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Heinrich (9): Die Stille
»Komm«, forderte Mama mich auf, hielt mir ihre Hand vor die Nase.
»Wir fahren in die Stadt.«
Ich blinzelte in die Sonne, rote Johannisbeeren kauend. Immer wieder schüttelte es mich, so sauer waren manche und doch ungemein süß. Ich wollte nicht weg. Nicht jetzt.
»Warum denn? Kann ich nicht hierbleiben?«
»Du bist doch morgen auf einen Geburtstag eingeladen, nicht wahr?«
Ich stutzte. War ich das? Ach ja, bei Michael.
»Aber Mama … muss ich da hin?«
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Michaels Mutti war extra hier und hat dich eingeladen. Und wir haben zugesagt. Weißt du nicht mehr?«
Mamas Hand schwebte immer noch vor meinem Gesicht. Ich wollte nicht auf diesen Geburtstag.
»Außerdem holen wir noch Papa ab und fahren dann nach Dillweißenstein ins Freibad«, überraschte sie mich. »Wär das was?«
Freibad? Eine Cola, Eis oder Pommes mit Bockwurst?
»Na gut«, gab ich nach. »Aber vielleicht bin ich ja morgen krank«, ergänzte ich.
Mama lachte und ich griff ihre Hand.
»Ja, vielleicht … man kann nie wissen.«
Der 9er hielt am Leopoldplatz und wir stiegen aus.
»Wo ist Papa?«, fragte ich Mama, ein Auge auf dem Softeis-Stand vor der Kaufhalle. Sie zog mich auf die Straße, Busse und Autos beobachtend und antwortete nicht.
»Wo gehen wir hin?«
»Na, ein kleines Geschenk kaufen. Für morgen.«
»Aber …«
»So, kein Wort mehr jetzt. Versprochen ist versprochen.«
Ich dachte an Michael. An all sein Spielzeug, das riesige Haus, in dem man sich verlaufen konnte. Dass er Papa, Mama und mich „arme Leute“ nannte und mir immer Bonbons schenken wollte, was ich ablehnte. Warum musste ich dort hin? Mama blieb stehen und ich wäre beinahe gegen die Scheibe gerannt.
»Schau mal«, sagte sie und deutete auf ein kleines Holzregal hinter dem Glas mit vielen Siku-Autos drin.
»Da kannst du dir eines aussuchen für Michael.«
»Michael hat schon alle Autos«, erklärte ich und sah zu ihr hoch.
»Aber doch nicht alle die hier drin stehen, oder?«
»Ich weiß nicht.«
»Hm, welches würdest du denn nehmen?«
Ich kam nicht an diesem Geburtstag vorbei. Also zeigte ich auf einen Lastwagen der Müllabfuhr.
»Die Müllabfuhr, die hätte ich gerne.«
Mama beugte sich herab.
»Oha! Das kostet ja zwölf Mark!«
»Ist das viel Geld?«
Sie seufzte.
»Ja … nein, na gut. Es ist ein Geburtstag. Nächste Woche bekomme ich wieder Lohn.«
Es standen noch viel schönere Autos im Regal. Ein großer Kranwagen und eine Planierraupe. Aber darunter große Zahlen. Eine Drei mit einer Neun und eine Vier vor einer Fünf.
»Kann Papa das nicht kaufen?«
Mama zog mich weg, in das Geschäft. Ein Mann in einer langen, blauen Jacke und einem Bleistift hinter dem Ohr begrüßte uns. Als er das Wort „Müllauto“ hörte, grinste er mich an.
»Hast wohl Geburtstag, was, Kleiner?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, wie dem auch sei.« Er beugte sich weit nach vorne, griff nach dem Auto, packte es in die Schachtel und Mama zahlte.
»Hier! Ein Gutsel.«
»Danke«, sagte ich und nahm das rote Bonbon.
»Jetzt holen wir Papa«, meinte Mama.
Ich wusste schnell, wohin Mama mich führte.
»Ist Papa in der Mokkastube?«
»Ich hoffe doch.«
Das verstand ich nicht. Wo sollte er sonst sein? Als wir eintraten, entdeckte ich ihn sofort. Er stand vor der Maschine und ließ eine Münze in den Schlitz rollen.
»He! Heinrich! Guten Tag!« rief der Mann hinter dem großen Tisch, den alle Dragan nannten. Ich winkte ihm zu und lief zu Papa.
