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Die letzte Boje

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28.11.2018
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Die letzte Boje

Es ist Nacht, der Wind fegt schreiend über die zugefrorene Brücke. Die Luft ist salzig und frisch. In der Ferne leuchtet eine kleine Boje grün auf; An. Aus. An. Aus. Sie schwankt bei den starken Wellen hin und her. Die Autos sehen ihn nicht. Die Menschen fahren an ihm vorbei wie Marionetten. Sie werden gesteuert von ihrer Ignoranz, gesteuert von der Angst etwas zu unternehmen, alleine zu sein. Anders zu sein. Wir unterscheiden uns nicht von Tieren. Wir sind wie Ameisen; die Alle samt an einem Strang ziehen.
Er Sieht mit einem düsteren Gesichtsausdruck hinab. Sein Begleiter bringt ihn immer wieder an diesen Ort. Diese Situation. Er redet ihm Mut zu. „Spring...Spring!“, sagt er. „Das ist die einzige Lösung!“. Soll ich?
Die Betonpfeiler der Brücke stehen wie zwei Monumente im Meer; Majestätisch halten sie den gewaltigen Kräften der Wellen stand. Er fragt sich, wie es wohl mit einem Menschen wäre. Würde ein Mensch auch standhalten? Den Wellen widerstehen?
Ein Mensch würde schon durch den Aufprall ohnmächtig werden; gar sterben.
Wenn er das Überleben sollte, würde er durch die zerstörenden Wellen und der starken Strömung ertrinken. Und wenn er nicht ertrinkt, dann wird er bei dem Versuch ans Ufer zu kommen erfrieren.
Er geht einen weiteren Schritt auf die alte, verrostete Reling zu. Er sieht die Boje, wieder schimmert das grüne Licht über dem aufgewühlten und dunklen Meer. Sein Begleiter schreit ja, aber etwas sagt nein. Eine vertraute Stimme sagt nein, seine eigene. Er steigt wieder auf sein weißes Rennrad; es sollte nicht Heute sein.
Wie jeden Morgen klingelt der Wecker zum dritten Mal. „Soll ich aufstehen? wirklich aufstehen?“, fragt er sich. Mit einer gequälten Bewegung schlägt er auf die schon halb kaputte Uhr. Es ist erst Morgen, doch sein Begleiter spuckt jetzt schon seine Sprüche aus.
Nach einer halben Stunde steigt er aus dem Bett; sie wussten, dass er wach ist. Er geht in das kleine Badezimmer, welches nur aus einem zu kleinen Waschbecken und einer viel zu verdreckten Toilette besteht. Das grelle gelbe Licht blendet ihn. Das vertraute Summen der Lüftung ertönt und er putzt sich müde und halb benommen die Zähne.
Er starrt auf sein Handy, wieder acht neue Nachrichten, von Menschen, die er nie gesehen hat. „Sie hassen dich!“, er wird angebrüllt. „Du kannst nichts!“, stumme Schreie ertönen.

Er macht das Radio und den Fernseher an; setzt sich vor seinen Computer. Drei neue Emails. Es ist noch dunkel draußen, es wird noch etwas dauern bis die Sonne aufgeht. Neunzehn neue Nachrichten auf Facebook. Er kann nicht aufhören. Zwölf neue Tweets.
Er liest alle. Versteht alle. Er verflucht alle.
Er hat es ihm beigebracht. Beigebracht, sich selbst zu hassen. Sein ständiger Begleiter.
Im Fernseher läuft Dauerwerbung, im Radio laufen Schlager in Dauerschleife und am PC hat er die lautesten und grellsten Videos laufen. Diese ganzen Töne und Bilder, sie verschlingen seine Anwesenheit; er schafft es in Ruhe seinen Tee zu trinken.
Sein Begleiter erscheint immer wieder, wenn er sich in den Spiegel schaut. Er weiß immer wann er zu klingeln hat. „Stirb, dich will niemand! Niemand liebt dich“, vier Whatsapp Nachrichten. Er versteckt seine Narben. Er kann mit niemanden reden, seine Schreie werden verspottet. „Du bist für deinen Vater verantwortlich!“. Er wird für dumm gehalten; er wolle Aufmerksamkeit, stellt sich nur an. Das grüne Licht der Boje verschwindet immer mehr im Dunkeln seiner Gedanken.
Die Wohnung ist leer, der ganze Wohnkomplex in dem er wohnt scheint verlassen zu sein. Es leben nur noch Menschen hier, die aufgehört haben zu leben, „Sie wollen nichts mit dir zu tun haben!“. Sie reden alle auf ihn ein. Alle diese Stimmen. Er hört sie, er liest sie, er denkt sie. Sie sind er.

