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Michi
"Es ist ein Mädchen!"
Doktor Lehmann hatte mich und meinen Freund angestrahlt, als hätten wir gerade im Lotto gewonnen, während sie uns das Ultraschallbild genauer erläuterte. Tobias hatte meine Hand gedrückt und ich hatte gespürt dass er nervös war. Wir waren beide so nervös gewesen. "19 ist kein Alter zum Kinderkriegen!", hatte meine Mutter gesagt, und dass, wenn ich das Kind denn behalten wollen würde, ich schon selber würde sehen müssen wie ich über die Runden käme. Und das haben wir dann auch getan. Gut, Tobis Vater hatte uns ein wenig unter die Arme gegriffen, aber der hatte selbst nicht viel. Also war nichts mit studieren, obwohl Tobi einen Schnitt von 1,2 hatte. Und einen Traum von Medizin. Es tut mir leid für ihn, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Er ist dann Manager geworden, in irgend so einer großen Firma. Genau weiß ich das nicht mehr, nur noch dass sie ihm ganz gut gezahlt haben, und das hatten wir auch nötig. Ich habe bis zur 34. Woche an der Kasse gearbeitet, und so sind wir ganz gut ausgekommen. Und nicht nur das, wir konnten auch vor der Geburt schon ein kleines Zimmer einrichten, mit Bett und Tapete und Bauklötzen.
Am 22. April 2002, früh morgens, setzten die Wehen ein und ich weiß noch dass die Schmerzen so schlimm waren, dass ich dachte mein Unterleib würde in Stücke gerissen werden, wenn ich anfangen würde zu pressen. Um 12:19 erblickte meine kleine Michaela das Licht der Welt, und ab dann war alles anders.
Obwohl Tobi und ich fast keinen Schlaf abbekamen und uns häufig stritten, weil er nie da und ich zu hysterisch war, war Michi das Beste Geschenk was ich je erhalten hatte. Ich liebe mein Kind, wie sonst nichts auf dieser Welt. Und Tobi begriff das irgendwann auch. Blieb noch ein paar Jahre, denn auch er vergötterte Michi, dann jedoch trennten wir uns, in Freundschaft. Wir hatten beide gewusst, dass die Beziehung schon längst zu Ende gewesen war. Michi kam in den Kindergarten und ich begann eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Lernte einen Mann, Kai, kennen und lieben. Er war ganz vernarrt in "seine Michaela", las ihr vor, kaufte Kleider und Puppen, und später Eishockeyschläger und Konzerttickets. Ich hatte es geschafft. Ich hatte eine eigene kleine Familie.
Habe eine eigene kleine Familie, erinnere ich mich und stehe auf. Laufe zum Fenster des kleinen weißen Raums und lehne mich gegen das Fensterbrett. Automatisch gleiten meine Augen wieder auf das Krankenbett meines Kindes. Mein Baby sieht so klein aus in den bauschigen Federn, und es schnürt mir den Magen zu. Ich habe Angst. Angst dass die wunderschönen braunen Augen meines Kindes nie wieder aufgehen werden. Aber eigentlich ist diese Angst unbegründet. Oder?
Ich wünschte Kai wäre heute hier, aber er ist in Ankara, ein wichtiger, unverschiebbarer Termin seiner Arbeit, hat er gesagt. Außerdem ist es ihm ein wenig unheimlich, hat er mir vor ein paar Tagen gestanden. "Aber sie ist doch noch ein Kind ..." hatte er gestammelt, und Michi war zusammengezuckt und aus der Tür gestürmt. Also war Kai heute nicht hier. Ich drehe mich um, zwinge mich, meinen Blick von Michi abzuwenden. Das Fenster geht zum Innenhof der Klinik raus und für ein paar Momente beobachte ich die vielen Rollstuhlfahrer dort unten im Hof, die die letzten Sonnenstrahlen des milden Herbsttages genießen, dann schweifen meine Gedanken wieder ab.
Habe ich das Richtige getan? Vielleicht hatte Kai recht, und wir hätten noch warten sollen. Aber Michi hatte sich so gefreut ...
Ich streiche mir nervös die Haare hinter die Ohren, eine Angewohnheit, die ich eigentlich schon vor Jahren abgelegt hatte. Wenn meine Mutter mich jetzt sehen könnte ... Ich erlaube mir ein halbes Lächeln, ich kann sie vor mir sehen, wie sie mir mit einem Kreuz im Gesicht rumfuchtelt und mir droht, meinen Vater zu holen, oder den Herrn Pfarrer, oder gleich einen Anwalt. Das Lächeln rutscht mir aus dem Gesicht.
Gibt es solche Anwälte? Die Leute wie uns verklagen? Und wenn ja, wer steht dann letztendlich vor Gericht, Michi7 oder ich? Ich wische die Gedanken beiseite. Niemand verklagt uns. Und selbst wenn, das war es wert. Wenn Michi dafür glücklich ist, lass ich mich sogar verklagen. Michi ist alles was zählt.
Die Bettdecke raschelt leise und ich fahre herum, durchquere mit schnellen Schritten den Raum und bleibe dann wie angewurzelt vor dem Bett stehen. Michis Augenlider flattern, und eine Hand sucht die Meine. Erwartungsvoll sehe ich mein Baby an, und als die Augen schließlich vollends aufgehen, spüre ich, wie Tränen in die meinen steigen. Und dann sage ich die Worte, die damals mein Leben verändert hatten noch einmal. Es fühlt sich richtig an.
"Es ist ein Junge" flüstere ich.