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Rotthausen, 3. Mai 2004

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Rotthausen, 3. Mai 2004

Eine Alternativwelt-Geschichte


»Du kanntest Markus doch, oder?«
»Nicht sehr gut.« Ich will nicht an ihn erinnert werden. Ein Kollege von früher hat immer gesagt: »Selbst schuld – kein Mitleid.« Und Markus ist selbst schuld an seinem Tod. Niemand hat ihn gezwungen, Soldat zu werden. Ich weiß auch nicht, warum ich hier auf dem Parkplatz am Revierpark stehe und mit Jürgen rede. Ich bin nicht aus Freundschaft zu dieser Verabredung gekommen. Eher aus Neugier. Deshalb: »Also, was willst du?«
»Veronika ist bei mir.«
Das ist eine Überraschung. Die Kleine hat es nicht verkraftet. Kein Wunder. Markus hat sie von ihrer Magersucht geheilt. Sagt sie jedenfalls immer. Seit er weg ist, geht es mit ihr wieder bergab. Zuerst hat sie jede Sendung aus dem Irak gegafft. Seit sie ihr gesagt haben, dass er bei einem Bombenanschlag getötet wurde, hat sie ihre Wohnung drüben in Katernberg fast nicht mehr verlassen.
»Ich hab ein ziemlich schlechtes Gewissen«, sagt Jürgen. Aha. Ob ich das Richtige denke?
»Spinnst du?«, frage ich, packe seine Schulter, zwinge ihn, mich anzusehen. Er weicht aus. Ich fixiere ihn. »Was hast du mit ihr gemacht?«
Jetzt sieht er mich doch an. Schuldig. »Komm mit, jemand muss ihr helfen.«
»Helfen. Ich.« Irgendwie bitter, aber ... na gut. Ich klettere auf den Beifahrersitz. Jürgen scheint ein Dankesgebet zu sprechen, bevor er ebenfalls einsteigt, den Wagen anlässt und losfährt.
Jürgen fängt immer von alleine an zu reden. Jedenfalls, wenn keine Musik läuft. Ich drücke den Knopf, mit einem Klick geht das Autoradio aus. Zwei Ampeln Schweigen. Dann redet er. Er hat sie angerufen, nur so. Gestern. Dann ist er einfach hin. Hat Alcopops mitgebracht, aber sie verträgt nicht viel. Hat sie überredet, tanzen zu gehen, sie solle nicht immer zuhause sitzen. Irgendwie ist sie dann wirklich mit. Hinterher sind sie dann zu ihm. Er hat sie gevögelt und jetzt weigert sie sich, wieder zu gehen. Oder sie kann es nicht. Oder sie ist einfach fertig.
Steeler Straße. Wir sind da.
Kaum stehe ich in Jürgens winzigem Zimmer, weiß ich Bescheid. Der Boden liegt voller Krempel, ich muss mir einen Weg zum Bett suchen. Da sitzt sie. Das Laken hängt halb raus, die Kissen durcheinander, dazwischen Veronika, bleich wie das Laken, strähnige Haare, nichts an, nur ein T-Shirt von Metallica. Es ist Jürgens. Sie hat sowas nicht.
»Hi«, fange ich an, aber sie starrt nur auf den Fernseher. Ich könnte ihn ausschalten, aber wenn sie auf der Intensivstation einen künstlich beatmen, zieht man auch nicht einfach den Stecker.
»Sie kommt nicht damit klar«, sagt Jürgen. Er steht da neben dem Fernseher, starrt auf den Boden, die Arme in die Seiten gestützt, als frage er sich, wer den ganzen Müll in seinem Zimmer abgeladen hat. »Halt die Klappe«, sage ich. »Mach mal nen Tee oder so.« Er wankt in die Küchenecke.
Der Fernseher zeigt den Kanzler. Er erzählt, dass unsere Soldaten im Irak eine wichtige Aufgabe erfüllen. Dass wir weiter an der Seite unserer amerikanischen Freunde stehen werden.
