Was ist neu

Das wahre Leben

Mitglied
Beitritt
13.07.2006
Beiträge
54

Das wahre Leben

Die heiße libysche Sonne röstete die Männer in den Mannschaftswagen. Nur der Fahrtwind, der den Union Jack am Führungsjeep flattern ließ, schuf eine Illusion von Kühle. Caleb Muldin ignorierte den Schweiß, der in Strömen unter seinem Stahlhelm hervorquoll.
„Die Hitze bringt mich um“, jammerte der kleine, dünne Higgins, der ihm gegenüber saß.
„Umbringen? Quatsch.“ Caleb lehnte sich auf den Karabiner, den er wie alle anderen zwischen seinen Knien eingeklemmt hatte. „Das hier ist das wahre Leben, Junge, ich sag’s dir.“
Higgins riss die Augen auf. „Das ist kein Leben!“
Caleb deutete mit dem Kinn auf die glühende Wüste, durch die der Konvoi raste. „Keine Schule, keine Weiber, kein Gefasel von guten Benehmen. Junge, das ist ein gutes Leben. Klar?“
McKay, er kräftige Mann mit dem Vollbart rechts neben Caleb, klopfte ihm auf die Schulter. „Ein wahres Wort, Kleiner!“
Der Dünne schüttelte den Kopf. „Wenn die Italiener…“
Caleb tippte sich gegen die Stirn. „Was denn? Die Spagettis sind wie die Hasen. Haben ja nicht mal mehr Geschütze!“
Der Bärtige lachte. „Hasen? Nur schneller auf der Flucht.“
„Und Rommel?“ Der Dünne kniff die Lippen zusammen.
„Weit weg, in Ägypten.“ McKay wurde ungehalten. „In zwei Wochen bin ich zuhause. Bei meiner Verlobten! So wird’s sein.“ Caleb erschauderte bei dem Wort ‚Verlobte’, das er unwillkürlich mit dem Begriff ‚Fessel’ in Verbindung brachte.
„Maul halten, Feigling“, mischte sich nun ein weiterer Mann ein. Die anderen applaudierten.
Caleb lehnte den Kopf zurück und genoss den Lufthauch, der über seine Bartstoppeln wehte. „Genau. Maul halten.“
Das hätte er seinem Onkel Morton, diesem ängstlichen Pedanten, sagen sollen. Oder Clodea, dieser Zicke, die ihn in eine Ehe zwingen wollte. Caleb sog die heiße Luft ein. Endlich frei!
Ein Stoß fuhr ihm unsanft in den Nacken, dann gab es einen dumpfen Knall. „Absitzen“, dröhnte eine Stimme.
Ohne zu überlegen griff Caleb nach seinem Karabiner und sprang vom Wagen, der abrupt angehalten hatte.
Von der Spitze des Konvois stieg Rauch auf.
Higgins stand noch auf der Ladefläche, die Arme ausgebreitet, als wolle er eine Rede halten.
Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein, und das Geschehen zerfiel in einzelne Szenen.
Der dünne Mann wehte vom Wagen, eine rote Tropfenspur hinter sich herziehend. Der Fahrer öffnete die Tür und verschwand in einem Feuerball. Aus dem Wüstensand erhoben sich Flammen spuckende Schemen. Qualm und Staub stiegen überall auf.
Eine Hand legte sich auf Calebs Schulter. Ein silberner Verlobungsring blinkte daran. „Schieß“, brüllte McKay.
Caleb starrte auf die Hand. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er das simple Wort verstand. Er entsicherte seinen Karabiner. „Schießen, ja“, stammelte er.
Plötzlich wurde die Hand leichter. Sie lag noch auf seiner Schulter, aber wo war der Mann, dem sie gehörte?
Caleb wurde in eine Sandwolke gehüllt. Aus dem Karabiner löste sich ein Schuss.
Warum fiel er? Wo war sein linkes Bein?
Das Wort ‚Schrapnell’ tauchte in seinem Bewusstsein auf, ohne an Bedeutung zu gewinnen. Wieso drang Sand in seine Nase ein? Was schmeckte so widerlich nach Metall?
Ehe er den Hauch einer Antwort denken konnte, wurde er empor gerissen. Der Sand gab seine Atemwege frei. Caleb hustete, blinzelte und sah eine staubgelbe Maske unter einem Stahlhelm. Die Mündung einer Pistole drückte gegen seine Stirn.
Von Falten umsäumte blaue Augen blickten ihn aus dem konturenlosen Gelb unter dem Helm an.
Caleb kannte diesen Blick aus seiner Kindheit.
Er verhieß Beobachtung, Aufsicht und Zurechtweisung.
„Bitte“, weinte Caleb. „Ich will nach hause…“
Die Augen schlossen sich für einen Moment.
Als sie sich wieder öffneten, glomm darin ein zorniges Feuer. Der metallene Druck auf Calebs Stirn verschwand.
Er spürte, dass er sanft nach unten glitt, zu Boden und in eine schwarze Dunkelheit, aus der ein leiser, trauriger Satz in einer fremden Sprache zu ihm drang… „Dummer Bub.“

 

Im Jargon der Eigentlichkeit erzählt Adorno die Anekdote, dass eine ergriffene Frau behauptete, Heidegger habe die Menschen wieder vor den Tod gestellt, worauf Max Horkheimer ihr beschied, dass Ludendorff das viel besser besorgt habe. Eben das,

lieber Udo,

scheint mir hier zu geschehen, wenn Du uns die letzten Minuten eines jungen Menschen zeigst, der an sich keine Bindung eingehen will und das für Freiheit hält. während andere ihm gleichzeitig einreden wollen, im Kriegsspiel sei das richtige Leben - vorm Tod eben, wobei es unwichtig ist, dass die Geschichte in Nordafrika oder wo immer spielt.

Kennstu von Richard Lester „Wie ich den Krieg gewann“, mit dem buchstäblich(en) private John Lennon, in dem sich der britische und der deutsche Offizier anfreunden (wenn ichs noch richtig im Kopf hab - aber wer hätt das schon?)?

Gruß

Friedel

 

Gut. Ich freue mich.

Richard Lesters "Wie ich den Krieg gewann" kenne ich noch nicht.
Danke für den Hinweis.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom