- Beitritt
- 10.02.2000
- Beiträge
- 2.684
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Heinrich (1): Fritz
Mein Weg zum Kindergarten war ein besonderer. Denn nur dort begegnete ich jenem Mann, der wie ein König auf einem Holzstuhl thronte, in einer schäbigen Baracke, mitten auf einem Schrottplatz, den ich für ein Wunderland hielt.
»Guten Morgen, mein Kleiner«, begrüßte er mich meist, lächelte und reichte mir ein Stück Pumpernickel mit Tomate.
»Danke«, sagte ich leise.
»Musst nicht so schüchtern sein. Kennst mich doch jetzt schon lange.«
Seine große Hand klopfte vorsichtig meine Schulter.
»Gehst mal wieder in den Kindergarten, was?«, fragte er, obwohl er wusste, dass es genau so war. Jeden Morgen um acht Uhr den Berg hinunter, vorbei an seinem Schrottplatz, ihm einen Besuch abstattend, um kurz nach zwölf wieder den Berg hoch, nachschauend, ob er noch lebte. Was immer der Fall war. So lernte ich ihn kennen.
»Wie heißt du eigentlich«, erkundigte er sich in den ersten Tagen unserer Zweisamkeit.
»Heinrich.«
»Oha, Heinrich …« Mit wasserblauen Augen starrte er durch die dreigeteilte Scheibe seines Kontors. »Was für ein wunderschöner Name. Ich dagegen habe nicht so einen tollen Namen. Meiner Mama ist nur Fritz eingefallen.«
»Fritz«, wiederholte ich, »mein Opa heißt Fritz.«
»Viele Männer in unserem Alter heißen so«, erklärte er. »Das war mal ganz modern.«
»Ich mag meinen Opa nicht«, stellte ich klar.
Fritz lachte so tief und laut, dass ich meinte, die Scheiben klirren zu hören.
»Das macht nichts, Heinrich. Ist wohl einfach nur ein alter Mann, dem Kinder nichts bedeuten.«
Ich nickte, aber so ganz begriff ich seine Worte nicht.
Wir wurden zusammen älter, Fritz und ich. Morgens schenkte er mir Brot und Tomate, auf dem Nachhauseweg erzählte ich ihm vom Sandkasten, der dummen Sabine und dem geizigen Oliver. Fritz lachte. Sein enormer Bauch schwappte hin und her, wie eine Barkasse in der Dünung. Eines Morgens betrat ich voller Stolz seine schäbige Hütte. Fritz saß zusammengesunken auf dem Holzstuhl. So still und reglos, dass ich Angst bekam.
»Guten Morgen«, rief ich laut.
Fritz schlug die Augen auf und es freute mich, diese wasserblaue Farbe zu sehen.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Heinrich.«
Ich deutete auf das mit schwarzer Farbe an die Tür gemalte Wort.
»Was heißt ‚Kontor‘?«
»Kontor ist das Büro«, meinte er und musterte mich für einen Moment schweigend. »Du kannst lesen?«, fragte er dann. »Moment …« Aus einer Schublade kramte Fritz eine vergilbte Zeitschrift. »Hier. Wie heißt die Zeitschrift?« Er hob sie vor mein Gesicht. Es ist das große Wort, hatte Mama erklärt. Immer das große Wort. Und es steht meist oben.
»Metall«, sagte ich.
Fritz ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Der knackte und knirschte bedenklich.
»Puh, also ich bin jetzt wirklich platt. Wie alt bist du?«
»Fünf.«
Er knuffte mich auf die Brust. Seine enorme Faust war groß wie ein Fußball. »So einen Sohn hätte ich auch gerne gehabt«, meinte er und stand wieder auf.
»Hast du keine Kinder?«
»Nein, mein Junge. Meine Frau ist gestorben, bevor wir Kinder bekommen konnten.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So packte ich zwei seiner Finger. Zu mehr reichte meine kleine Hand nicht. Fritz schwieg. Er vergaß mein Tomatenbrot.