»Gewinnst du, Papa?«
Er warf mir einen Schulterblick zu und stellte sein Glas auf den Apparat.
»Ja, nanu? Wo kommt ihr denn her?«
»Wir sind verabredet«, sagte Mama. »Du hast gesagt, wir sollen um eins kommen.«
»Und es ist schon eins?«, wunderte er sich.
»Fünf nach.«
Papa kratzte sich am Kopf, dann trank er sein Glas leer. »Was machen wir jetzt noch mal?«
Mama setzte sich und hob mich auf ihren Schoß. Sie antwortete nicht, also schwieg ich auch. Papa nahm sich den Stuhl gegenüber.
»Rudolf, wir wollten heute ins Freibad. Ich habe deine Badesachen dabei.«
Seine Augen wanderten durch die ganze Mokkastube. Er dachte nach.
»Stimmt«, sagte er dann. »Also gehen wir. Aber …«
Der Automat an der Wand tickerte, die Scheiben stoppten für einen Moment und drehten sich dann weiter.
»Hat es schon ‚Klick‘ gemacht?«, fragte ich gespannt.
»‘Klick‘«, wiederholte Mama erstaunt.
Bevor ich das erklären konnte, fiel mir Papa ins Wort.
»Ah, du weißt doch, Hilda … sag bloß, das hab ich dir noch nicht gezeigt?«
»Nein.«
»Wenn der Geldbehälter voll ist, gibt es einen hellen Ton und er muss auszahlen. Da kann man ordentlich gewinnen. Ist er leer, dann hört sich das dumpf an.«
»Mh«, ergänzte ich. »Und nur Papa kennt das Geheimnis.«
Mama seufzte und schüttelte den Kopf.
»Ich will nicht, dass du Heinrich so Zeug beibringst.«
Papa stand auf.
»Also gehen wir.«
Das Nagoldbad war voll. Überall Erwachsene, Kinder, Sonnenschirme, Bälle und viel Geschrei. Ich fühlte mich unwohl. Zu viele Menschen, Augen, Arme. Keine Ruhe. Keinen Platz im kleinen Becken. Ich saß drin, das Wasser reichte bis zu meiner Brust. Mamas zogen ihre Kinder hindurch, die Hände unter dem Bauch. »Schwimmen lernen«, sagten sie dazu voller Freude. »Arme so, Beine so, Kopf hoch.« Das Mädchen neben mir verstand es nicht, schluckte eine Menge Wasser und hustete. Dann entdeckte ich unter ihr eine schimmernde Wolke. Das Wasser wurde noch wärmer und ich sprang schnell auf, kletterte aus dem Becken und lief zu unserem Handtuch.
»Was ist?«, fragte Papa. »Schon fertig?«
»Das Mädchen hat ins Wasser gepinkelt«, stellte ich fest.
»Kommt schon mal vor«, erwiderte er.
»Ich will das aber nicht.«
»Na, dann musst du ins große Becken …«
»Meinst du, die Großen pinkeln weniger ins Becken?«, unterbrach ihn Mama.
Papa sah sie an. Dann zeigte er auf die Nagold, die ein paar Schritte vor uns vorbeifloss.
»Dann baden wir halt im Fluss«, schlug er vor.
Für eine kurze Zeit schauten wir auf das, was da uns vorbeizog. Braune Schauminseln, manche so groß wie ein Auto. Am gegenüberliegenden Ufer versammelten sie sich. Ab und zu wirbelte ein Windstoß den Schaum auf und er verfing sich in Blättern und Ästen.
»Naja«, sagte Papa. »Vielleicht gehen wir doch besser ins große Becken.«
Er legte seinen Perry Rhodan aufs Handtuch und trank einen Schluck Bier.
»Warum kannst du eigentlich noch nicht schwimmen?«, sagte er zur Flasche und stellte sie ab.
»Wer?« Mama sah ihn an.
»Na, Heinrich.«
»Es hat ihm noch niemand beigebracht«, erklärte sie mit sonderbarem Ton. »Aber du darfst das gerne tun.«
Papa sah mich an. Dann sprang er auf und schnappte sich meine Hand.
»Komm, Sohnemann! Jetzt bringe ich dir das Schwimmen bei.«
Ein starkes Kribbeln rollte durch mich hindurch und mündete in Bauchweh.
»Ich will aber nicht, Papa.«
»Ach was.«
Er hob mich hoch, vor seine Brust, und rannte zum Tiefbecken, neben den kleinen Sprungturm, stellte sich an den Beckenrand und sah mich an.
