Ophelias Fall
Das fast vollständige, aber in seine Einzelteile zerlegte menschliche Skelett war mitten auf dem Potsdamer Platz aufgeschüttet worden. Fiona Rosenbaum musste jeden Knochen fotografieren und dann in transparente Plastikbeutel packen. Die SpuSi-Mitarbeiterin Muriel Sterngold beschriftete und nummerierte die Tüten dann fortlaufend...siebenundsiebzig os lunatu, achtundsiebzig os pisiforme. Mondbein. Erbsenbein. „Poetisch, so eine Verwesung“, dachte Rosenbaum. Die kriminaltechnische Untersuchung war fast abgeschlossen und die meisten Journalisten hatten sich bereits auf die umliegenden Straßencafés verteilt. Sogar der Ü-Wagen eines ausschließlich werbefinanzierten Internetnachrichtensenders wurde abgezogen, nachdem sich niemand aus dem Einsatzteam bereit erklärt hatte, ein Interview zu geben. Trotzdem war allen in etwa klar, womit der live-stream am Abend eröffnen würde - Zombies am Potsdamer Platz oder irgendwiesowas. Es war ja sonst nichts los im Berliner Sommerloch.
Eine Gruppe japanischer Touristen währenddessen interessierte sich brennend für die Szenerie. Als eine mit Sonys, Fujis, Nikons und anderen Kleingeschützen bewaffnete Artillerie den mobilen Absperrgittern bedenklich nahe kam, war der bis dahin etwas verschlafen wirkende Wachpolizist ohne jegliche Anlaufzeit auf hundertachtzig-plus. „Bleiben'se mal wo Sie sind, sonst gibt’s ne Verwarnung! Det kostet.“ Und um ganz sicher zu sein, radebrechte er auf Englisch. „Nix klick, klick, sonst money, money!“ Die Japaner wichen einen Schritt zurück und guckten ihn ängstlich an. Fiona beobachtete das alles aus sicherer Distanz und grinste, weil sie an einen extra doofen Bullenwitz denken musste. „Warum brauchen Polizisten keine Kondome? - Weil sie einen Gummiknüppel haben!“
*
Fiona Rosenbaum hatte die zunächst auf die Sommermonate befristete Stelle als Dokumentarfotografin des Ordnungsamtes von ihren Jobcenter vermittelt bekommen - da hamse aba Glück jehabt, Künstler braucht sonst keener. Fiona war froh über die neue Stelle. Die paar Euro fünfzig pro Stunde, die sie jetzt verdiente, halfen ihr zwar auch nicht richtig weiter, aber sie hatte endlich wieder einen Grund, morgens aufzustehen. Als Künstlerin hatte sie es nie geschafft sich durchzukämpfen, obwohl sie für ihre ersten Ausstellungen gute Kritiken bekam. Vor allem eine Serie von Fetisch-Fotos, für die ausschließlich Frauen im Alter über siebzig Modell standen, wurde viel beachtet und hätte der Anfang ihrer Karriere werden können. Als die Journalistin eines englischsprachigen Stadtmagazins nicht nur nach Fionas sexuellen Präferenzen, sondern auch nach den ökonomischem Bedingungen junger Künstlerinnen am männlich dominierten Kunstmarkt fragte, hatte Fiona nur geantwortet: „They don't like my cunt and I don't suck dicks!“
Das war's dann erst mal mit der Kunst. Fiona arbeitete ein paar Jahre im Studio eines Neuköllner Photographen, der sich weigerte, auf digitale Fotografie umzusatteln und irgendwann pleite machte - old school eben. Dann kam erst mal lange nichts. Arbeitslosengeld I und II, standardisierte Absagen auf halbherzig geschriebene Bewerbungen, der Gedanke an eine Umschulung – aber als was denn? Nie im Traum wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie einmal als Straßensheriff arbeiten würde. Immerhin musste sie keine Uniform tragen. Fiona wurde morgens ihrer Streife zugeordnet und dokumentierte lokale Verunreinigungen und umweltbezogene Ordnungsprobleme im öffentlichem Raum: wilde Müllkippen am Straßenrand, wehrlos abgefackelte Kinderwägen, jede Menge Graffiti an frischgestrichenen Hauswänden, liegengelassene Hundekacke, aus dem Fenster geworfene Kühlschränke, aufgeschlitzte Kunstledercouchgarnituren oder Matratzen mit eingetrockneten Feuchtgebieten jeglicher Art. Sie hatte sich angewöhnt, von jedem Objekt jeweils zwei Aufnahmen zu machen, eine für die Akte des Ordnungsamtes, eine zweite für sich selbst als möglichen Beginn einer neuen Fotoserie, der sie den Arbeitstitel „Schlimme Verbrechen einfacher Leute“ geben wollte.