Veronika scheint es gar nicht wahrzunehmen. Ihre Finger spielen mit der Ecke eines Kissens. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Wo hat sie nur die Fernbedienung?
»Verfluchtes Arsch, dieser Stoiber«, murmle ich mit einer Geste zum Bildschirm.
»Hab ihn nicht gewählt«, sagt Jürgen und hantiert mit Tassen und Wasserkocher. Etwas mehr als die Hälfte hat ihn aber gewählt. War eine knappe Angelegenheit.
Sie zeigen eine Friedensdemo. »Stoiber weg«, steht auf einem Spruchband. Ich frage mich, welcher Sender das ist. Die meisten würden sowas nicht zeigen. »Spiel mit dem Feuer«, sagt der Innenminister immer über diese Demos und hebt den warnenden Zeigefinger.
»Sie wollen mir Rafael wegnehmen.«
Ich habe mich wohl verhört. Ich sehe Veronika an. »Was?«
»Erziehungsheim«, sagt sie so leise, dass ich es kaum verstehe.
»Warum?«
Sie antwortet nicht. Ich kann es mir denken. Das Sozialamt weiß ziemlich genau, was mit ihr los ist, die haben ja ihre Leute. Da hilft es auch nicht, dass der kleine Rafael meistens bei ihren Eltern ist. Vater gefallen im Irak, Mutter psychisch auffällig. Fernsehsucht, Apathie. Was weiß ich. Natürlich haben sie bürokratische Ausdrücke dafür, die irgendwie gefühllos klingen, hinter denen verstecken sie sich. Gefühllosigkeit ist bei denen Einstellungsvoraussetzung.
Der Teekocher brodelt und klickt, Jürgen gießt den Tee auf. Ich weiß nicht, ob er gehört hat, was Veronika gerade gesagt hat. Erst nehmen sie ihr den Mann weg, dann das Kind. Habe ich gerade noch »selbst schuld – kein Mitleid« gedacht?
Verdammt. Ja, er war überzeugt, das richtige zu tun. Friedenseinsatz. Klar wollen wir Frieden. Aber da sind welche, die einen anderen Frieden wollen. Und sie wissen, wie sie uns das mitteilen können. Indem sie unsere Leute in die Luft jagen. Und den Dom. Genau jetzt beratschlagen sie über neue Ziele.
Ich sitze hilflos da. Bis zur nächsten Wahl sind es noch zwei Jahre. Ich sehe Veronika an. Diesen Schaden kann keine neue Regierung reparieren. Niemand kann das. Ich auch nicht, aber ich versuche es wenigstens. Ich nehme sie in den Arm. Aber sie will nicht, zieht sich zurück.
Jürgen kommt mit dem Tee.
»Ich wollte ihr helfen«, sagt er und stellt die Tassen ab.
»Du wolltest sie ficken. Fühlst du dich scheiße?«, frage ich ihn. »Du fühlst dich noch nicht scheiße genug. Arschloch. Ich hoffe, dass dir der Schwanz abfault.«
»Ich wollte es aber«, sagt Veronika.
Jetzt reichts mir aber langsam. »Verdammte Scheiße, ihr wart besoffen, deshalb wolltest du das.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du verstehst das nicht«, sagt sie. »Wenn wir heiraten, kann ich Rafael behalten. Ich meine, wir.«
Jürgen fällt fast die Tasse aus der Hand. Papa spielen steht nicht auf seiner Liste.
Ich grinse. »Ich frage mich, was ich noch hier mache. Ihr habt einiges zu besprechen, glaube ich.« Ich nehme eine Schluck Tee. »Ich kann ja dann den Trauzeugen spielen.«
Jürgen gafft nur.
»Du willst ihr helfen?«, frage ich ihn. »Dann los.« Ich stehe auf. »Danke für den Tee.«