Jeden Morgen und Mittag musste ich Fritz nun ein paar Worte vorlesen und diese auf ein Blatt Papier schreiben, das er in seiner Schublade aufbewahrte. Er ging mit mir über seinen Schrottplatz, was mir bisher verboten war. Wegen all der vielen gefährlichen Sachen, erklärte Fritz.
»Das hier ist eine alte Waschmaschine. Und dort ein Borgward, den niemand mehr braucht.«
Mit Borgward konnte ich nichts anfangen. Aber ich sah, dass es ein Auto war.
»Und ich habe auch besondere Dinge. Aber da müssen wir hier um den Schrottberg herum.«
Die besonderen Dinge standen an der hinteren Betonwand und rosteten vor sich hin, zwischen Kabeln, Fässern und alten Traktoren.
»Was ist das?«, fragte ich und deutete auf ein krummes Etwas.
»Das ist eine PaK40«, sagte Fritz. »Allerdings mit stark verzogenem Rohr und fehlendem Verschluss.«
»Oh, also kaputt«, stellte ich fest und nahm an, dass PaK40 ziemlich kompliziert sein musste. Fritz lachte laut und deutete auf etwas unter einer schmutzig-braunen Teerplane. Langsam hob er die Ecke an. Viele Räder kamen zum Vorschein.
»Im Fernsehen habe ich schon mal so was gesehen«, sagte ich.
»Das ist ein Panzer III«, klärte er mich auf. »Allerdings nur die Wanne.«
»Die Wanne?« Ich dachte an eine Badewanne.
Fritz lachte wieder und setzte mich auf seine Schulter. So zeigte und erklärte er mir nach und nach all das, was die Menschen wegwarfen, weil sie es nicht mehr wollten. »Manchmal ist es einfach nur überflüssig, die Menschen sind es leid«, sagte Fritz.
Eines Morgens entdeckte ich Fritz schon aus der Ferne vor seinem Kontor, mir zuwinkend, was wirklich das allererste Mal war. Ich begann zu rennen. Keuchend erreichte ich die Hütte und wir gingen hinein.
»Ich hab was für dich, Heinrich.« Er setzte sich und zog ein dickes Buch aus der Schublade. Es kribbelte in meinem Bauch, so gespannt war ich auf das, was er mir zeigen wollte. Fritz zog mich auf den Schoß und öffnete das Buch. Es war ein Fotoalbum. Auf der ersten Seite gab es nur ein Bild. Sehr groß und schwarzweiß, wie die meisten Fotos damals. Ich sah eine Frau, so schön wie Schneewittchen. Sie lächelte mich an.
»Ui, die Frau sieht aus wie Schneewittchen«, rutschte mir heraus.
Fritz lachte so laut wie noch nie. Fast wäre ich abgerutscht. Er zog mich wieder hoch.
»Schneewittchen«, wiederholte er, »das hätte ihr bestimmt gefallen.«
»Wer ist das?«
»Das, mein lieber Heinrich, ist meine Frau. Ihr Name war Emma.«
»Emma«, flüsterte ich und prägte mir jedes Detail ihres Gesichts ein. Dieses Foto schaffte es, mich zu verzaubern. »Wie schön sie ist«, sagte ich, ohne an Fritz oder sonst etwas zu denken. Dann durchzuckte mich eine Erinnerung. Sie war tot. Ich traute mich nicht, danach zu fragen und wurde still. Fritz drückte mich, legte seine große Hand auf meinen Kopf.
»Du musst keine Angst haben, Heinrich. Emma hätte dich sehr gerne gehabt. Ich bin sicher, sie schaut uns gerade zu und freut sich.«
Ich nickte. Und war neugierig.
»Warum ist sie gestorben?«
Er schluckte. Seine Stimme zitterte wie kleine Zweige im frühen Herbstwind.