Richtig spannend wurde es aber erst an diesem Morgen, als die Dame vom Ordnungsamt um halb sieben anrief, um Fiona mitzuteilen, dass sie in dreißig Minuten von einem Streifenwagen abgeholt werden würde, weil die Kollegen von der KTU gerade keinen Photographen erreichen könnten – Urlaubszeit, wissense.
*
„Ein paar Teile fehlen, Fingerknochen und so, aber im großen und ganzen ist alles komplett“ sagte Muriel Sterngold in ihrem sorgfältig gepflegten Berliner Dialekt, der gut zu ihrem T-Shirt mit der Aufschrift Slut Pride passte, das sie unter dem weißen, leicht transparenten Schutzanzug trug. Sterngold setzte sich neben Fiona in den Schatten des einzigen Segments der denkmalgeschützten Mauerreste, das nicht von oben bis unten mit Kaugummis beklebt worden war. Die Nachmittagssonne spiegelte sich im dunkel getönten Glas des DB-Towers. "Kippe jetzt wäre jetzt perfekt". Fiona atmete ein paar Mal tief durch, um der Versuchung zu widerstehen, Muriel Sterngold, die sich gerade eine American Spirit drehte, um Tabak zu bitten. Auf den Tag genau vor einem Jahr, an ihrem vierundvierzigsten Geburtstag, hatte sie mit dem Rauchen aufgehört. Ein Jahr ohne Zigarette, auch ein Jahr ohne … ach lasses. Heute jedenfalls würde sie nicht wieder damit beginnen.
„Glauben Sie, das war politisch? Heute ist der der soundsovielte Jahrestag seit Hiroshima.“ Fiona kokettierte. Sie wusste genau, wie viele Jahre seit dem Abwurf der Atombombe vergangen waren. Schon als Kind zählte sie ihre Geburtstage in ihrer eigenen Zeitrechnung. An ihrem achtzehnten Geburtstag sah sie im Arsenal zum ersten Mal Hiroshima mon amour. Als das alte Filmkunsthaus später aus Schöneberg ins neugebaute Sony Center am Potsdamer Platz umzog, empfand sie das als Verrat an ihrer Liebe und beschloss nie mehr in dieses Kino zu gehen. „Aber wenn's politisch wäre, dann hätten die das Zeugs doch besser vor der japanischen Botschaft abgeladen.“ Muriel Sterngold drehte sich die nächste Zigarette, „...oder besser gleich bei den Amis am Brandenburger Tor! Und überhaupt, wen interessiert das heute noch?“
*
Kurz nach acht war Fiona zuhause. Sie nahm die SD Karte aus der Kamera und kopierte die Bilder auf ihren Computer. Dann holte sie sich ein Kirsch Porter aus dem Kühlschrank, öffnete das Doppelfenster zum Hinterhof, zog sie sich die verschwitze Bluse samt BH aus und guckte über den Friedhof der Thomas Gemeinde bis hin zum Tempelhofer Feld. Sie liebte diesen Ausblick und wäre dafür bereit, bis an ihr Lebensende Kohlen in den vierten Stock zu schleppen. Schon zweimal hat sie sich erfolgreich gegen eine Modernisierung ihrer Wohnung und die damit verbundene Mieterhöhung gewehrt no paseran!
Um besser aus ihrer engen Jeans zu kommen, legte sie sich auf den Boden. Dann konnte sie nicht länger warten, fasste sich in ihren Schlüpfer und roch nochmal an ihren Fingern. Es blieb ihr kaum Zeit, sich Muriel Sterngold's Brüste richtig vorzustellen, so schnell kam es ihr. Sie dachte an die geöffneten Fenster und biss sich auf die Unterlippe – voll der Audioporno für die Nachbarn. Dann schlief sie ein.
