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Kaltes Licht

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17.08.2004
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Kaltes Licht

Kaltes Licht​

Licht am Ende des Tunnels. Kaltes, einsames, blaues Licht. Mein Auge schmerzt. Ich blinzle ins Licht, und versuche meine Augen daran zu gewöhnen. Fühlen kann ich nichts, auch denken scheint zu schwer zu sein. Alles ist zu schwer, meine Arme, meine Beine, mein Kopf. Ich kann mich nicht bewegen. Das Licht rückt nicht näher, mir gelingt es nicht, darauf zu zugehen. Ich versuche meinen Arm anzuheben, um nach dem Licht zu greifen - es scheint so nah und doch unerreichbar. Wo befinde ich mich? Mein Kopf rast. Das grelle Schimmern bringt mich durcheinander. Ich weiß nicht wo ich bin...

So richtig aufgewacht bin ich erst Stunden später. Kein Licht war mehr da, auf das es sich gelohnt hätte zu zugehen. Ich wäre sowieso nirgends angekommen. Die Quelle des Lichts entpuppte sich letztendlich als ordinäre OP-Lampe. Ich lag nicht im Sterben, sondern auf einem Tisch im Kreiskrankenhaus und die Ärzte flickten meine Handgelenke wieder zusammen. Ich glaubte - ich hatte fast die Hoffnung - es geschafft zu haben. Ich habe mich gefreut. Habe mich auf die Engel gefreut und das herrliche, warme Licht.

Warum nur hat man mich wieder zusammengesetzt? Ich kann noch nicht laut schreien, mein Körper ist zu schwach dafür. Geist regiert Körper heißt es doch immer. Mein Geist schreit sich die Seele raus, doch der Körper will nicht; da läuft doch was schief. Was erwartet mich nun? Was kommt als nächstes?

Die Zimmertür geht auf und eine ältere Frau wird in ihrem Bett herein gebracht. Ich hasse dieses Krankenhaus, ich hasse die Ärzte, die hier um Leben kämpfen, ohne zu wissen, ob die Lebenden das wollen. Ich hasse dieses weiße Bett, es erinnert mich an die Hoffnung.
Ich mache wieder die Augen zu und tue so, als ob ich schlafe, damit mich nicht wieder einer meiner Zimmergenossen anspricht. Dann sind auch die Angehörigen der anderen Patienten leiser als sonst. Ich mag diese Besuche nicht, ich mag das geheuchelte Interesse nicht, dass man den anderen entgegenbringt.
Wer interessiert sich denn schon ernsthaft für mich? Wenn es da jemanden gäbe, würde ich dann hier liegen? Mit all diesen Schläuchen in meinem Arm? Müsste ich nicht kalt, bleich und steif auf irgendeinem Dachboden baumeln, wenn ich auch nur einen richtigen Freund gehabt hätte? Bedeutet einen Freund zu haben, zu sterben, wann man es für richtig hält? Ist das richtige Freundschaft?

Ich blicke an meinem geschändeten Körper hinab. Ich habe mich selbst geschändet. Das sagte ich immer zu den Menschen, die mich anglotzten oder fragten, wer mir denn all die Narben da zugefügt hätte.

Wenn man die Narben nur lange genug betrachtet, beginnen sie Geschichten zu erzählen. Sie berichten von der Vergangenheit, sie sind ein lebendes Tagebuch. Mein Kopf schmerzt immer noch. Ich kann meinen Blick dennoch nicht vom Arm richten. Kindheitserinnerungen dringen nach oben. Ich sehe, wie die Narben sich langsam öffnen und Blut daraus hervordringt. Kleine Tropfen kreischen meinen Arm entlang und sammeln sich an der Hand. Ich sehe einen Tropfen und blicke hinein, blicke hindurch. Nun habe ich meine eigene rosarote Brille. Ich glaube, ich lache leise. Körper regiert Geist. Jemand macht das Licht dunkler, die Sonne verzieht sich. Ist es schon Nacht? Ist es die eine Nacht, die ich suche, die ich immer schon gesucht habe?

Man hat mich erneut zusammengebaut. Ich weiß immer noch nicht warum. Sie haben mir meine Hände am Bett fixiert. ‚Zu meinem eigenen Besten’ haben sie gesagt. ‚Sie können sich doch nicht an ihren frisch operierten Handgelenken kratzen!’ hat die Schwester gerufen. Ich hoffe, ich habe zu dem Zeitpunkt immer noch gelacht.