Der Weg zur Schule ist lang und führt durch den grauen Teil der verlassenen Vorstadt. Die Gebäude sind beschmiert und die Fassaden bröckeln. Es ist bedrückend bewölkt und ein leichter Nieselregen befeuchtet den Boden, der von Müll und Flaschen übersät ist.
Wie immer seinen Begleiter dabei, fährt er mit seinem Rad durch die verlassenen Straßen in die Altstadt. Hin und wieder durch Pfützen, die sich in der letzten Nacht gebildet haben „Dreh um, Dreh um! Du willst dort nicht hin“, denkt er. „Sie wollen dich nicht, wir wollen dich nicht!“, behauptet sein Begleiter. Sieben neue SMS.
Er kommt an. Schließt sein Rad ab, und begibt sich auf den Weg in den Unterricht. Vorbei an tausenden Gesichtern, tausenden Blicken und Stimmen. Zu spät kommen ist Alltag; die vielen zerstörenden Gedanken. Er kommt im Stoff nicht hinterher. Hausaufgaben lassen sie nicht zu, die Stimmen. Seine Gedanken machen ihn verrückt, seine Gedanken verletzen ihn. Diese unzähligen Stimmen! Plötzlich findet er einen Zettel in seiner Tasche.
Er liest. Er Versteht. Er hasst.
Er zerknüllt das Stück Papier. Steht auf, und verlässt das lachende Klassenzimmer. Welches niemals das verstehen wird, was er fühlt, denkt. Die Marionette am Ende des Klassenzimmers interessiert es nicht. Diesmal sind die Gänge leer als er sich durch das Gebäude bewegt. Am Lehrerzimmer und den vielen Türen und Schränken vorbei. „Warum verschwindest du Fettsack? Traust dich nicht hier zu bleiben? Spast!“. Wieder fünf Nachrichten. Als er bei seinem Rad ankommt durchschlägt ihn ein Ruck aus Wut, Verzweiflung und Scham. Sein weißes Rennrad wurde geklaut. Er schämt sich dafür schwach zu sein. Kein Mann zu sein. Nachts zu Weinen; sich nicht zu wehren. Das einzige was ihm Freue brachte, er hat es stehlen lassen. Der Himmel zieht sich zu und aus dem Nieselregen wird ein gewaltiger Schauer. „Was kannst du eigentlich, nichts kannst du!“, redet er sich ein. „Dein Zuhause ist nicht mehr!“, sagt ihm sein ewiger und schon schreiender Begleiter.
Voller Verzweiflung watet er durch den Regen. Immer auf der Suche nach seinem Rad. Die Stimme der Hoffnung wird von fünfzig anderen übertönt.
Nach einer Stunde kommt er endlich zuhause an. Er schließt die Tür auf und bricht zusammen. Qualm kommt aus der Tür. Seine Wohnung wurde verwüstet. Die billigen Bücherregale wurden zerstört, Scherben des Geschirrs verzieren den Boden. Stickiger Rauch kommt aus der Küche, alle seine Bücher wurden in den Ofen geworfen; es brennt. Alle Alben brennen. Mit all seiner Kraft probiert er das stechende Feuer zu löschen. In der Ferne hört er die Sirenen. Sie werden immer lauter, immer lauter, immer lauter!
Er stürmt aus dem Gebäude und rennt in die Richtung der großen Brücke. Es ist Abend. Es stürmt. Der Regen ist stärker als zu vor; Autos schießen an ihm vorbei. Das Gesicht voller Tränen. Der Wind ist so stark, dass er sich nicht halten kann. Die Reling ist zum Greifen nah. Er steigt mit Mut und Zuversicht über die grüne verrostete Absperrung. Jetzt trennen ihn nur noch zehn Zentimeter vom Abgrund. Diesmal starrt er mit einem Grinsen auf die zerbröckelten und alten Betonpfeiler.
Er steht dort. Alleine und verlassen. Er zückt seinen Begleiter und ruft Mama an. Niemand geht ran. Er schaltet sein Handy zum letzten Mal aus.
Er steht dort, und diesmal sieht er keine grün aufleuchtende Boje im wilden Meer seiner verletzten Seele. „Papa ich komme“.
„Spring!“, sie haben ihn so weit. „Niemand liebt dich!“, die Gedanken quälen ihn. „Wo bist du, und was ist los mein Schatz?“, keine Boje mehr in Sicht. Es ist zu spät.
Der Regen hört auf. Weiterhin fahren die Menschen jeden Tag über die Brücke. Die Wellen schlagen weiterhin gegen die Betonpfeiler.