*
Muriel Sterngold saß um 21:00 immer noch im Labor der Rechtsmedizin und betrachtete die Teile des Skeletts unter der Neonlampe des Labortisches - menschliche Knochen, weiblich. Die Verwesung war vollständig abgeschlossen, deshalb vermutete sie, dass die Knochen schon älter waren. Das Skelett konnte zehn, aber auch schon über fünfzig Jahre alt sein. Sie hatte bisher wenig Erfahrung mit forensischer Osteologie. Dies war genaugenommen der erste Fall, den sie allein betreuen musste. Das gesamte Team samt Chef war schon im Urlaub, und der Leiter der KTU hatte auch nicht vor, Überstunden zu machen bestimmt so 'ne Gruftiesache, grober Unfug, das kann warten. Sogar der Date-Radar ihres Smartphones blieb auffällig ruhig. Muriel hatte aber noch keine Lust nachhause zu gehen, schließlich war Sommer und die Nächte angenehm warm – das passende Wetter für rollige Katzen. Daher beschloss sie, noch etwas im Labor zu arbeiten und abzuwarten, was sich ergibt.
Es war der ungewöhnliche Glanz der Knochen, der Muriel Sterngold bereits am Potsdamer Platz auffiel. Im Labor konnte sie schnell festzustellen, dass die Knochen tatsächlich poliert und mit einer dünnen Wachsschicht überzogen waren. Sie fuhr mit der Hand über den Oberarmknochen, der sich glatt und kalt anfühlte, aber nicht unangenehm, fast wie Perlmutt. Sie nahm den Schädel in beide Hände. „Wer bist Du? Eine entlaufene Prinzessin?“ Die Oberfläche des Totenkopfes war ebenfalls glatt, aber die Fraktur am Hinterkopf war nicht zu übersehen. „Auf alle Fälle bist Du bist keines natürlichen Todes gestorben.“
*
Sie erschrak, als ihr Telefon vibrierte und die App eine aktualisierte Liste des Date-Radars anzeigte. Muriel konnte sich nicht entscheiden. Jule, 24 war zu jung. Das Profil einer Monika-Sex machte sie an, aber Muriel fühlte sich gerade nicht in Form für Rollenspiele der anspruchsvollerer Art. Sie war in casual mood. Deshalb trug sie sich zum sexy sky screening im Club der bösen Mösen ein, zu dem eine amerikanische Kunstmäzenin einlud, um Neuerwerbungen aktueller erotischer Videokunst auf der Dachterrasse eines luxus-renovierten Altbaus in Mitte zu präsentierten. Im Anschluss sollten lokalen Künstlerinnen die Möglichkeit haben, eigene Arbeiten zu zeigen, unzensiert und explizit – was fürs Auge eben. Morgen musste Muriel erst die zweite Schicht arbeiten und jetzt wollte sie hinaus in die Nacht. Sie duschte sich noch schnell und ärgerte sich, dass sie kein eigenes Duschgel mitgebracht hatte. „Diese keimfreie Krankenhausseife riecht ja nicht gerade aphrodisierend.“
Als sie ging, gab sie wie immer den Schlüssel für das Labor an der Rezeption ab. Auf dem Fernseher im Eingangsbereich lief die Spätausgabe der Berliner Abendschau. Den rasenden Reporter mit dem penisgroßen Mikrophon in der Hand, der gerade im Bild war, kannte sie seit der friedlichen Kopulation am Abend des neunten Novembers neunzehnhundertneunundachtzig. Muriel saß damals allein in der Küche ihrer Einraumwohnung am Prenzlauer Berg und guckte sich die Volk gewordene Menschenmasse aus heulenden Ossis und kreischende Wessis auf dem flimmernden Westberliner Sender ihres tragbaren schwarz-weiß Fernsehers der Marke Robotron an. Vor allem blieb ihr dieser Abend wegen eben dieses Reporters im Gedächtnis, der stundenlang immer wieder die Worte Wahnsinn, Wahnsinn in die Kamera stammelte.