Ich habe jetzt ein einzelnes Zimmer. Ruhe. Wie lange liege ich schon hier? Die Zeit hat ihren Rhythmus verloren. Tag und Nacht werden bedeutungslos, sie verschwimmen. Die Sonne geht hundertmal am Tag auf und hundertmal unter.

Sie haben mir Lebenselixier gegeben. Damit ich wieder kräftiger werde. Damit ich die ‚schlimme Zeit’ gut überstehe. Dabei müssten sie mir weniger geben, damit die schlimme Zeit ein Ende findet. Eine Zeitlang habe ich versucht, dass der Schwester klarzumachen, habe geheult und geschrieen und gejammert und geflucht. Körper regiert Geist. Man hat mir meinen Geist ausgeschaltet. Ob meine Hände schon abgestorben sind? Nein, ich kann die Finger immer noch bewegen, auf und ab, auf und ab.

Die Tür geht auf. Ich schließe schnell die Augen. Eine Frau kommt zu meinem Bett. Sie spricht zu mir, doch ich höre nicht auf ihre Worte. Wenn man sich nur lange genug darauf konzentriert ergeben ihre Worte keinen Sinn mehr. Sprich hundertmal Baum und das Wort verliert seine Bedeutung. Sprich hundertmal „ich“ und du verlierst deine Bedeutung. Ich lächle wieder. Ohne meine Augen zu öffnen, weiß ich, dass sie mein Lächeln falsch interpretieren wird. Es wird wieder Nacht.

Ich kann wieder klar denken. Man hat sich entschlossen, meinem Geist eine neue Chance zu geben und hat das Tor wieder geöffnet. Auch meine Hände sind wieder frei – nur über den Handgelenken liegen Manschetten, die ich nicht abbekomme. Was geschieht nun? Ich darf nun auch wieder aufstehen und herum laufen, so viel ich möchte. Ich darf mich nur nicht der Tür mit Ausgang nähern.

Dafür kommt die Frau jetzt öfters, fast jeden Tag und spricht mit ihrer sonoren, dümmlichen Stimme auf mich ein. Sie sagt mir, dass ich mich erinnern müsste, dass ich zurückschauen soll und ihr mal die guten Dinge erzählen soll, die ich erlebt hätte. Ich erzähle ihr von meinen Engeln. Ich blicke auf meine Narben, um mein Gedächtnis anzuregen.

Oft spreche ich gar nicht mit ihr. Ich liege dann nur einfach still in meinem Hoffnungsbett, so habe ich das Ding inzwischen getauft, und starre an die Decke. Sie gibt nicht auf, ich kann tun was ich will.
Heute hat mich die Frau am Arm nach draußen geführt, damit ich die wunderschöne Welt der Farben betrachten kann. Mit der warmen Sonne auf dem Gesicht gehe ich durch einen Park. Das Bild wird von den Zäunen ringsum getrübt. Mein Blick frisst sich an den Zäunen fest. Die Bäume verschwinden und die Sonne wird kalt. Die Vögel erheben sich aus dem Geäst und fliegen kreischend weg. Ich wünschte, ich könnte mit ihnen gehen. Ich erzähle der Frau von den Zäunen, beschreibe den Ausblick, den ich habe.
Wieder und wieder soll ich mich erinnern und ihr davon erzählen. Ich halte ihr einen Arm hin und sage ihr, dass sie es sich doch selbst ansehen soll. Dann würde ich viel Zeit und Energie sparen. Energie sparen ist wichtig, erkläre ich ihr, besonders heutzutage, wo doch die Welt ihrem Untergang entgegeneilt. Ihr dämliches Gesicht zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Sie erwidert es und blickt angestrengt auf meinen Arm. So wird das nichts, gute Frau, denke ich mir und suche mit dem Blick wieder die Begrenzungen.
Man lässt mich nicht mehr nach Hause. Hier ist es ebenso schlecht wie überall sonst auch. Man bescheinigt mir nun auch offiziell stark depressive Veranlagungen mit einem Hang zum Suizid. Nette Umschreibung. Die Frau kommt nicht mehr. Scheinbar habe ich wieder einmal gewonnen – verloren.
Eine andere Frau kommt nun jeden Tag. Sie stellt nie die Frage nach den Erinnerungsnarben. Sie will, dass ich meine Gefühle ausdrücken soll. Mit Bildern, Musik, Gesang oder Dichtung. Was mir am besten gefällt. Was mir Spaß macht. So wie es aussieht, merkt sie nicht, dass ich meine Gefühle stets an meinem Armen ausdrückte. Das ist wohl der falsche Weg, sagt sie. Also fange ich an Gedichte zu schreiben. Ich komme sehr schnell dahinter, was sie am liebsten hören möchte; welche Wörter bei ihr ein Klingeln auslösen.
Sie macht es besser als ihre Vorgängerin. Sie bringt mich manches Mal wirklich zum Nachdenken. Mein Prinzip des Sterbens funktioniert wieder; Geist regiert Körper. Sie sagt, meine negativen Gefühle lassen sich umwandeln zu Glück, Hoffnung und solchen abstrakten, toten Dinge. Ich glaube ihr nicht. Auch sie kann mich nicht verstehen.