»Jeder Mensch kann schwimmen. Ganz automatisch. Wir waren ja mal alle Fische und haben das nicht vergessen.«
Ich wusste nicht, dass ich mal ein Fisch war.
»Aber, Papa …«
Er warf mich in hohem Bogen von sich weg. Ich sah alles um mich herum sehr langsam vorbeiziehen, so deutlich und klar, als hätte ich zehn Augen und Ohren. Jedes Geräusch, jede Stimme, jedes Blinzeln steigerte die Deutlichkeit immens. Die Farben wurden intensiver, die Linien scharf wie Messer. Arme und Hände nach oben gerichtet, wusste ich, dass ich schrie, hörte mich aber nicht. Dann durchbrach ich die Wasseroberfläche und glitt ebenso langsam hinein. Die Klarheit verschwand. Alles, was ich über mir sah, schillerte, verschwamm zu Wirbeln, bis es sich beruhigte und ich tiefer sank. Es wurde still. Die Welt war blau, leise, ein paar Luftblasen stiegen auf. In mir pochte etwas, doch ich vermochte es nicht zu hören, nur zu spüren. Die Welt schwieg, so wie ich es mir wünschte, sie löste sich auf. Es gab nur noch Wasser. Dann landete ich auf etwas Hartem und ein dumpfes Geräusch, ein Schatten näherte sich. Es war Mama. Langsam schob sich ihre Hand meinem Arm entgegen. Ein Ruck und wir stiegen auf, erreichten die schillernde Fläche und durchbrachen sie. Ich begriff nicht, was passiert war. Mama sagte meinen Namen. Immer wieder.
»Heinrich! Heinrich, sag was!«
Sie schlug auf meine Backe.
»Aua, Mama! Was ist denn?«
Ihre Augen schlossen sich für einen Moment. Sie schob mich vor sich her zum Beckenrand. Papa zog mich raus und kniete dann vor mir.
»Alles klar, kleiner Mann?«
Ich nickte.
»Ja.« Ich stutzte. »Was ist passiert?«
In meinen Erinnerungen fand ich nur das Handtuch, Mama und Papa, wie wir auf die Nagold starrten. Dann … Papa, wie er sagte, wir wären mal alle Fische gewesen. Ich war aber nass. Warum? Mama kletterte aus dem Wasser, packte meine Hand und zog mich weg.
»Komm, Heinrich, da wartet eine Bockwurst auf uns.«
Wir ließen Papa zurück. Verwirrt wie ich war, dachte ich nicht weiter darüber nach. Eine Bockwurst mit Brötchen und Senf war schließlich etwas Besonderes.
»Au ja«, freute ich mich.
Jemand war unter Wasser und weder ein Rudern mit beiden Armen noch das Strampeln mit den Beinen bewegte diesen Jemand von der Stelle. Nicht nach oben und nicht sonst wohin. Die Panik kam wie ein Hammerschlag. Ein Schrei folgte. Schweiß. Das bin ich? Heinrich!, rief eine Frau. Es war Mama. Ihre Hand kroch schneckenartig durch das Wasser, erreichte mich aber nicht. Ich ertrank. Wieder und wieder. Und das tat weh.
Bis ich begriff, dass Mama mich geschlagen hatte und schüttelte wie eine Tüte Kakaomilch.
»Wach auf, Heinrich! Nur ein schlechter Traum«, sagte sie. Ihr Gesicht direkt vor meiner Nase. Der milde Atem, Mamas Duft, ein wenig Licht im Zimmer vom Flur. Sie lag neben mir und trocknete mit einem Tuch meine Stirn.
»Scheiße«, hörte ich sie sagen und erschrak.
»Scheiße sagt man nicht, Mama. Hast du mir verboten.«
Sie holte tief Luft, atmete aus. Wie ein frischer Wind, der meine Stirn kühlte.
»Entschuldigung«, flüsterte sie. »Ist mir so rausgerutscht.«
Ich überlegte, was passiert war. So wie Papas laute Rufe in den Bergen ein paar Mal zu hören waren, so vernahm ich immer noch diesen Schrei, als ich in mich hineinlauschte. Mein Herz klopfte und eine kalte Hand quetschte meinen Bauch.
»Was hast du denn geträumt?«, wollte Mama wissen.
