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Plötzlich
Die Tür hatte er gar nicht aufgehen gehört. Dies war insofern bemerkenswert, da die alte Holztür, die schwerfällig in ihren Angeln lag, sonst immer laut knarzte, als litte sie selbst unter ihrem Gewicht. Er hatte sie nie ersetzt, auch nie einen Gedanken daran vergeudet, denn ihm gefiel es ja, dieses alte, schwerfällige Stöhnen der Tür. Es erinnerte ihn stets daran, dass das Alte doch schön war, und warum sollte man das Alte durch neues ersetzen, wenn es schön war? Man ging dann ja nur das Risiko ein, dass es danach schlechter sein würde, als das, was man bereits hatte. Und da es eben schön war, war die Chance gross, dass das Neue in irgendeiner Weise schlechter wäre. Jetzt richtete er den Blick auf den Herrn, der da nun also stand, wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Es hatte ihn wütend gemacht, dass die Tür nicht ihr Stöhnen von sich gegeben hatte. Also erkundigte er sich, wie er das denn geschafft habe, das sei ihm doch noch nie passiert, dass die alte Tür nicht geknarzt hatte, und es zeuge von einer gewissen Respektlosigkeit, dass, wenn man doch so schleichend eintrete, nicht wenigstens vorher anklopft. „Nun ja“, antwortete der andere und zuckte leicht mit den Schultern, „so ist es eben mit meinem Wesen“. Er verstand nicht, wollte aber auch nicht von diesem jungen Herrn, der, wie er festzustellen schien, kein Mann war, der lange an einer Sache bleiben konnte, ohne gleich wieder – die Neugierde sah er in seinen Augen, sie war ihm schon zu Beginn aufgefallen - von etwas anderem abgelenkt zu werden, belehrt werden. Dieser Jungspund, dieser Schnösel, er hatte keine Erfahrung, wie konnte er sie auch haben mit seinen jungen Jahren. Und trotzdem besass er die Frechheit, bei ihm, einem alten und respektierten Mann, dem eben diese Erfahrung wichtiger war als alles Geld, das er mit ihr verdiente, einfach so ohne Anmeldung einzutreten. Er verstand die neuen Erziehungsmethoden nicht – das Verhalten des jungen Mannes hatte ja sicherlich mit ihnen zu tun. Jetzt gab es junge Psychologen, vielleicht solche, die dem Wesen des Mannes vor ihm nicht wenig glichen, die voller Ehrgeiz und Elan, von ihrem rebellischen und fast revolutionären Eifer getrieben, alles Alte denunzierten und verbessern wollten. Und das Ergebnis dieses Wahnsinns war doch offensichtlich, die Gesellschaft verdummte ohne Zweifel. Hätten sie es doch lieber gelassen, diese aufgepusteten Revolutionäre, dann wäre alles beim Alten, beim Besseren geblieben.
„Was willst du eigentlich hier? Ich habe dich nicht rufen lassen, dich nicht gebeten herzukommen. Ja wer bist du überhaupt?“, fragte er den jungen Mann in einem Ton, der von Überlegenheit nur so strotzte und bei dem ein nicht sehr selbstbewusstes Geschöpf wohl bereits zusammengekauert wäre. Der junge Mann aber lächelte und nahm es dem Alten nicht übel, denn er konnte ja seinen Beweggrund, ihn aufzusuchen, nicht im Geringsten auch nur erahnen. Er sah dem verbitterten alten Greis jetzt tief in die alten grau-silbernen Augen, die ihn an das Meer bei Mondlicht erinnerten, und sagte mit einer Bestimmtheit, die man ihm nicht zugetraut hätte: „Mein Name ist Herr Plötzlich, und ich bin ihr Tod“.
Da sprang der Alte in einem Sprung auf - er schien dabei seine Altersschwäche irgendwie zu umgehen – und nahm tief Luft. Die Schweisstropfen auf seiner faltigen Stirn formten sich zu immer grösseren Perlen, die dann in eiligem Tempo über die Wölbungen seiner leuchtend rot gewordenen Haut hüpften. Die Augen waren aufgerissen und das Meer darin jetzt stürmisch, und die Sehnen und Adern seines alten Körpers waren nun noch besser sichtbar, er verkrampfte sich stark. Dann endlich spuckte er aus: „Was erlauben Sie sich eigentlich! Von allen Frechheiten, die mir in meinem Leben schon zu Teil wurden, ist dies die Unerhörteste! Sie platzen einfach so in mein Zimmer, stören meine Ruhe mit ihrem unverschämten Geplapper und erlauben sich, mit mir einen solchen Spass zu machen! Sie der Tod!“, er sprach jetzt mit voller Verachtung, „Sie wollen der Tod sein. Der Tod ist alt, er war schon immer da, er wird immer da sein. Sie aber sind jung, haben keine Ahnung vom Leben, aber wollen mir das meinige nehmen.“
Der junge Herr Plötzlich sah ihn traurig an, er konnte ihn ja verstehen. Dann sagte er beinahe tröstend: „Nun, es ist mein Wesen, sie zu töten, daran kann ich nichts ändern, auch wenn ich es möchte. Wir werden als das geboren, was wir sind. Sie, Herr Beständig, sie können mit mir nicht existieren. Und sie hatten ja ihr langes Leben, verfügen über Erfahrungen, von denen ich nur zu träumen wage. Der Tod ist, zumindest in Ihrem Falle, nicht alt und kann es auch nicht sein. Wie soll er denn? Sie sind ja der Alte. Der Tod ist für jeden ein anderer, und seien sie doch froh mit ihren zahlreichen Jahren, denn ich werde heute auch sterben. So jung bin ich, und doch werde auch ich sterben, aber erst müssen sie es tun.“ Der alte Herr Beständig schwieg, was sollte er denn tun. Nach einigem Nachdenken fragte er: „Und wer ist Ihr Tod?“. „Meiner ist Herr Neues, er wird mich kurz nach Ihrem Tod aufsuchen“. Der Alte begriff allmählich, und wie er gerade daran war, das alles zu verstehen - schliesslich war ja bisher in seinem Leben immer alles gleich gewesen – spürte er, wie das Leben langsam aus seinen alten Knochen wich, leise und fein wie Nebeldunst aus seinen Adern nach aussen hauchte. Es passte zu dem wieder ruhig gewordenen Meer in seinen Augen, wie Herr Plötzlich fand, er bedauerte jetzt fast seinen Tod, war aber auch gespannt auf Herrn Neues. Dieser liess nicht lange auf sich warten und platzte mit einer ungeheuren Frische herein, die den ganzen Raum einzunehmen schien. Die Tür schrie bei diesem Hereinstürmen laut auf. „Was ist denn das für ein grauenhaftes Geräusch?“, fragte er verwundert. Er hob die schwere Tür aus den Angeln, die dabei ihr letztes Stöhnen von sich gab, und es schien, als würde sie endlich von ihrem Leiden erlöst werden. Dann sagte der Herr Neues vergnügt und mit funkelnden Augen zu Herrn Plötzlich: „Die wird, nachdem ich Sie getötet habe, gleich als Erstes ersetzt.“