 

Hi Uwe,

über den ersten "Irak" bin ich noch nicht gestolpert und fragte mich unverdrossen, warum Science Fiction. Beim zweiten "Irak" habe ich es dann aber noch vor "Stoiber" gemerkt.
Sehr lakonisch deine Geschichte, sehr sarkastisch deine beiden männlichen Protagonisten und bei aller Verzweiflung auch sehr berechnend, deine Veronika. Und schon fragt man sich, ob es die Zeiten sind, die Menschen so zynisch werden lassen.

Ein toller Beweis, dass es nur kleiner Änderungen für einen gelungenen SF-Plot braucht. Und eine tolle Umsetzung deines selbst formulierten Anspruchs an die Gattung.
Ein Fehler ist mir aufgefallen, es sei denn, im Pott sagt man es so.

»Verfluchtes Arsch, dieser Stoiber«, murmle ich mit einer Geste zum Bildschirm.
Verfluchter Arsch oder verfluchtes Arschloch


Lieben Gruß, sim

 

Hallo Uwe,

im Gegensatz zu Beschneidung finde ich diese Geschichte stilistisch viel sauberer, mehr auf den Punkt gebracht, was aber auch am realen Szenario liegen mag. Realistisch dargestellt auch die Charaktere, der passive Schrecken des Krieges. Emotionen erzeugst du durch die unmittelbare Nähe des Geschehens, eben Deutschland; stimmt, wir hätten genauso gut in den Krieg ziehen können.

Ojektiv also eine sehr gute Scifi Story, die vielen gefallen dürfte. Subjektiv spricht mich diese Geschichte nicht so stark an, da mir persönlich Storys am Besten gefallen, die ein wenig stärker verbrämt sind, keine derart nackte Realität.

Liebe Grüße

Der Schöngeist

Dante_1

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke für eure Bemerkungen!
Ich habe hier absichtlich versucht, nahe an den Figuren zu bleiben, die sich aber trotzdem nicht schematisch, sondern unvorhersehbar verhalten. Ging mir übrigens beim Schreiben ganz ähnlich: Die Figuren wurden lebendig und von sich aus aktiv. Ich habe das dann nur noch aufgeschrieben. Wirklich geplant war nur die Sache mit Stoiber als Wahlsieger, dem Irak-Krieg und der wegen ihres getöteten Freundes fertigen Frau. Eigentlich ist der Hintergrund der Geschichte: Was wäre, wenn es keine Oder-Flutkatastrophe gegeben hätte? Schröder hätte die Wahl knapp verloren, und die Unionsregierung wäre an der Seite der Alliierten in den Irak gezogen. Ursprünglich hieß die Story "Niedrigwasser", aber diese Sache habe ich dann völlig rausgenommen, weil es irrelevant ist: Die Menschen in meiner Welt wissen ja gar nicht, dass es ein Hochwasser hätte geben können.

Alternativweltgeschichten haben eine besondere Faszination. Wichtig finde ich, dass sie nicht einfach die alternativen Geschehnisse protokollieren, sondern die Menschen zeigen: Nicht nur "Was wäre, wenn ..." sondern "Was würde ich fühlen, wenn ... ?"

Ich rufe alle unsere SF-Autoren auf, das hier bei kg.de etwas vernachlässigte, aber sehr inspirierende Subgenre der Alternativwelten vermehrt zu bearbeiten.

 

Hallo,

als Alternativ Welten Bücher kenne ich nur "Das Orakel vom Berge" von P.K.Dick und "Vaterland" von Robert Harris, werde mich aber trotzdem mal an einer Geschichte versuchen. :)

Grüße

Dante_1

 
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Das "Orakel" habe ich mir jetzt auch endlich mal besorgt und lese es im Urlaub in 2 Wochen :D
Ein interessanter Hintergrundartikel zu Alternativweltgeschichten ist übrigens im aktuellen Nova 5. Da heißt das übrigens "kontrafaktische Geschichte". U.a. wird darin gesagt, dass es keine Geschichte "Was wäre, wenn der Staatsstreich am 20. Juli 1944 gelungen wäre?" gibt. Da traue ich mich aber nicht ran.
Gibt es eigentlich hier noch andere Alternativweltgeschichten?
Man könnte mal eine Liste zusammenstellen und einen Workshop-Thread dazu aufmachen.

 

Hi Uwe,
Deine Geschichte ist für mich extrem greifbar. Beinahe zu greifbar. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich zu sehr mit Veronika identifiziere, obwohl ich das Glück hatte, dass mein Mann dreimal in einem Stück aus diesen sogenannten Friedenseinsätzen zurück gekommen ist. Ich kenne mich in der Welt der Politik zu wenig aus, um wirklich eine brauchbare Meinung dazu zu haben. :(
Deine Geschichte finde ich sehr gut beschrieben.
Deine Personen sehr real. Das Ganze lässt mich nachdenken. Tatsächlich...was wäre wenn...? :confused:
Deinen Stil finde ich bemerkenswert.
Hat mir ausgesprochen gut gefallen. :thumbsup:
Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie :)