„Wir war'n schon dran“, sagte der Nachtportier. „Und was ham'se jesagt?“ Muriel kehrte aus ihrer kurzen Zeitreise zurück. „Allet janzschlimm, irgendwat von Störung der Totenruhe, und so'n Experten für Nekrophülie hamse interviewt – Sachen jibt’s. Und wer'n Skelett vermisst, soll sich melden.“
*
Auf den ersten Blick sah die junge Frau wie ein Junge aus, mit dem rot gefärbten Irokesenschnitt, der Tarnhose und dem schwarzen, löchrigen, etwas zu großen T-Shirt. Sie kletterte geschmeidig über die Absperrgitter und schlich um ein leerstehendes, in seinem augenblicklichen Zustand unbewohnbares Haus. Die Fenster und Türen waren mit Holzplatten vernagelt, die gesamte Außenfassade von oben bis unten mit Graffities zugebombt FUCK BANKSY, KAOS AUS DOSEN, URBAN EXPLORER und ganz oben silbrig-blau G.O.D! Durch eine aufgebrochene Hintertür fand sie den Weg ins Haus und streifte dort etwas umher. Dann machte sie schließlich vor einer Wand halt, packte eine Farbdose aus und schüttelte diese zum rhythmischen Klappern der Mischkugel. Sie wollte gerade richtig loslegen, als sie eine laute, scharfe Frauenstimme hörte: „Halt Polizei!“. Sofort warf sie die Dose weg und rannte, verfolgt von der Polizistin durchs marode Treppenhaus nach oben. Als beide im obersten Stockwerk angekommen waren, gab's nur noch ein Keuchen und Stöhnen. Die Polizistin stürzte sich auf die Sprayerin, zerriss ihr dabei das T-Shirt und drückte sie auf den Boden. Dann ein close-up auf ein paar Handschellen. „I have to arrest you!“
Muriel erahnte die Dramaturgie des Films und ging vorsichtshalber zur Toilette nicht dass da gleich ein Riesenandrang ist. Als sie zurückkam, war die Sprayerin immer noch in Handschellen, aber inzwischen fast nackt und auch die Polizistin hatte ihre Uniform ziemlich weit aufgeknöpft. Aber das war es nicht, was Muriel durcheinander brachte. „Das ist doch die Fotografin vom Amt von heute morgen!“ Muriel hatte Fiona nicht gleich erkannt: die blonden Haare standen mit punk-reminiszent nach oben, abgetragene DocMartens zu einer bis hoch an die Hintertaschen abgeschnittenen Jeans, ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt mit Rollkragen, lächelnd, von lächelnden Freundinnen umgeben. „Die scheint hier voll zur Szene zu gehören“. Jetzt erst merkte Muriel, dass sich fast niemand außer ihr selbst die Filme hier anguckte, alle waren busy talking. Das Gefühl, das sie durch diesen ganzen Sommer begleitete, kam jetzt umso stärker in ihr hoch: eine Mischung aus Einsamkeit, die schmerzte und eine dauernde Lust auf Sex, die ihr peinlich war.
Muriel drehte sich eine Zigarette und guckte sich rauchend Berlins beste Lage von oben an. „Wie haben wir das eigentlich früher gemacht? Die Nächte waren dunkler, wir waren subversiv und das machte uns an.“ In ihrer Fantasie stellte sie sich oft vor, dass sie von einem Stasiheini verfolgt wurde, der sich einen abwichste während sie mit abenteuerlustigen Westlesben auf dem Damenklo der Busche ihr Coming-Out zelebrierte. „Darf ich mir eine drehen?“ Muriel erkannte Fionas Stimme, drehte sich zu ihr um und lächelte. „Hi, ... klar.“ Fiona nahm das Päckchen Tabak, das ihr Muriel entgegen streckte. „Lust auf Prosecco?“
*
„Sex has been kidnapped by the male gaze...but we give a damn and go off with ourselves!“ Das Publikum applaudierte der amerikanischen Gastgeberin, die divenhaft die nächsten Filme des sexy sky screenings ankündigte. Nach dem ersten Film, einer mit dem iPhone selbst aufgenommenen und daher ziemlich verwackelten Selbstbefriedigung zur Rusch-Hour in der Umkleidekabine von H&M, beschloss Fiona, sich selbst ein verspätetes Geburtstagsgeschenk zu machen und umarmte Muriel von hinten. Muriel stöhnte leise. „Na endlich.“
*
Die nackte Tänzerin in den leuchtend roten Ballettschuhen drehte langsame Pirouetten auf der Bühne eines leeren Theaters. Die Projektion des Bühnenbilds hinter ihr zeigte eine Flugzeuglandebahn, auf welcher ein Mann mit erregtem Glied auf dem Rücken lag und in den Himmel guckt. Nach einer Weile holte die Kamera seinen Schwanz in Großaufnahme heran und ließ ihn in Slow-Motion ejakulieren. Die nackte Tänzerinnen drehte weiterhin ihre Pirouetten. Dann erlosch das Licht und die Tänzerin duckte sich. Als das Licht wieder anging, war die Projektion eines gelandetes Flugzeugs zu sehen. Die Tänzerin war verschwunden, stattdessen lag ein Haufen Knochen auf der Bühne...