Ich zeige ihr meine Narben und blicke sie wortlos an. Ich frage sie, wann ich wieder nach Hause darf. Natürlich kommt wie immer nur eine Gegenfrage von ihr: Wo ich denn zu Hause sei. Wo ich denn hin will. Was ich dann vorhabe. Eine weitere Möglichkeit, ihr Unverständnis verschleiern zu wollen.
Ich erzähle ihr von meiner Vergangenheit, was mir passiert ist. Falsche Freunde, Drogenkarriere par exellence, das typische Verhaltensbild eines frühreifen Teenagers im neuen Jahrtausend. Ich beschränke mich dann nur noch auf den Anker Alkohol, Drogen kann ich mir nicht mehr leisten, meine Freunde ziehen auch nicht mehr mit. Wenn ich mich nur stark genug erinnere, glaube ich sogar, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch Hoffnung auf ein besseres, alltägliches, stupides Leben hatte. Ich führte ein unauffälliges Leben, stand im Schatten anderer, versuchte hervorzutreten und geriet nur immer tiefer hinein.

Dann kam sie. Ich sah sie, wie sie auf den Bus wartete. Sie saß auf der Bordsteinkante und rauchte. Erkennen konnte ich nichts, denn sie hatte eine Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen. Sie faszinierte mich vom ersten Augenblick an. Sanft war sie, zierlich und schlicht. So wie ich immer sein wollte. Ich erkannte meine Wünsche, meine Ziele und meine Hoffnung in ihr verwirklicht. Anmutig. Nach einiger Zeit wusste ich ihren Namen, wusste, wo sie herkam, wusste, auf welcher Schule sie war. Ich verschleierte mein Interesse, nie offenbarte ich meine Gefühle für sie. Keinem. Ich lief ihr hinterher, ich blickte sie heimlich an, sooft ich nur konnte. Doch nie sprach ich mit ihr. Ich wollte, ich konnte das Bild von ihr in mir nicht verändern. Ich hätte es zerstört, und das hätte ich nicht ertragen können. Aber es hat mich zerstört. Eines Abends war ich auf einer Party und da saß sie. Dritte Narbe rechts oben; Unterarm. Ich starre die Narbe an. Sie öffnet sich und die Erinnerung fließt heraus. Ich trank mir Mut an und ging auf sie zu. Wie in Trance setzte ich mich zu ihr und sprach zum ersten Male mit ihr. Und zum letzten Male. Und trotzdem waren es die besten Minuten in meinem Leben. Nie wieder war mein Geist derart frei von Sorgen. Nie werde ich diese Augenblicke vergessen. Nie darf ich sie vergessen. Die Narbe blutet weiter ihre schmerzlichen Erinnerungen aus. Abbruch. Sie war nicht ihm geringsten an mir interessiert, nie hatte sie meine Blicke gespürt, mein Verlangen und meine letzten Hoffnungen, die ich ihr schicken wollte. Sie war weg. Ich war weg.

Ich ergab mich dem Alkohol, er überholte meinen Geist und meinen Körper. Viele Wochen lang. Monate. Auch heute spüre ich deutlich dieses erste Brennen, das meinem Herzen diese jungfräuliche Verwundung beigebracht hatte. Wie am ersten Tag. Suizid – Gefährdet. Depressiv. Diese Worte formten sich in den Wochen danach in meinem Geist und beherrschten ihn. Sie verdrängten alles andere, alle guten und brauchbaren Gefühle, bis sie selbst zu den Brauchbaren geworden waren. Geist beherrscht Körper. Mein Körper ergab sich meinem Geist. Ich nahm ab, der Alkohol und die Schlaflosigkeit taten ein Übriges.

