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Fiiinale, ohoooo, Finaale, ohohooooo
30. Juni 2002 - ein bisher eher als phlegmatisch, melancholisch, zuweilen auch als mürrisch bekanntes Volk in der Mitte Europas befindet sich im absoluten Ausnahmezustand!!! Die weltweite Presse schreibt am Morgen dieses bedeutungsvollen Tages über Deutschland: „Germania in molto grande tumulto!“ (Sonntagsausgabe der Tageszeitung „La Presso“ in Rom); „Les Allemands sont tous ‘hors de leurs maisons!“ zu deutsch: „Die Deutschen sind ganz aus dem Häuschen!“ (Le Friseur, Paris); „The Germans are crazy! We remember the Nazi-Years!“ (The Moon, London).
Plötzlich sind die Nationalfahnen, ein von diesen Landsleuten bisher fast gar nicht beachtetes Produkt, so sehr gefragt, dass die Hersteller zusätzliche Schichten fahren müssen. Vor fast jedem Geschäft von Flensburg über Buxtehude bis Garmisch-Partenkirchen hängen schwarz-rot-goldene Tücher in allen Größen. Was ist nur in die Deutschen gefahren, fragt sich der aufmerksame Beobachter?! Was ist geschehen, gibt es keine Arbeitslosen mehr in Deutschland, gehört jetzt endlich Mallorca mit zum Staatsgebiet.... woher kommen plötzlich das Temperament und der Optimismus?? Ein Blick auf die Titelseite der bekanntesten Tageszeitung Deutschlands, die zwar niemand liest, die aber wundersamer Weise die größte Auflagenstärke hat, verrät dem bis dahin noch Ahnungslosen endlich, was diese Nation aus ihrem Schlaf geweckt hat: „ES GEHT UM ALLES!“ steht dort in 30 cm hohen Lettern und daneben ein Bild des Torwartes der Fußball-Nationalmannschaft. Nun fällt es unserem Betrachter wie Schuppen von den Augen: Fußball-Weltmeisterschaft heisst das Zauberwort, Deutschland findet zu neuem Selbstbewusstsein durch seine Fußball-Mannschaft, vor allem dem Helden der Nation - Olli Kahn!
Es verschlägt unseren Mann schließlich nach Bochum, eine Baustellen-Stadt mitten im größten Ballungszentrum in Deutschland. Dort will er sich das „Spiel aller Spiele“ unter zivilisierten Menschen anschauen, er fürchtet sich vor Krawallen und rechtsradikalen Schlägertypen. Er landet in einer kleinen Gemeinde an der wunderschönen Königsallee etwas stadtauswärts. „Wenn sogar die frommen Leute dieses Spiel angucken, dann darf ich mir das auch nicht entgehen lassen. Die werden bestimmt nicht so ausflippen wie die Saufkumpane in den Innenstadtkneipen,“ denkt er sich und betritt erwartungsvoll den Gemeindesaal. Dort ist schon alles, entgegen seinen Erwartungen, professionell vorbereitet worden. Gut, es gibt dort keine Großbildleinwand, doch das Bild wird mittels eines Beamers an die Wand geworfen und durch die abgedunkelten Fensterscheiben wird die Qualität des Bildes erheblich besser sein, als auf irgendeinem öffentlichen Platz, wo man sozusagen Wind und Wetter ausgesetzt ist. Sogar eine Bierkiste steht bereit und eine Menge an Knabberzeugs. Die Frommen haben sich sogar schwarz-rot-goldene Streifen auf die Wangen gemalt und kurz vor dem Anpfiff betritt ein Pärchen den Raum, das sich doch wirklich dazu hat hinreissen lassen mit zwei Landesfahnen zu erscheinen. Das verspricht eine gute Atmosphäre, denkt unser „Spion“.
Irgendeine/r singt wohl zum ersten Mal in seinem/ihrem Leben die Nationalhymne und dann geht es los. Jede noch so ungenutzte Torchance findet jubelnden Beifall der Anwesenden, die Frau von dem fahnenbewehrten Pärchen scheint zu einer besonderen Spezies zu gehören, sie schwenkt jedesmal ihre Fahne; erhält deswegen auch prompt von vereinzelten Gemeindemitgliedern eine sanfte, aber bestimmte Verwarnung.
In der Halbzeit tauschen sich die Fachmänner über Können und Nicht-Können „ihrer“ Mannschaft aus, bei einer Tasse Kaffee und einem leckeren Stück Kuchen. Um es kurz zu machen - in der 67. Minute kippt plötzlich die bis dahin noch sehr optimistische Stimmung: Die gegnerische Mannschaft Brasilien hat ein Tor geschossen. „Naaaaaaaaaaaaiiiin - das darf doch nicht waaaaaahr sein!!!!! Naaaaaaiiiin!!! (etc.)“, kreischt eine weibliche Stimme durch den Raum. Es ist entgegen der allgemeinen Überraschung nicht die schon oben erwähnte Dame. In der 79. Minute folgt dann zum Schrecken für ganz Fußball-Deutschland auch noch das zweite Gegentor und macht alle „Weltmacht-Träume“ zunichte. Doch wie das bei den frommen Leuten so ist, sie wissen sehr wohl zwischen den wirklich wichtigen Dingen im Leben und dem „eitlen irdischen Tand“ zu unterscheiden. Von dem o. g. verzweifelten Aufschrei der jungen Dame einmal abgesehen. Man munkelt sogar, einer der Zuschauer soll erfreut gewesen sein über den Sieg der gegnerischen Mannschaft.... Nur unser Pärchen verlässt mit hängenden Fahnen den Raum.
Später wird jedoch von als zuverlässig geltenden Zeugen berichtet, dass eben diese beiden mitten in dem Autokorso auf dem Bochumer Innenstadtring gesehen worden sein sollen: Der Mann stand auf dem Beifahrersitz und hielt eine große Flagge aus dem Dachfenster, die Frau soll die Hupe bis aufs äußerste strapaziert haben. Ob die beiden wohl wirklich fromm sind, fragt sich unser Betrachter, haben sie sich nicht zu sehr von der „Welt“ verführen und vereinnahmen lassen....?