»Da ist jemand unter Wasser und kann sich nicht bewegen. Und du kommst dann, aber ganz langsam, und dann …«, es schnürte mir die Kehle zu, »ist es, als bin ich auf einmal nicht mehr da.«
Der Kloß löste sich und ich weinte unvermittelt. Mama zog mich an sich. Ihre Finger streiften durch meine Haare, immer wieder und immer auf demselben Weg. Langsam und stetig. Bis ich einschlief.
Ich wurde kaum wach, so müde fühlte ich mich. Alles war feucht vom Schweiß. Die Bilder fegten durch meinen Kopf und verblassten wie Nebel, den die Sonne auflöste. Doch die Angst blieb und ich redete nicht viel. Mama sprach kein Wort mit Papa, der nach kurzer Zeit sagte, er müsse arbeiten und ging. Kurz vor Mittag steckte sie mich in die Badewanne. Ich liebte die Badewanne. Doch dieser Morgen war anders.
»Haare waschen«, sagte Mama und drückte mich nach hinten, um meinen Kopf unter Wasser zu tauchen. Etwas in mir ließ mich aufschreien, Mamas Hand wegdrücken. Schnell richtete ich mich wieder auf.
»Nein!«, rief ich und sie sah mich verstört an. Eine Zeitlang schwieg sie, plätscherte mit den Fingern im schaumigen Wasser. Dann nahm sie ein Sandförmchen.
»Heinrich, ich mach dir einen Vorschlag«, sie lächelte. »Nimm du das Förmchen, gieß dir Wasser über den Kopf wie du magst. Und ich warte, bis du fertig bist. Dann wasche ich deine Haare und du nimmst wieder das Förmchen und spülst alles weg. Ich tippe mit dem Finger dahin, wo noch Seife ist. Sollen wir das so machen?«
Ich entdeckte den kleinen Eimer im Schaumberg unter dem Wasserhahn, griff nach ihm und tauchte ihn ein.
»Prima«, freute sich Mama. »Mit dem Eimer geht das noch viel besser.« Mit Schrecken dachte ich ans Schwimmen lernen und goss Wasser über meinen Kopf. Würde ich das jemals schaffen? Als wir fertig waren, rieb ich meine Augen ein paar Mal und sah Mamas Hinterkopf vor dem Beckenrand. Ein paar ihrer langen Haare hingen ins Wasser. Ich lauschte. Sie weinte leise, schniefte kaum hörbar. Mit den Händen formte ich ein Schiff und ließ es in den Schaum fahren. Was sollte ich tun?
»Mama? Muss ich nicht bald gehen?«, sagte ich nach einer Weile. Es wurde kühl im Wasser.
»Ja, du hast recht. Es wird Zeit«, flüsterte sie, drehte sich um und trocknete ihre Tränen mit dem Handtuch.
»Nimm die Blumen mit und gib sie Michaels Mama. Schließlich hat sie viel Arbeit mit euch und das ist unser Dankeschön.«
»Ja, mach ich, Mama.«
Die Blumen in der rechten Hand, Blüten nach unten, das Geschenk auf der linken Seite, so machte ich mich auf den Weg. Michael wohnte in der Sonnenbergstraße, zwei Straßen unterhalb von Omas Haus. Sein Papa ist ein berühmter Architekt, erklärte Mama eines Tages. Ich war mit Michael im Kindergarten gewesen, aber danach besuchte er eine andere Schule als ich. Eine Privatschule, sagte Papa, und das klang nicht sehr erfreut. Um das Haus wuchs eine sehr hohe Hecke. Von drinnen kam Kindergeschrei. Ich war versucht umzukehren. Aber wie sollte ich das erklären? Also klingelte ich.
Michaels Mutter begrüßte mich. Ich hielt ihr den Strauß hin. Ihr Mund lächelte, aber über ihren Augen zogen sich die Brauen zusammen. Es bildeten sich Falten. Wie bei Oma, wenn sie nicht wusste, was sie von dem halten sollte, was ich ihr erzählte. Zögernd nahm sie mir die Blumen ab.
»Ähm, ja, das wäre aber nicht nötig gewesen.«
»Meine Mama sagt, sie haben ja auch viel Arbeit mit uns.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Na, wie man’s nimmt. Wir haben eine Zugehfrau. Die hat alles gebacken und gekocht, weißt du?«
»Oh«, erwiderte ich. Eine Zugehfrau? Sie drehte sich um.
