgespießt worden. Ihre großen Augen starrten ins Leere. Sie glänzten nicht mehr. Wut stieg in ihm hoch, wie heiße Milch in einem Kochtopf. Zitternd legte er ihr hübsches Gesicht auf die kalten Fliesen zurück. Seine Hände klebten vor Blut. Ein Schrei drang an seine Ohren. Es war sein eigenes Geschrei, aber das begriff er nicht.
Nick drängte durch die Tür und erstarrte. Er sah geradewegs in den matten Lauf einer Pistole und nahm die schwarz gekleidete Gestalt dahinter nur schemenhaft wahr.
Ein Augenpaar blitzte Nick gefährlich an. Doch ruhig klang die Stimme, die gedämpft durch den Stoff der Maske drang.
„Was für eine Überraschung. Der Blinzler kommt aus´m Loch gekrochen!“ Die Tonlage verwirrte Nick. Schnell ließ er seinen Blick fallen, suchte jedoch sofort Augenkontakt, als könnte er damit irgendwie die Situation unter Kontrolle halten. Fieberhaft dachte Nick nach. Wer war das?
Nick griff hinter sich und schloss die Tür, ohne den Blickkontakt zu verlieren.
„Geh mir aus dem Weg!“ ungeduldig wedelte die Revolverhand vor Nicks Nase herum „Los, mach schon!“
„Willst du mich nicht erschießen?“ Nick wunderte sich über seine eigene feste Stimme. Als Antwort erwartete er eine Kugel im Kopf. Was hatte er schon zu verlieren? Es gab einen einzigen Menschen, der ihm wirklich etwas bedeutete. Wie sehr hätte sich Daniela über das Wiedersehen gefreut? Nun lag sie leblos hinter ihm. Sich tot daneben zu legen schien ihm folgerichtig.
„Natürlich knall ich dich ab. Aber zuerst gehst du zur Seite. Du dickes Tier versperrst mir sonst den Weg!“ Nicks Angst verflog, wich seinem Zorn. Vor ihm stand die Bestie, die hier herumspazierte und wild um sich ballerte.
Nick ging einen Schritt vor.
„Du richtest hier ein Blutbad an und willst dich verpissen?“
Jetzt war er zu weit gegangen. Er bemerkte wie sich der Finger am Abzug langsam krümmte.
„Ich lass mich von denen doch nicht abknallen wie´n Wildschwein. Ich will sehen wie sie alle jammern!“ Der Körper dieses Scheusals schüttelte sich vor Erregung.
Der Schlagbolzen des Revolvers schnellte nach vorn, schlug auf die Zündkapsel der Patrone, und brachte sie zum explodieren. Das Projektil raste durch den Lauf und riss Nick einen Fetzen Haut vom Kopf, bevor sie hinter ihm im Türrahmen einschlug. Die Schallwellen dieser Explosion tobten in Nicks Ohren und zerfetzten sein linkes Trommelfell. Er krümmte sich, verlor das Gleichgewicht und fiel wie ein hart getroffener Boxer zu Boden. Instinktiv streckte er seine Hände nach vorn, erwartete aber niederzugehen und schloss die Augen. Doch seine Arme fingen ihn kräftig auf. Er war vollkommen orientierungslos, blickte wild umher. Wo war der Schütze?
Dann sah Nick die Tür aus der er selbst gekommen war. Sie stand offen. Der Amokläufer hatte es offenbar eilig, überprüfte nicht, ob er Nick erwischt hatte.
Nick hätte fliehen können. Diesen schrecklichen Ort verlassen. Lebend. Doch da war plötzlich diese Gier. Tausend mal stärker als seine Angst. Nick wollte Rache.
Er wusste was ihn hinter der Tür erwartete und sprang die Stufen mit einem Satz herunter. Halb taub und blind lief er weiter, hatte das Gefühl als berührten seine Füße den Boden nicht.
Nick näherte sich dem Raum, in dem es begann. Hier lagerten Kostüme, Stellwände und Bäume aus Pappe, eine Treppe führte von hier hinauf zur Theaterbühne. Ist er hier rein? Nick zögerte. Inmitten des Raums lagen vier tote Schüler in mittelalterlicher Garderobe. Der einst weiße Stoff hatte inzwischen reichlich vom Blut getrunken. Es war alles so unwirklich.
