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Stille Nacht
Ich kenne ein Viertel, in dem gibt es vor jedem Geschäft blaues Licht, damit Süchtige ihre Venen nicht mehr finden. Hier drinnen gab es die schwächste Lampe der Welt, damit Jugendliche aus dem Schulorchester ihre Noten nicht lesen konnten. Üben sollten wir woanders, dafür gab es im Gebäude schalldichte Räume. Der Nachteil war, dass in denen mehr los war – und man wollte ja unter sich sein.
In den letzten Jahren häuften sich die Baustellen an dieser Schule. Überall, von Mensa bis Pausenraum, gab es Absperrungen. Teilweise waren bestimmte Flure und Aufzüge außer Betrieb, Umwege und Ärger mit dem Lehrer somit vorprogrammiert. Selbst im Eingangsbereich fehlte der Platz für einen Tannenbaum. Doch im Musikraum stand die Zeit still.
Sorgfältig in Regale verfrachtet lagen dutzende Koffer herum, viele davon offen. Vereinzelt blinzelten mir schwarze und goldene Mundstücke zu. Dicke und schlanke Korpusse schlummerten in ihren perfekt auf sie zugeschnittenen Betten aus rotem Samt, während ein paar Gurte schlaff heraushingen, als hätten sie nach dutzenden Fluchtversuchen endgültig den Geist aufgegeben.
Mit meinem Koffer in der Hand wartete ich auf den Rest des Orchesters, allmählich wurde mein Arm steif. Ich war viel zu früh da – wie immer. Das hatte nichts mit Pünktlichkeit oder Strebertum zu tun, ich hatte es einfach nicht so mit Uhrzeiten. Es war die Paranoia, die mich aus der Wohnung scheuchte und vor jedem Termin zittern ließ. Das Scharnier klickte, ich holte mein Instrument aus dem Koffer. Aufgrund seiner Form habe ich mich damals für ein Saxophon entschieden. Bekommen habe ich eines der Sopransaxophone. Blöd nur, dass die aussehen wie Klarinetten.
„Hier dürft ihr nicht rein, der Raum ist nur für Musiker!“, hörte ich eine Stimme herannahen. Es war Pascal, ein Mitschüler. Hastig drängelte er an mir vorbei, während seine Verfolger ihr übriges Gift absonderten. Sie machten kehrt, als sie mich sahen.
„Was geht, Pascal? Alles klar?“, fragte ich mit gesenkter Stimme.
„Hallo.“
„Was wollten die schon wieder von dir?“
Ein zaghaftes Kopfschütteln bekam ich zur Antwort.
„Frau Janning!“, brach es plötzlich ihm Pascal heraus, als unsere Musiklehrerin um die Ecke bog.
„Ich habe ganz viel geübt, ich kann jedes Stück“, sagte er.
„Schön, Pascal“, entgegnete sie.
„Und meine Mutter hilft am Konzerttag gerne beim Transport mit, soll ich ausrichten."
"Das ist aber nett", sagte Frau Janning und schloss das Lehrerzimmer im Musikbereich auf. Pascal trat einen Schritt herein.
„Wie wärs, Pascal, wenn du dein Instrument schon mal aufbauen würdest?" Lächelnd reichte sie ihm ein Schlüsselbund.
„Aber später zurückgeben, ja?"
„Nussknacker, der Marsch!“, rief Frau Janning und sah dabei zu, wie wir in Reih und Glied dasaßen und die Noten aufschlugen. Diese hatte ohrenscheinlich nicht Musik, sondern Lautmalerei studiert. Kaum hatte das Lied begonnen, winkte sie ab und wollte wissen, ob wir Saxophone eher wie „Pfwha“ oder „Thw, thw“ pusteten.
„Thw, thw, Frau Janning!“, klärte Pascal auf.