Muriel wachte auf. Es fiel ihr etwas schwer, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Doch als sie die zwei Kaffeetassen und ihren rosafarbenen We-Vibe2 neben dem Bett liegen sah, war sie beruhigt. Sie hatte den besten Sex dieses Sommers nicht nur geträumt und sich wahrscheinlich auch noch verliebt. Fiona musste früh los, weil sie ihre Kamera für die beruflichen Streifzüge durch Berlin noch holen musste – keine Zeit mehr zum pennen. Bis später! Muriel sah auf den Wecker oh shit!
*
„Frau Sterngold, guten Tag!“ rief die Studentin, die als Sommervertretung an der Rezeption arbeitete. Muriel hoffte, dass diese ihren Job einfach absitzen wollte und die Dienstpläne nicht auswendig gelernt hatte eine Stunde Verspätung ist schon krass.
„An die hübsche, dunkelhaarige Dame von der Gerichtsmedizin.“ Die Studentin streckte Muriel lächelnd einen braunen Umschlag entgegen. „Ich denke, damit sind Sie gemeint“.
„Äh, danke …. von wem soll'n das sein?“
„War so'n Typ, schon älter, sah aus wie Karl Marx.“
Muriel war jetzt vollends durcheinander. „Karl Marx? Kapier' ich nicht. Sicher, dass das Ding nicht explodiert?“.
Die Studentin schien kurz nachzudenken. „Der war nicht gefährlich, das merk' ich, ich studiere Psychologie.“
*
Muriel saß an dem kleinen Tisch unter dem Oberlicht in der Küche des Labors. Sie rauchte und trank Kaffee. Vor allem aber dachte sie nach. Der Umschlag war nicht explodiert und auch alle anderen Befürchtungen bezüglich seines Inhalts hatten sich nicht unbedingt bewahrheitet. Oder etwa doch? Wurde sie von einem Verrückten verfolgt? Stalking war gerade groß in Mode. Sie betrachtete das schwarz-weiß Foto, das sich in dem Umschlag befand. Es zeigte eine dieser Westberliner Wagenburgen aus den 80er Jahren. Zwischen bemalten Bauwagen, alten LKWs und allerlei Gerümpel war ein Hochseil gespannt, über das eine Seiltänzerin balancierte. Im Hintergrund war unscharf die Berliner Mauer zu sehen. Muriel gefiel das Bild. Sie war sich fast sicher, dass es am Potsdamer Platz aufgenommen worden war... damals, im Westen. Was sie mehr beschäftigte, war die handschriftliche Nachricht auf der Rückseite des Bildes:
OPHELIA, MEIN GEFALLENER ENGEL
Muriel schauderte. Sie begriff, dass dies alles mit dem Skelett zu tun hatte, das in ihren Labor lag und für das sie sich auf seltsame Art verantwortlich fühlte ausgerechnet Ophelia!
*
An jedem ihrer Todestage hatte er ihre Knochen sorgfältig mit Bienenwachs eingerieben und selbstgeschriebene Gebete rezitiert. Mit diesem Ritual und der Hilfe von Halluzinogenen unterschiedlichster Qualität konnte er seine Liebe zu ihr über 25 Jahre lang aufrecht erhalten. Doch jetzt war müde geworden und wollte die Stadt verlassen. Er wusste noch nicht, wohin er gehen würde – aber er konnte sie nicht mitnehmen, das war sicher. Hatte er sie verraten, weil er sich frei fühlen wollte?