Mit all dem begann ich meine „Aufarbeitung“ meiner alten Gefühle; mit der Ausmerzung der schädlichen Triebe, die sie in meinem Geist gepflanzt haben. Eine Chemotherapie. Ich wurde sehr müde. Tag und Nacht verschwammen wieder, wurden eine fließende Einheit meines Bewusstseins. Ich erwache manchmal und schreie mir meine Qual heraus, bis ich heiser bin.
Die Stundengespräche mit ihr vergehen schneller und angenehmer. Ich erzähle, sie hört zu. So läuft das wohl. Doch keine Erleichterung tritt ein, die Narben laufen wieder und wieder und das Brennen in meinem Herzen wird wieder stärker. Von Mal zu Mal.

Unterstützung soll ich mir von meiner Familie holen. Familie. Belächelt wurde ich von ihr. Keine Gefühle zeigen – oberste Priorität. Kalt sein, nicht weinen, nicht schreien, nicht klagen. Immer stramm der Ordnung nach. Ich sollte schon von klein auf Bedingungen erfüllen, die ich niemals erreichen konnte. Fehlverhalten wird nicht akzeptiert, außer sie sind nützlich um sie mir vorzuhalten. Respekt und Selbstbewusstsein wird im Keim erstickt. Davon haben meine Geschwister schon mehr als genug, ich bin der Mühe nicht mehr wert. Man will wieder sein Leben zurückhaben; Störfaktor: Ich. Ich versuche mich unterzuordnen, mein Leben außerfamiliär zu packen. Aber ich kann nicht auf einem Bein im Sturm stehen. Niemand kann das. Niemand.
Der Sturm wird aber stärker werden und ich wanke schon zu sehr. Ich spalte mich von meiner Familie ab und stütze mich eben auf andere. Anfangs geht das. Bis zu einer gewissen Windstärke.

Die Zeit ist um. Ich bin mit der Schule fertig, mein Ergebnis ist ordentlich. Nicht ordentlich genug. Klar. Aber es reicht um mein Zuhause endlich verlassen zu können. Ich ziehe also in eine andere Gegend, leiste meinen Dienst am Vaterland ab und freue mich alleine zu sein. Allein.

Wieder ein Signal, Oberarm. Öffne dich schnell, ich weiß nicht, wie viel Kraft ich noch habe dich anzustarren. Ich brauche die Erinnerung jetzt. Geschafft.

Ich sitze nun allein in meiner viel zu großen Wohnung. Ich arbeite wie ein Besessener. Ich versuche mein Körper – Geist – Verständnis umzukehren. Es gelingt mir bis Dienstschluss, danach ist Schluss mit dem Dienst des Körpers. Der Geist gewinnt jeden Abend die Oberhand. Ich lade mir Freunde ein, mache Party, lache und trinke. Trinke und lache. In mitten vieler stehe ich dennoch alleine. Ich kann meine Gefühle nicht ausdrücken, mich nicht artikulieren. Zu dem Alleinsein gesellt sich nach und nach ein neuer Freund. Eine neue Metastase. Angst. Normale Angst kenne ich schon zur Genüge, aber diese ist neu. Angst der Verschwendung. Lebensverschwendung. Ich flüchte mich monatelang in Schutzbehauptungen, um nicht das Haus verlassen zu müssen. Es ist krank, ich will nach links und gehe nach rechts. Ich habe Durst und fange an Salz zu lecken.

Ich flüchte mich in meine erste Beziehung. Es widert mich an, aber ich muss es tun. Ich habe die verdammte Pflicht, meinem Leben das zu geben, was ich eigentlich nicht will. Der Körper regiert wieder den Geist. Ich rede mir ein, es geschafft zu haben. Ich gehe mit riesigen Schritten auf das Licht zu und sehe nicht den Abgrund, der mich davon trennt.

 

Malachy schrieb über seine Geschichte:

Ich bin ganz neu hier, begrüße euch kurz und stelle meine Kurzgeschichte hier rein.
bitte solche Kommentare als Extra-Posting darunter.

Herzlich willkommen. :)

 

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