 

hi uwe,

ehrlich gesagt interessiert mich science fiction sonst herzlich wenig, insofern lese ich eigentlich nur wenig aus dieser rubrik. denn ehrlich gesagt, ist es mir ziemlich egal, ob luke skywalker nun die macht hat oder auch nicht. ;)
zum lesen hast du mich durch den titel gekriegt, und - um es vorweg zu nehmen – ich habe es nicht bereuht.
deine geschichte gefällt mir wirklich gut, im gegensatz zu dante_1 mag ich gerade das realistische daran. insofern werde ich immer wieder gerne alternativweltgeschichten von dir lesen.

zwei anmerkungen:

1. »Spiel mit dem Feuer«, sagt der Innenminister immer über diese Demos und hebt den warnenden Zeigefinger.
Für mich (!) wäre es noch bedrohlicher, wenn dieser innenminister herr koch wäre. wäre ja fast noch gräßlicher als orwells 1984 utopie ;).

2. Markus hat sie von ihrer Magersucht geheilt. Naja, oder abgelenkt.
ich finde nicht, dass veronika wie eine magersüchtige agiert. ich habe leider persönlich viel mit der krankheit zu tun, weil mein freundin darunter leidet. natürlich ist jeder mensch anders, und womöglich hast du bei dieser figur jemanden bestimmtes im kopf gehabt, dennoch glaube ich, dass eine magersüchtige anders handeln, ihren schwerpunkt anders setzen würde. darum nur als vorschlag: wie wäre es, wenn veronika depressiv wäre? aber wie gesagt, nur ein vorschlag, die magersucht macht die geschichte nicht schlechter.

gruß sebastian

 
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Hi Kürbiselfe!
Freut mich besonders, dass ich offenbar die richtige Stimmung getroffen habe, um die Problematik des lebensgefährlichen Einsatzes einzufangen.

Hi Sebastian!
Tja, SF ist nicht unbedingt Space Opera. Im Gegenteil: Je weniger irreal eine Handlung wirkt, umso tiefer kann ein Leser eintauchen. Weniger Space Opera ist mehr Tiefe. SF muss nicht tausende Jahre in der Zukunft, tausende Lichtjahre entfernt spielen. Es können auch 3 Sekunden oder 3 Paralleluniversen sein ;)
zu 1. Ich habe den Namen des Innenministers absichtlich offen gelassen. Ich hätte den aus Stoibers Schattenkabinett nehmen können (Beckstein), aber da das bei einer eventuellen Regierungsbildung mit der FDP deren personellen Beitrag natürlich nicht berücksichtigt, war es mir zu spekulativ, mich da auf einen Namen festzulegen. In dem Fall kommt es aber nicht auf den Namen an, sondern auf das "bedrohliche", das ja offenbar auch rübergekommen ist.
zu 2. Vielleicht habe ich das Problem mit der Magersucht zu sehr vereinfacht. Veronikas berechnendes Verhalten ist aber genau wie die (überwundene(?)) Magersucht und ihr Abkapseln nur Teil ihrer Persönlichkeit, die ich absichtlich a) komplex, b) unvollständig und c) nur angerissen habe. Es soll andeuten, wie kompliziert die ganze Lage ist, wir unüberschaubar die Probleme. Denn ihre Idee, Jürgen zu heiraten, ist natürlich auch nicht wirklich eine Lösung. Es ist eine Idee, die an Naivität kaum zu überbieten ist und in gewisser Weise Veronikas Verzweiflung zeigt.
Ich habe die Stelle jetzt aber trotzdem geändert: "Sagt sie jedenfalls" statt "Naja, oder abgelenkt". Das ist glaubwürdiger, denke ich. Sie macht sich was vor, sie idealisiert ihren toten Freund. Das passt zu meinem Bild von ihr.

 

Tach Post! :D


Eine Alternativwelt-Geschichte
:dozey: Na gut, vielleicht ist dieser Hinweis für einige wirklich notwendig, ich finde ihn eher überflüssig.

Also mir persönlich ist das ganze zu langweilig, man liest, und bis auf "Stoiber" und "unsere Soldaten im Irak" interessiert es mich nicht wirklich, was da geschieht. Der Text ist schlicht gehalten, fördert damit den Lesefluss, ist also nicht schlecht.