Eines Tages stand sie vor der Wagenburg. „Kann ich bleiben?“ Sie sei von einem Zirkus davongelaufen, weil ihr Vater sie mit einem versoffenen Messerwerfer verheiraten wollte. Er hielt es für wahrscheinlicher, dass sie aus einem Fellini-Film herabgestiegen ist und er verliebte sich sofort in sie. „Du kannst bei mir im Wagen wohnen“ sagte er und sie blieb bei ihm.
Er erinnerte sich an den gemeinsamen Ausflug zu einem abgelegen Friedhof in der Nähe der Villenviertel Grunewalds. Sie wollte zum ersten Todestag das Grab ihrer Lieblingssängerin besuchen. Als sie Nico mit ein paar Joints und einer meditativen Rezitation von The End die letzte Ehre erwiesen hatten, entdeckten sie eher zufällig hinter einem kleinen Waldstück am Wasser einen abgelegenen Teil des Friedhofs. Über dem morschen hölzernen Eingangstor befand sich eine Tafel mit der nur noch schwer zu entziffernden Inschrift "Schone die Steine, die Liebe gesetzt hat den Toten". Die meisten Gräber waren zugewachsen und von Moos bedeckt. Niemand schien sich um ihre Pflege zu kümmern. „Hier schlafen die verlorenen Seelen Berlins!“ Sie war sichtlich berührt. Er dachte oft, dass ihm ihr erregter Zustand damals auf dem Friedhof der Namenlosen hätte auffallen müssen. Aber er war so bekifft gewesen. So saßen sie schweigend am Ufer und guckten aufs Wasser. Dann sagte sie plötzlich „Ab heute nenn' mich Ophelia!“. Zwei Wochen später stürzte sie in ihrem Engelskostüm bei den Proben für sein Theaterstück vom Seil. Er bestattete sie zwischen den Marihuana-Pflanzen hinter seinem Wohnwagen. Niemand wusste , woher sie kam und niemand kam, um nach ihr zu suchen.
Als die Mauer fiel und die Wagenburg ihren Platz am Potsdamer Platz räumen mussten, hatte er sie wieder ausgegraben. Seitdem trug er ihre Knochen in einem Seesack mit sich herum. Er spielte oft mit dem Gedanken, sie auf dem Friedhof der Namenlosen zu bestatten, aber er konnte sich nicht von ihr trennen. Die Idee, ihre Knochen auf dem Potsdamer Platz nahe der Stelle, an der sie vor 25 Jahren gestorben war auszuschütten war ihm plötzlich gekommen. Er dachte, sie verdiene noch einmal die Aufmerksamkeit der Manege. Dann hatte er sich unter die Journalisten gemischt und den Polizeieinsatz beobachtet. Dabei war ihm die dunkelhaarige Frau von der Spurensicherung aufgefallen. Auf dem Weg zum Bahnhof gab er den Briefumschlag für sie ab. Sie würde sich jetzt um Ophelia kümmern. Er aber würde gleich in einen Zug steigen und nie wieder nach Berlin zurückkehren.
*
„Immerhin ist sie ein gefallener Engel und wir haben sie gefunden!“ Fiona druckte die Aufnahmen, die sie von Ophelias Knochen auf dem Potsdamer Platz gemacht hatte auf ihrem schwarz-weiß Printer aus. Muriel beschriftete die Kopien, l nicht mit mit medizinischen Fachbegriffen, sondern mit Originalzitaten aus Hamlet, die sie aus einer roten Reclam Textausgabe abschrieb but I cannot choose but weep .
„Was is'n das für 'ne durchgeknallte Galerie, in der wie die Ausstellung zeigen?“ „Kenn' ich noch von früher.“
Draußen über dem Tempelhofer Feld flackerte ein Blitz auf, gefolgt einem fernen Donnern. „Lust auf Musik?“ Fiona zog eine Hülle aus einem mindestens eineinhalb Meter hohen Schallplattenstapel in der Ecke ihres Zimmers und legte die Vinylscheibe auf den ebenso alten wie zuverlässigen Technics Baujahr 1989.
„Es wird gleich regnen“ sagte Muriel. Als der Sänger mit der markanten Bass-Bariton-Stimme den Refrain anstimmte, fielen die ersten Tropfen Love, Love will tear us apart again. „Alles wird gut!“ antwortete Fiona.
*