Sie nickte, hob den Taktstock, zählte an. Das Orchester spielte, erneut winkte sie ab, rief: „Trompeten, pianissimo! Leise!“ Der Junge ganz hinten an der Tuba lachte. Der nächste Anlauf glückte, im letzten Drittel hieß es:
„Okay, können wir, können wir.“ Sie griff zur Partitur und rief: „Little Drummer Boy!“
Sie konnte das „The“ nicht aussprechen, ließ es daher gerne weg. Das war schon damals bei „The Entertainer“ von Scott Joplin so und fand seinen Höhepunkt in „The Good, The Bad and The Ugly“ von Ennio Morricone. Eine Handvoll durchschnittlich gespielter Weihnachtslieder später läutete die Schulglocke, wir bauten ab. „Das war‘s! Wir sehen uns morgen, 10:30 Uhr!“
In der Bahn pulte ich das Preisschild von meinem Koffer. 1100 Euro. Ganz schön viel, dachte ich. Als Frau Janning mir damals das Sopransaxophon überreichte, tat sie das mit einem schlecht ausgeführten Zwinkern. Das war viel komischer, als es cool war. Sie wollte sagen, dass sie mir vertraute. Oder: „Guck, wie lässig ich mit haufenweise Geld umgehe!“ Ein bisschen von beidem, vermutlich. Außerdem: Die ließen die Preisschilder doch nur dran, damit die Schüler besser auf ihre Instrumente aufpassten. Ich sah aus dem Fenster. Draußen lag Schnee. Allmählich zogen mehr und mehr Plattenbauten und Reihenhäuser an mir vorbei. Der Weihnachtsschmuck wurde mit jeder Haltestelle spärlicher. Bald zu Hause.
Ich aß, was übrig geblieben war und verschwand in mein Zimmer. Meine Eltern arbeiteten noch. Das passte mir gut. Ich legte meinen Koffer aufs Bett und öffnete ihn. Das Instrument war schnell aufgebaut. Ich fing an, zu spielen: F, hohes F, hohes F, C, B, hohes F, hohes C, Gis, hohes F – Thrift Shop, die coolen Töne aus dem Background. Die gehörten eigentlich mehrfach wiederholt. Mein Handy vibrierte.
„Hallo? Ich bin es. Pascal.“
Der schon wieder.
„Was geht?“, fragte ich.
„Du erscheinst morgen, nicht wahr? Bei dir kann man sich nicht sicher sein, denke ich.“
Das beleidigte mich, wo Musik doch das einzige Fach war, was mir Spaß machte.
„Klar, wird ja diesmal benotet. Haste Angst, das einzige Sopransaxophon zu sein oder wie?“
Stille. Ich habe vergessen, wie sensibel er war.
„Nein“, sagte er langgezogen, „aber Frau Janning braucht einen Vergleich, wenn sie sehen will, wie gut ich bin.“
„Ich werd kommen, Spinner“, sagte ich unbeteiligt und wollte gerade auflegen – da tat er es schon.
Das Blättchen an seinem Mundstück war so hochwertig, so weiß, es blendete mich fast. Aufrecht wie nie saß Pascal mit seinem Instrument in den Händen da und sah zu Frau Janning auf. Vermutlich kam er eines Tages mit blutigen Lippen nach Hause und gab seinem Holzblättchen die Schuld. Die splitterten in Wahrheit zwar nicht, seine Eltern aber hätten bereitwillig jede Lüge geschluckt. Welches Perfektionistenpärchen wollte sich schon eingestehen, dass ihr einziges Kind Probleme mit seinen Mitschülern hatte? Nachdem die beiden Posaunen benotet wurden, waren wir dran. „Saxophone, 74 mit Auftakt!“
Ich hatte die zweite Stimme, zusammen mit den anderen Saxophonen entstand ein schöner – wie hieß das noch? Akkord oder so. Dreiklang? Ach, was weiß ich. Ton für Ton glitten meine Finger über die Klappen. Vor ein paar Jahren achtete ich noch darauf, die richtigen Töne zu erwischen. Inzwischen gab ich mich dem Klang meines Instruments hin. Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Falsche Töne, vereinzeltes Quietschen. War ich das? Ich schielte zur Seite. Pascal lief rot an. Fast unmerklich setzte ich ab.