Die kleine Gruppe war vor wenigen Minuten damit beschäftigt, alte Gewänder und Bauernkleider für ihr Theaterstück anzuprobieren. Daniela war unter ihnen, doch Nick hatte sie gar nicht erkannt. Er interessierte sich nicht für die anderen, sondern steckte kopfüber in einer abseits stehenden großen Truhe und suchte den passenden Hut zu seinem Gewand, das sich bereits über seine breite Brust spannte. Er erinnerte sich noch wie das Kichern der anderen Schüler schlagartig erstarb.
Dann ging es los.
Sie hatten keine Chance. Vier gingen sofort zu Boden. Die Flucht der anderen drei endete kurz darauf im Flur.
Nick war hinter dem aufgeklappten Deckel nicht zu sehen. Er wusste sofort was hier vor sich ging. Niemals hatte er sich vorstellen können, dass es an dieser Schule einen Amoklauf geben würde. Überall aber doch nicht hier! Nick blieb im Gewühl von Kleidern und Tüchern reglos liegen. Er hörte Schritte und kroch vollständig in die Truhe. Er atmete eine Weile nicht, sein Herz schlug verräterisch laut gegen seinen Brustkorb. Er biss sich auf die Lippen. Die Schritte wurden schneller, klangen anders. Der Schütze stieg die Stufen hoch, die direkt zur Bühne führte. Nick kroch aus der lebensrettenden Kiste, verließ diesen entsetzlichen Ort. Nichts wie raus.
Nun war er hierher zurückgekehrt und schlich mit großem Abstand an den leblosen Körpern vorbei, in Sorge sie könnten nach seinen Beinen greifen.
Was war das für ein Geräusch?
Ein schwerer Gegenstand schlug gegen eine Wand. Nick warf sich herum, folgte dem Laut. Es lenkte ihn zurück in den Flur, vorbei an dem Requisitenraum.
Er sah, wie der Maskierte in einer Bodenöffnung verschwinden wollte und stürzte sich auf ihn. Nick bekam den Revolver zu packen. Der Verfolgte handelte blitzschnell, trennte sich von der Pistole, umfasste den Knauf der Bodenplatte und ließ sich fallen. Nick stieß hinterher, erwischte allerdings nur die Sturmmaske und warf sich dann hastig zurück. Die schwere Eisenplatte schnellte herunter und zertrümmerte Nicks rechte Hand, die noch immer die Waffe umschloss. Er brüllte vor Schmerz.
Voller Wut riss er die Metallklappe hoch und richtete die Waffe in das dunkle Loch.
Ein leises Stöhnen drang zu ihm hinauf. Kein Gedanke, kein Zögern, Nick drückte ab. Mehrmals erhellte das Mündungsfeuer den Schacht, und er sah für Sekundenbruchteile in das schmale Gesicht eines Mädchens.
Die Schüsse hallten noch in seinen Ohren, als er den Abstieg wieder verschloss. Vollkommen verstört steckte er die Maske in seine Jackentasche. Langsam drehte er sich um und ging zurück. Er sah Daniela nicht, lief einfach nur zum Ausgang.
Die kühle Morgenluft tat gut.
Ob mein Vater stolz auf mich sein würde?
Nick grinste. Er wollte gerade die Pistole wie eine Trophäe heben, wollte zeigen dass die Gefahr gebannt war, dass er hier die Waffe des Todesschützen in den Händen hielt, als es hinter ihm krachte und Glassplitter auf den Boden regneten.
Er wies auf die Tür und wollte fragen, was das sollte. Anstatt der Worte spritzte Blut aus seinem Hals wie Fett aus einer heißen Bratwurst.
Sind die verrückt?
Er spürte einen beißenden Schmerz und presste seine Hand auf die Kehle. Er wollte ihnen begreiflich machen, dass der Amokläufer dort hinten lag. Versteckt in einem alten Schacht. Doch zwischen seinen Fingern gurgelten nur unverständliche Laute hervor. Nick wurde wahnsinnig. Dort hinten liegt sie! Ich habe sie gestoppt! Versteht ihr denn nicht? Haltet ihr mich etwa einen Amokläufer? Mich?
Den Scharfschützen wurde die Sache langsam zu brenzlig und bremsten ihn mit einem weiteren Schuss.
Dichter Rauch umschlang seine Beine, legte sich wie ein Mantel über beide Schultern, stülpte seine stickige Kapuze über Nicks Kopf. Ohnmacht bohrte sich wie schwarze Daumen tief und schmerzhaft in seine Augenhöhlen. Seine Beine trugen ihn nicht mehr. Er sackte zusammen, sein Gesicht klatschte wie ein rohes Stück Fleisch auf den Asphalt. Dann war es vorbei.