»Du hast doch vom Krieg gehört, oder? Von den vielen Bomben.«
»Ja. Meine Oma erzählt viel davon. Alles war kaputt.«
»Emma war im Haus, als eine Bombe darauf fiel. Sie wurde nicht mehr gefunden.«
Ich stellte mir das Haus vor. Jemanden nicht mehr finden … das muss ein sehr kaputtes Haus gewesen sein.
»Vielleicht ist sie da noch irgendwo?«, überlegte ich laut. Fritz klappte das Buch zu, der Zauber verschwand. Schneewittchen verblasste vor meinen Augen und Fritz weinte dicke Tränen. Ich stand auf und hielt seine große, ölverschmierte Hand. Was konnte ich tun? Nicht in den Kindergarten gehen? Mein Bauch begann wehzutun.
Der Schrottplatz war nicht sehr groß. Immer mehr Häuser wurden um ihn herum gebaut. Sie klemmten ihn ein und bald mutete die Schrottinsel wie eine schwärende Wunde inmitten heiliger Ordnung an.
»Sie wollen mich hier weg haben«, eröffnete mir Fritz eines Tages.
»Wer?«, wunderte ich mich.
»Na, mein Junge, jetzt schau mal all die schönen neuen Häuser hier. Die sind so weiß und sauber, da wollen die Menschen keinen dreckigen, stinkenden Schrottplatz mehr sehen.«
»Aber du tust ihnen doch nichts«, ereiferte ich mich. Fritz nahm mich auf den Schoß.
»Weißt du, die Zeiten ändern sich. Für Menschen wie mich ist da kein Platz mehr.«
Kein Platz? Ich dachte nach und drehte den Bleistift auf dem dreckigen Holztisch. Fritz schwieg. Seine großen Hände bedeckten meine Oberschenkel komplett. Die Haut so runzlig, kleine und große Narben zogen sich kreuz und quer über beide Handrücken. Ich war fasziniert und dachte an die Rinde vom alten Birnenbaum. So zerfurcht. Doch ich spürte die Hände kaum. Sie konnten bestimmt ganz leicht einen Faden durch ein Nadelöhr fädeln. Dann fiel mir ein, was ich Fritz sagen könnte.
»Du kannst vielleicht zu uns kommen. Mein Onkel hat einen großen Garten. Soll ich ihn mal fragen?«
Fritz klatschte mit beiden Händen auf meine Beine. Ich spürte seinen Atem im Nacken. Dann schüttelte es ihn und mich mit. Ich verstand, was hinter mir passierte. Fritz weinte. Ich wollte mich umdrehen, aber er hielt meinen Kopf gerade. So starrte ich aus dem Fenster auf einen kleinen Kran, mit dem er manchmal den Schrott auf einen Lastwagen lud und irgendwohin brachte. Wie konnte ein großer und starker Mann weinen? Was würde mein Vater sagen, wenn er uns jetzt so entdeckte. Indianer und Jungs weinen nicht, war der Befehl. Sollte ich Fritz sagen, dass man nicht weint? Dann kamen mir plötzlich selbst die Tränen, dabei wusste ich gar nicht, warum? Ich wollte nicht, dass Fritz weint. Und ich wollte selbst nicht weinen. Aber es half nichts. So saßen wir auf seinem ächzenden Holzstuhl und vergaßen die Zeit.