„Dis, nicht D“, flüsterte ich.
Einige der jüngeren Schüler hielten sich die Ohren zu. Einer trug ein kurzes „Buh!“ zur knisternden Atmosphäre bei.
Frau Janning runzelte die Stirn.
„Danke. Einmal nur die Sopransaxophone, bitte.“ Sie zählte an, Pascal und ich fingen an zu spielen. „O Holy Night“, mein liebstes Weihnachtslied. Doch klang wieder einiges nicht, wie es sollte. Mit jedem Griff, jedem Atemzug fühlte ich mich schlechter damit, keine Fehler zu machen. Ich spürte die Blicke auf meiner Haut, während meine Augen zwischen den Noten und Pascals feurigem Schädel hin- und herflackerten. Wir näherten uns dem Refrain. Plötzlich legte er sein Instrument auf die Schenkel, hielt seine gefalteten Hände vor die Stirn, die Daumen dabei seinen Kiefer umfassend.
„Pascal kneift!“, tuschelte jemand seinem Sitznachbarn zu. "Ausgerechnet der!"
Es fühlte sich nicht richtig an, die zweite Stimme ganz ohne den Rest zu spielen. Ich sah kurz zu Frau Janning, sie verzog keine Miene, also spielte ich weiter. Meine Augen lachten. Ich dachte an die Parodie des Liedes aus South Park, in der Cartman den Text vergisst und stattdessen auf bewegende Weise davon singt, wie er – Jesus sei Dank! – jährlich Geschenke bekommt.
„Danke“, unterbrach Frau Janning. „Ihr wisst selbst, wer von euch beiden geübt hat und wer nicht und dass sich das dementsprechend auf eure Noten auswirkt.“ Das hat sie aber diskret ausgedrückt, dachte ich, dann aber fügte sie hinzu: „Pascal. Das Konzert ist schon diesen Freitag und ich bin mir nicht sicher, ob du daran teilnehmen wirst.“
Keine Antwort.
Zu Hause erhielt ich einen Anruf, eine aufgekratzte Stimme drang an mein Ohr. Es war – na wer wohl?
„Hallo. Deine Familie und du, ihr habt kein Geld oder?“
„Bist du bescheuert? Was soll das?", blaffte ich ihn an.
„Ich habe den Schlüssel für den Musiksaal.“
„Was willst du? Probesessions nachholen?“
„Der Musiksaal knüpft an den Raum mit den Instrumenten an“, sagte Pascal.
„Na und?“
„Wollen wir was mitgehen lassen?“, fragte er.
„Willst du mich verarschen?“
„Nein!“
„Du bist doch nur sauer, weil die Janning dich hat absaufen lassen", sagte ich.
„Also, bist du dabei?“
„Nö.“
Ich legte auf.
Der wird es schon dabei belassen, dachte ich. Doch was, wenn nicht? Schon seit Ewigkeiten machten sich die anderen über ihn lustig, schikanierten ihn, wurden gewalttätig. Pascal kannte das also. Die meisten Lehrer drückten regelmäßig das eine oder andere Auge zu. Doch Frau Janning tat mehr. Die beschützte ihn, wo sie nur konnte. Heute aber war ihre Enttäuschung so groß gewesen, dass sie geschwiegen hatte. Vielleicht war sie inzwischen auch einfach genervt von ihm, wer weiß? Ich warf mich auf mein Bett, schloss die Augen.
Um diese Zeit stritt das arabische Ehepaar von oben, kreischten Kinder um die Wette und wenn nicht, näherte sich ein überlautes Gefährt und ließ die Nachbarschaft hellwach werden und das nur, um anschließend wieder kehrt zu machen und in die Nacht zu entschwinden. Doch heute war es ungewöhnlich still, ich genoss die schüchternen Laute, die sich allmählich auf die freie Bühne wagten und ihre Soli zirpten, klirrten und fauchten. Wer genau hinhörte, konnte Goethe vernehmen, wie er sich unbemerkt in seinem Grabe umdrehte, nachdem meine Kitschgedanken zu ihm herübergeweht waren.