Größter Schwachpunkt ist mE der gewählte Plot deiner Alternativ-Geschichte. Klar, Irak ist brandaktuell, aber so richtig vom Hocker haut es mich nicht. Vielleicht liegt es gerade an der Aktualität. Möglicherweise hätte ein geschichtliches Thema aus der ältern/jüngeren Vergangenheit (Stichpunkt Kuba-Krise, Wendezeit etc) und die damit verbundenen Entwicklungen bis zur heutigen Zeit besser gewirkt.

Persönlich glaube ich auch, dass man Schröder, Stoiber und mit Abstrichen Merkel eh beliebig miteinander austauschen kann, hätte die Regierung Ja zu einem Irak-Einsatz gesagt, hätte die Oposition für Nein plädiert. Andersrum genauso, und so ist es ja auch gekommen.

Mein ganz persönliches Fazit: Kurzer Text, den man in einem Rutsch durchliest, bei der Themenwahl aber etwas unglücklich, weil langweilig aktuell.

Gruß,
Poncher

---

Wer sich für den Beruf Soldat entscheidet, dem dürfte klar sein, auf was er sich unter Umständen einläßt. Das gilt für jeden Beruf.

 
Zuletzt bearbeitet:

Grumpf, Jürgen natürlich.
Danke für Deine Bemerkungen, Poncher.
Die Themenwahl liegt in der Tat in der Aktualität begründet. Für sauber recherchierte, "historischere" Alternativszenarios fehlt mir, fürchte ich, der Background. Aber ich habe künftig vor, in diese Richtung mehr zu experimentieren.
Eine Alternativweltstory zur Kuba-Krise wäre aber eine ganz andere, und ich wollte nicht irgendeine, sondern diese schreiben. Davon abgesehen gibt es zu den großen Momenten der Weltgeschichte schon diverse Alternativ-Geschichten, zu aktuellen Dingen eher weniger.

Was die Austauschbarkeit der Regierenden angeht, stimme ich Dir grundsätzlich zu. Die Frage, ob Schröder in der Opposition für einen Irakeinsatz wäre, wenn eine Unionsregierung dagegen wäre, und ob er damit eine Wahl gewinnen würde - tja, das wäre schon wieder eine andere Alternativweltgeschichte :)

 

Hallo, Uwe!

Ich mach's mal kurz, is warm! :D

Atmosphärisch und stilistisch hat mir die Geschichte recht gut gefallen, die Charaktere wirken sehr lebensecht, ein spartanisch ausgeleuchtetes Portrait der kleinen sozialen Probleme zu Beginn des neuen Jahrtausends.

Womit ich schon bei meinem Hauptproblem bin: Offenbar musst Du selbst bereits deutlich daraufhinweisen, dass es sich um eine Alternativweltgeschichte handelt. Denn im Grunde ist es m.E. gar keine. Dieser Plot mit diesen Charakteren und diesen Problematiken könnte sich praktisch exakt so auch in unserer "Dimension" ereignen. Lediglich ein paar (extrem austauschbare) Begrifflichkeiten wären geringfügig anders (ersetze "Irak" durch "Afghanistan", "Stoiber" durch "Schröder", "Friedensdemos" durch "Anti-Harz-IV-Demos" - das Szenario bleibt in meinen Augen mehr oder weniger das gleiche).

Der Kern einer Alternativweltgeschichte ist in meinen Augen, dass im Plot, in den Charakteren etc. Dinge beleuchtet/erzählt werden, die so eben einzigartig und nur in dieser Alternativwelt denkbar sind. Das gesamte Szenario einschließlich der geschilderten Ereignisse sollten tunlichst abhängig von den speziellen Bedingungen dieser Alternativwelt sein. Das ist in dieser Story m.E. praktisch gar nicht der Fall. Sie könnte im Grunde genau so, wie sie ist, auch unter "Alltag" stehen, und vielen würde wahrscheinlich nicht mal auffallen, dass der Kanzler anders heisst...

Mein Fazit: Stilistisch gut gemachtes Schlaglicht auf soziale Problematiken mit minimalstem SF-Anteil bzw. dem m.E. zu Unrecht vergebenen Label "Alternativweltgeschichte".

Gruß,
Horni

 
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@ Horni: Tja, da ist allerdings was dran ... :)

 

Also kurz gesagt: Hätte für meinen Geschmack eine Spur länger sein können, aber auch in der Kürze hat sich die Stimmung ziemlich gut enfaltet. Der Einstieg ist vielleicht etwas langatmig, aber spätestens wenn man weiß worum es geht ist die Geschichte sehr gut lesbar.