Eines Tages kam ich vom Kindergarten und hörte von weitem Motorengeräusche, ein Krachen und Schleifen. Ich begann zu rennen, den kleinen Fußweg entlang, die schmale Staffel hoch und blickte die Straße runter. Zwei große Lastwagen und ein Bagger, so groß wie ich noch keinen gesehen hatte, verrichteten ihr Werk. Drehen, greifen, aufladen, ein paar Mal und ein Laster fuhr davon. Der zweite machte sich bereit. Kurze Zeit später war auch dieser voll, entfernte sich und weiter unten kam schon ein neuer angefahren. Langsam ging ich Richtung Schrottplatz. Ein Absperrband stoppte mich, der Fahrer im Lastwagen lächelte mir zu. Die Hütte war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und der Platz schon zur Hälfte geräumt. Von Fritz weit und breit keine Spur. Etwas zerrte an mir. Ein Reißen wie an einem Handtuch, das sich, eingeklemmt in der Tür, keinen Millimeter bewegte, bis der Stoff mit einem hässlichen Geräusch entzweiging. Mir wurde schlecht und ich übergab mich auf die Straße. Der Fahrer im Lastwagen hupte. Mir kamen die Tränen. Ich dachte an Fritz. An einen Tod, den ich nicht kannte. Der Tod aus den Erzählungen. Aber war er überhaupt tot? Plötzlich sind Menschen weg, die man mochte. Was konnte ich nur tun? Alle Fäden rissen mit einem Ruck durch.
Es dauerte nicht lange, da stand ein Kran auf der Straße und der Schrottplatz war nur noch eine große, tiefe Baugrube. Allerlei Geräte gab es zu entdecken. Eine Hütte auf Rädern, viele Steine, große Netze aus rostigem Eisen. Zwischen allem erhob sich der Kran in schwindelerregende Höhen. Meine Oma hatte mich beauftragt, im Edeka Joghurt und ein Netz Brötchen zu kaufen. Auf dem Heimweg wollte ich das Loch und den Kran anschauen. Niemand war da, die Baustelle völlig verlassen. Aber es war ja auch kein Kindergarten, sondern Samstag. Wie groß der Kran wohl sein mochte? Dann fiel mir Fritz ein. Und seine Emma, die vielleicht immer noch tot in einem kaputten Haus lag. Vielleicht war sie im Himmel. Meine Mutter glaubte ganz fest daran, an den Himmel. Mein Vater erklärte, das sei alles Blödsinn. Ich wollte selbst nachsehen.
Omas Einkaufstasche legte ich auf einen Stapel grauer Steine und kletterte auf den Kran, zwängte mich durch die Absperrung, war innerhalb des Turmes und stieg die Leiter hinauf. Den Blick stets nach oben gerichtet, erreichte ich keuchend das Ende des Turmes und kroch unter der Kette durch auf eine Plattform neben einem Häuschen. Darin war ein Stuhl mit allerlei Hebeln. Abgeschlossen. Dann stürmte die Höhe auf mich ein. Mein ganzer Körper kribbelte und ich gab mich diesem Gefühl hin, genoss es wie eine Achterbahnfahrt. Dies war bestimmt nicht der Himmel. Aber ich fühlte mich so leicht und weit weg von allem, dass ich weiter wollte.
Ein Steg führte entlang des Auslegers über die Grube. Ich hielt mich an dem dicken Seil fest und ging ein paar Schritte hinaus. Die Tiefe öffnete sich zu einem Schlund und zog mich wie ein Staubsauger nach unten. Eine Stimme kratzte sich durch meine Gedanken. Ich hörte Fritz. »Setz dich, bitte«, sagte er. Ich setzte mich auf den Steg und ließ die Beine baumeln.
»Die Menschen da unten sind so klein«, erklärte ich ihm. »Die haben dich weggeschickt. Dabei hast du keinem etwas gemacht«, fuhr ich fort.
»Das macht nichts, mein Heinrich. Ich habe mich auf die Suche nach Emma gemacht. Eines Tages werde ich sie finden.«
Er lachte und mit einem Mal kam ein leichter Wind auf. Unter mir begannen Menschen zu rufen, sogar ein Schrei war zu hören. Dann fiel mein Name. Ich sah hinunter und entdeckte meine Oma, die wild mit den Armen wedelte. Ich winkte zurück.
»Ich bleib noch hier oben, Oma. Ist viel besser als da unten!«, rief ich.