In dem Irrgarten des Umbaus, welcher sich Gesamtschule schimpfte, stapfte ich gemächlich den Flur Richtung Musikbereich entlang. Natürlich war ich wieder zu früh, doch anstatt am Zielort blöde herumzustehen, ließ ich mir mit dem Gehen einfach Zeit. Aktives Warten. Draußen war es noch zappenduster und dementsprechend still. Das ist doch eigentlich Unsinn, dachte ich. Vor dem Konzert am Freitag gab es keine Proben mehr. Was machte ich dann hier? Gerade wollte ich umdrehen, da betäubte etwas mein Ohr. Mit zugekniffenen Augen warf ich mich auf den glatten Boden. Die Stille wich einem unerhört lauten Piepen. Vorsichtig hob ich den Kopf. Ein Junge rannte an mir vorbei, beachtete mich nicht, knallte gegen die Wand, fiel um wie ein Sack Kartoffeln. Reglos blieb er liegen, ich tat Gegenteiliges, richtete mich schlagartig auf und stürzte auf die Jungstoilette zu. Meine Lunge verlangte nach mehr Luft, als meine Schnappatmungen zuließen. Eine der Klotüren war abgeschlossen. Mein Herz setzte aus.
„Wer ist da?“, fragte ich und erschrak durch den Klang meiner eigenen Stimme. Das Schloss ging lautstark auf, ein Gesicht lugte hervor.
„Pascal! Was passiert hier?“
„Wir laufen Amok“, antwortete er und knallte die Tür wieder zu.
Ich schlug dagegen.
„Hey!", rief ich verärgert, gab dann aber nach und verließ ihn wieder.
Ein Schuss fiel, hallte wie ein Donnerschlag durch die Flure, kam Richtung Eingangshalle, ließ mich in den Musikbereich flüchten. Meine Knie schmerzten, die Beine wollten nicht mehr, trotzdem rannte ich weiter. In den Raum für die Instrumente wollte ich. Abgeschlossen. Reflexartig griff ich mir in die Taschen, holte ein Schlüsselbund hervor, öffnete die Tür.
„Was geht denn hier ab?“, flüsterte ich.
Mit aufgerissenen Augen starrte ich auf jemandes Rücken. Es war Pascal.
„Wie bist du so schnell hierhergekommen?“ Er ignorierte mich, hatte besseres zu tun. Erst fummelte er an einem der Koffer herum, dann erhob er sich, hielt in den Händen ein Gewehr, schulterte es und stolzierte wie ein Zinnsoldat an mir vorbei.
„Wo willst du hin?“, brüllte ich. Wie die besorgte rechte Hand eines tyrannischen Herrschers lief ich ihm hinterher, spielte dabei nervös mit den Fingern. Ich biss die Zähne zusammen und hielt mir die Ohren zu, als Pascal erst einen und dann einen weiteren herrannahenden Jungen erschoss.
„Hier dürft ihr nicht rein“, sagte er, „hier ist nur für Musiker.“
Er betrat einen der Übungsräume.
„Komm her“, sagte er. „Man kann uns hier drinnen nicht hören.“
Ich gab nun endgültig nach, folgte ihm in den Raum. Dunkel war es hier. Jemand war an einen Stuhl festgebunden. Es war Frau Janning. Mit ruhiger Hand schloss ich die Tür und machte einen Schritt auf sie zu. Langsam hob ich das Gewehr. Ich hob das Gewehr. Ich zielte auf diesen Kopf, der wie der Zeiger eines Metronoms hin- und herpendelte. Dann drückte ich ab. Frau Jannings Körper verlor nun vollständig an Spannung, sah ruhig aus, friedlich fast. Als wäre sie bloß eingeschlafen. Ich klopfte mir mit der linken Hand auf die Schulter.
„Das haben wir gut gemacht“, flüsterte ich. Auf dem filzigen Teppichboden breitete sich eine blutige Pfütze. Für einen Moment lang meinte ich mein wahres Gesicht in ihr zu erkennen. Dann wachte ich auf.