»Komm, es sind alle draußen im Garten.«
Als wir an der offenen Küche vorbeikamen, legte sie den Strauß auf eine große Platte. Mitsamt dem gelben Papier. Nur ein kleiner Farn schaute heraus. Draußen auf der Terrasse stand ein großer Holztisch mit zwei übervollen Kuchenplatten, dazu Kerzen, Kakao, Schüsseln voller Gummibären und Colaflaschen von Haribo. Ein Paradies.
»Michael! Komm! Heinrich ist da und will dir ein Geschenk geben!«
Er kam angerannt, stoppte kurz vor mir.
»Alles Gute«, sagte ich und streckte die Hand aus. Er griff sich die andere und nahm mir das Geschenk ab.
»Danke«, erwiderte er, riss das Papier auf und musterte den kleinen Karton ganz genau. Zu meiner Überraschung legte er die Schachtel auf einen Stuhl und hüpfte zu den anderen Kindern.
»Was ist es denn für ein Geschenk?«, hörte ich Michaels Mutter hinter mir.
»Ein Müllauto«, antwortete ich, hob es hoch und vor ihr Gesicht.
»Hm, na, das ist doch schon mal was. Ich glaube, so eins hat Michael schon, aber etwas größer. Schau mal da hinten.«
Sie zeigte auf einen Sandkasten am Hauseck. Tatsächlich! Da stand ein großes Müllauto mit Mülleimern und sogar einem Abfallhaufen.
»Leg es doch einfach dazu«, bat sie mich, setzte sich auf einen großen Plastikstuhl, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch hinauf in den blauen Himmel. Ich stellte die Schachtel vor dem Sandkasten ab und setzte mich an den Tisch. Warum bin ich hier?, dachte ich. Mir fiel die Stille unter Wasser ein. Mutters Hand, so nah und doch so fern. Plötzlich kamen die Tränen. Schnell wischte ich mit den Pulloverärmeln über mein Gesicht.
Michaels Mutter rief alle an den Tisch. Wir waren zwölf Jungs und zwei Mädchen. Ich war eingekeilt, was mir gehöriges Unbehagen bereitete. So wie ich es verstand, besuchten alle außer mir die Privatschule, deshalb beschloss ich zu schweigen und Kuchen zu essen. Michaels Mutter führte einige Zauberkunststücke vor, und alsbald schickte sie uns vom Tisch weg, um ihn abzuräumen. Warum, war mir nicht klar. Ich hätte gerne noch ein Stück Käsekuchen gegessen, traute mich aber nicht, das zu sagen. Also setzte ich mich auf die Sandkastenumrandung und spielte mit dem großen Müllauto. Die Eimer begeisterten mich. Sie funktionierten wie bei der richtigen Müllabfuhr. Füllen, einhängen, entleeren. Ich vergaß die Zeit und blickte erst wieder auf, als ein fremder Junge vor mir stand.
»Wie heißt du eigentlich?«, wollte er wissen.
»Heinrich.«
»Du bist aber nicht bei uns auf der Schule«, stellte er fest.
»Nein, in der Sonnenhofschule«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Er überlegte.
»Ist das da oben bei den ganzen neuen Häusern?«
Ich nickte und leerte den Mülleimer aus.
»Das ist die Doofenschule«, erklärte er und ging weg.
Was meinte er mit ‚Doofenschule‘?, überlegte ich und starrte auf mein Geschenk, das immer noch ungeöffnet neben dem Sandkasten auf dem Boden lag. Warum wollte Michael mein Geschenk nicht? Könnte ich es vielleicht wieder mitnehmen und damit in Omas Garten spielen? Durch meine Gedanken hindurch sah ich mehr und mehr Füße vor mir auftauchen.
»Ist das der aus der Doofenschule?«
»Hat er gesagt.«
»Das ist Heinrich«, erläuterte Michael. »Der war bei mir im Kindergarten.«
»Aber der ist bestimmt zu doof, sonst wäre er ja bei uns.«
Jemand stupste mich von der Seite an.
»He! Warum sagst du eigentlich nichts? Kannst du nicht reden?«
Einige lachten. Ich starrte auf die Steinplatten vor mir. Da war es wieder. Mein Bauchweh. Wohin könnte ich verschwinden?
»Auf der Doofenschule müssen sie erst reden lernen.«
»Kinder, Kinder!«, tönte die Stimme von Michaels Mutter aus dem Haus. Sie kam mit schnellen Schritten heraus.