Gerade Alternativweltgeschichten über anders ausgeganene Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit (11.9, Präsidentenwahl USA...? ) sind ja vielleicht ganz besonders interessant und sicher etwas vernachlässigt, während Geschehnisse um den 2. Weltkrieg oder "was wäre wenn es die Monarchie/das Römische Reich... noch gäbe" womöglich schon als strapaziert gelten und es schwierig ist, hier was innovatives zu schreiben.

 
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Hi Horni!
Dass die Unterschiede zur Realität so gering sind, ist mir durchaus klar und kann durchaus als Aussage verstanden werden - es geht ja auch um eine "kleine" Änderung, ein Ereignis, das noch nicht lange zurück liegt und daher wenig Folgen hat (im Gegensatz z.B. zu "wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte", dem wohl häufigsten Alternativwelt-Szenario).

Ich weiß jetzt gerade nicht, wieviele deutsche Soldaten in Afghanistan umgekommen sind. Es sind sicher nicht so viele, wie im von mir gewählten Szenario (obwohl ich nur einen Fall herausgreife und keine Zahl nenne - die Demos und die TV-Berichterstattung zeigen aber, dass es mehr als nur eine Handvoll sind).
Man könnte übrigens nicht Friedensdemos durch Anti-Hartz-IV-Demos ersetzen, weil die nichts mit dem Irak- bzw. Afghanistan-Krieg und damit letztlich nichts mit meiner Änderung im Geschichtsverlauf zu tun hätten - sie würden dann gar nicht in die Geschichte gehören. Über Afghanistan berichtet nicht ununterbrochen das Fernsehen, bei hunderten toten Deutschen im Irak wäre das anders. Veronika hätte also gar nicht süchtig nach diesen Sendungen werden können.
Was ich vielleicht nicht deutlich genug rüber gebracht habe, ist die grausame Selbstverständlichkeit, mit der die vielen Toten hingenommen werden; denn nur eine Minderheit demonstriert, es gibt keinen Generalstreik, d.h. keinen ultimativen Druck auf die Regierung. Hier hätte ich in der Tat noch ausführlicher berichten können, allerdings hätte ich dann meine Hauptfiguren etwas aus dem Auge verloren.

Ja, es ist eine kleine Änderung. Aber es ist eine, darauf bestehe ich :teach:
Eine tiefere, komplexere Alternativweltgeschichte sprengt eigentlich den Rahmen einer Kurzgeschichte: Man muss eine ganze Gesellschaft stimmig darstellen, mehr als nur ein paar Menschen. Die meisten Alternativwelt-KGs greifen solche einzelnen Aspekte heraus (Buchtipp: "Hiroshima soll leben", Heyne, leider vergriffen) - und das facettenhaft, so dass man kein Gesamtbild erhält. Komplettere, tiefgehende Plots bleiben Romanen vorenthalten ("Der Zensor" von Hammerschmitt, "Das Orakel vom Berge" ...).

Hi madmaxx,
ja, wenn ichs recht überlege, ist der Einstieg etwas langatmig. Vielleicht fällt mir da noch ein, wie ich das verbessern kann. Danke für den Hinweis!

Ich nehme diese lebhafte Debatte hier aber als Anregung, mich mal an einer tieferen Alternativwelt-Story zu versuchen.

 

Hey, Uwe!

Ich denke, es wäre u.U. interessant, zu überlegen, wo eigentlich die Grenze liegt zwischen einfacher Fiktion und waschechten Alternativwelten. Denn streng genommen ist ja jede fiktive Erzählung "kontrafaktisch"...