 

Hallo Murphy,

deine KG ist traurig, aber trotzdem schafft es die Opferrolle des Protagonisten leider nicht mich zu berühren. Es sind die letzten Phasen eines Gemobbten, aber ich würde gerne als Leser erfahren, wie alles begonnen hat. Es ist ein Text nach dem Motto: Die Welt ist schlecht, Handys, E-mails, alles ist schrecklich, der Verfall der Gesellschaft. Die Metapher mit der letzten Boje finde ich an sich gar nicht schlecht. Aber bevor man begreift, dass es nur eine Metapher ist, sprichst du schon von einem Begleiter. Dann dauert es, bis man begreift, wen du überhaupt mit dem Begleiter meinst. Und schon ist man schon fast am Schluss.

Ich hatte beim Lesern auch das Gefühl, da erklärt mir jemand andauernd was. Aber ich möchte es als Leser lieber gezeigt bekommen.

Soweit von mir. Lg, Chico

 

Hallo @Murphy0321,

ich habe deinen Text heute morgen gelesen, weggepackt und ihn am Abend wieder hervorgeholt. Irgendetwas darin hat mich beschäftigt. Klar, deinem Prot geht es schlecht; das wird von dir mehr erzählt als gezeigt und arbeitet so wiederum gegen die Empathie mit ihm. Auch das Marionettenbild behagt mir nicht so recht: Marionetten werden gespielt, sind selbst passiv. Dein Prot leidet doch aber unter "Tätern", die ihn - aktiv - mobben? Wer steuert die? Angst und Ignoranz sind Gefühle bzw. Verhaltensweisen, keine Personen und keine Puppenspieler, deshalb verwirrt mich das Marionettenbild.

Was mich aber wirklich fasziniert, ist die totale Wut, die unter der Verzweiflung deines Prots durchschimmert - Energie, Gefühl, Kraft. Das hat mich als Leserin wieder hergelockt.

Die Betonpfeiler der Brücke stehen wie zwei Monumente im Meer; Majestätisch halten sie den gewaltigen Kräften der Wellen stand

Das ist so ein Bild, wo sich für mich diese Kraft ausdrückt. Und auf einmal sehe ich einen Prot kämpfen und kann mich mit ihm identifizieren ...

Ein paar Fehlerchen habe ich auch gefunden (falls der @Friedrichard keine Zeit hat):

Boje grün auf;
Würde ich : machen
allesamt; Er sieht;
einzige Lösung!"
Wenn er das überleben
die starke Strömung
!“ Stumme

Das sind so einige, andere sind beim Korrigieren deutlich besser als ich. Aber wie gesagt bzw. geschrieben: Irgendetwas in deinem Text macht mich neugierig auf mehr von dir.

Viele Grüße
Willi

 

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