»Lasst mir mal den kleinen Heinrich in Ruhe. Der kann ja nichts dafür, dass seine Eltern kein Geld haben für eine bessere Schule. Ihr müsst einfach mal mit ihm spielen. Dann werdet ihr schon sehen, dass er genau so ist wie ihr.«
»Nee, ist er nicht«, sagte einer. Ich blickte auf und entdeckte, wer das gesagt hatte. Alles in mir zog sich zusammen, mündete in einem Punkt. Meiner Wut. Ein Kern aus Flammen und ich überlegte, wie es wäre, diesen Jungen jetzt sofort umzuhauen. Michaels Mama schnappte sich unerwartet meine Hand und zog mich ins Haus.
»Heinrich, also Kinder können ziemlich furchtbar sein, nicht wahr?«
Sie setzte mich auf einen Hocker am hohen Tisch, der die Küche abtrennte.
»Fühlst du dich unwohl?«
Ich nickte.
»Das kann ich verstehen. Bleib einfach hier bei mir in der Küche«, sagte sie mit einem Lächeln. »Soll ich deine Mama anrufen, dass sie dich abholt?«
»Wir haben kein Telefon. Sie müssen bei den Nachbarn anrufen. Die gehen dann rüber.«
Sie stutzte. »Kein Telefon?«
Ich nannte ihr die Nummer und sie erledigte das Telefonat. Dann stellte sie ein Glas Orangensaft vor mich auf den hohen Tisch.
»Hier, trink das mal. Frischer Orangensaft ist gesund.«
»Danke.«
Mit einem großen Schluck, versuchte ich die Wut zu beseitigen. Im Augenwinkel entdeckte ich den Blumenstrauß. Noch eingewickelt. Der Farn hing jetzt herunter.
Es dauerte lange, bis es klingelte und statt Mama sah ich Papa im Flur, wie er mit Michaels Mutter redete. Er hatte seinen Blaumann an, Fensterleder und -wischer in den Beintaschen. Der Junge vom Sandkasten stellte sich neben mich.
»Wer ist das denn?«, fragte er.
»Mein Papa«, antwortete ich und spürte seinen Blick.
»Ist der irgendwie Mechaniker oder so?«
»Fensterputzer.«
Er sagte nichts mehr und ging weg. Papa winkte mich zu sich.
»Hallo Sohnemann. Bedank dich bei Michaels Mama und sag „auf Wiedersehen“.«
»Vielen Dank und auf Wiedersehen«, kam ich seiner Aufforderung nach.
»Bestens. ‘Doof darf man sein, aber nie unhöflich‘, sage ich immer«, meinte er zu Michaels Mama und tätschelte meinen Kopf. »Und jetzt gehen wir.«
»Äh, ja, danke, dass du hier warst, Heinrich«, verabschiedete sie sich.
Auf dem Nachhauseweg pfiff er ein Lied, rauchte eine Zigarette und ich entschied, nie wieder auf so einen Geburtstag zu gehen.
»Papa?«
»Ja, mein Sohn?«
»Ich werde nie wieder auf einen Geburtstag gehen.«
Er lachte und schnippte die Zigarette weg.
»Wieso das denn?«
»Ich habe keine Lust ausgelacht zu werden. Außerdem bin ich nicht doof.«
»Aha, sie haben dich ausgelacht. Warum?«
»Weil ich auf der Doofenschule bin.«
Er nahm mich auf den Arm und sah mich an.
»Warst du wütend?«
»Und wie.«
»Das ist gut. Beim nächsten Mal kannst du dem Idioten, der das gesagt hat, ruhig eine reinhauen.«
»Aber Mama hat mir verboten, mich zu prügeln«, erwiderte ich.
»Papperlapapp! So was lassen wir uns nicht gefallen, oder?«
Er sah mich herausfordernd an. Was sollte ich tun? Was Mama sagte, war mir wichtiger. Ich fühlte, dass sie recht hatte.
»Und wenn dann ein paar kommen und alle auf mich gehen?«
Papa lachte laut. Er ließ mich wieder auf den Bürgersteig hinab und wir gingen weiter.
»Merk dir, Sohnemann. Wenn vier oder fünf auf dich losgehen, schlägst du so wild um dich, dass mindestens zwei oder drei mit ins Krankenhaus gehen.«
»Ah, aber …«
»Kein aber«, ordnete er an.
Schweigend marschierten wir die Staffel hoch. Ich wusste nicht, was ich von all dem halten sollte. Eines jedoch fühlte ich tief unten in meinem Bauch. Papa war mir so fern und Mama so nah. Aber war das richtig?