Aber darum geht's mir noch nicht mal so sehr. Das Hauptmanko dieser Geschichte ist m.E. folgendes:

Du breitest einen alternativen historischen Hintergrund aus (wie detailliert der ist oder nicht, spielt erstmal gar keine Rolle) und lässt dann aber leider auf dieser Folie einen Plot ablaufen, der im Grunde vollkommen beliebig ist, d.h. er hat nur wenig bis gar keinen Bezug auf diese spezielle historische Situation, sondern könnte sich eben exakt so auch woanders abspielen. Denn der Plot ist ja in den Grudzügen: Wir haben eine Soldaten-Witwe, die ihren Schmerz mit Medienkonsum betäubt, die magersüchtig und was weiß ich noch alles ist, die die Wegnahme ihres Kindes durch eine Unvernunftheirat verhindern will. Dann gibt es da noch einen "Freund", der ihre Verzweiflung sexuell ausnutzt und einen Dritten, dessen funktionale Rolle (abgesehen von der des Chronisten) mir noch etwas schleierhaft ist. Für mich fehlt hier einfach die untrennbare Verbindung mit dem speziellen historischen Szenario.

Vielleicht wird es deutlicher mit einem Beispiel, wo es anders ist (ich saug mir mal eben schnell was aus den Fingern, ich hoffe, es wird dennoch deutlich, worauf ich hinaus will....)

Exakt das gleiche historische Szenario, die Stimmung überwiegend Pro-USA usw. - und dann haben wir die Geschichte eines Bundeswehrsoldaten, der sich unter amerikanischem Oberkommando in Abu-Graib wiederfindet und plötzlich vor der Entscheidung steht, ob er u.U. ein internationales politisches Fiasko auslösen soll, indem er seinem Gewissen folgt und den militärischen und politischen Verbündeten durch einen Folterskandal bloßstellt...

In diesem Fall wären die Ausgangssituation des Prot, sein Konflikt, seine Handlungsmöglichkeiten und die evtl. Folgen seines Handelns sehr direkt von den Gegebenheiten bestimmt - dieser Plot könnte sich so nur in diesem Szenario abspielen. Wird klar, worauf ich hinaus will?

Mein "Killerkriterium" für eine echte "Was wäre wenn"-Geschichte ist eben die Abhängigkeit des Plots von der geschilderten historischen Situation. Um das berühmte Beispiel "Vaterland" mal kurz heranzuziehen: Da haben wir einen Kripobeamten, der Ende der 60er(?) in der Nähe von Hermann Görings Villa einen toten SS-Jüngling findet, der im Folgenden seine Untersuchungsergebnisse vor der GeStaPo verheimlichen muss und schließlich unter Lebensgefahr das bis dahin gut gehütete Geheimnis des Holocaust außer Landes schmuggeln muss... diese Geschichte ist nur in diesem konkreten "Vaterland" denkbar. In den echten 60er Jahren mit Sicherheit nicht, ganz gleich, was auf den Schildern steht, die jemand im Fernsehen hochhält.

Dein Plot hier ist mir in dieser Hinsicht eben zu beliebig bzw. zu allgemein, als dass ich das als "waschechte" Alternativweltgeschichte bezeichnen würde. You see my point? ;)

Gruß,
Horni

 

Ja, ich verstehe, was Du meinst.
Im Grunde habe ich einen Nebenschauplatz gewählt: Die eigentliche kontrafaktische Geschichte findet im Irak statt - wie Dein Beispiel.
Mein Plot ist eine sekundäre Handlung und in der Tat könnte sie auch vor einem anderen, realen Hintergrund spielen. Ich fand es aber gerade interessant, eine fast alltägliche Handlung zu erzählen und die Änderungen zur Realität minimal zu halten. Ich denke, dass dem Leser dadurch eine größere Nähe zu den Figuren ermöglicht wird, gesteht aber ein, dass man das auch als Schwäche der Geschichte betrachten kann.
Wie gesagt: die nächste Alternativweltstory wird massiver und direkter mit der kontrafaktischen Änderung zu tun haben ;)

 

Uwe Post schrieb:
Ich fand es aber gerade interessant, eine fast alltägliche Handlung zu erzählen und die Änderungen zur Realität minimal zu halten.
Ganz doofe Frage: Wenn es Dir darum ging, bzw. um diese Konflikte, die Figuren usw. - warum hast Du dann den ganzen Alternativ-Schmonzes nicht einfach weggelassen und die Geschichte in "Alltag" gepostet? :confused:

Oder bist Du vertraglich verpflichtet, ausschließlich in SF zu posten? :D

 

So ungefähr :D
Nein. Ich wollte eine Alternativweltstory schreiben. Das habe ich auch getan, wenngleich sie sich minimal von einer Alltagsstory unterscheidet.
Mit rein alltäglichem gebe ich mich nicht ab :p

 

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