Klassimus im Litbetrieb, über Arbeit wird nicht geschrieben, Oberschicht reproduziert sich selbst.
Hallo
@zigga,
ich nehme da mal eine krasse Gegenposition und behaupte, dass wir in Kulturzeiten leben, die quasi vom Denken und der Symbolik der Unterschicht dominiert sind – und zwar in einer Weise, die zu einer Art "Shaming" von allem führt, was (hoch)kulturell distinguiert ist.
Du lieferst hier unbewusst einen schönen Beleg für meine Theorie, sprichst von "Oberschicht" im Zusammenhang mit dem Bildungsbürgertum. Dabei ist ein akademischer Grad bei Weiten nichts, was dich in die Oberschicht führt. Und spätestens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Kunst und Kulturszene beherrscht von Kindern der Mittelschicht – die Oberschicht ist da höchstens als Käufer und Konsument präsent.
Halten wir trotzdem fest: Ja, Kunst kommt meistens nicht von ganz unten, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Aber soll man sich jetzt dafür schämen, dass man nicht aus der Gosse kommt bzw. ohne jegliche Bildung und ohne Mittel aufgewachsen ist? Die Mittelschicht hat doch keinen goldenen Löffel im Arsch, sondern besteht aus Menschen, deren Leben genauso von Arbeit dominiert wird wie das der Unterschicht – oft sogar noch mehr, denn ganz unten lauert ja oft die Arbeitslosigkeit.
Doch wie gesagt, in meinen Augen hat sich das in de letzten Jahrzehnten stark verändert und seit den 80ern und 90ern hat eine Kulturrevolution von unten stattgefunden, getragen hauptsächlich von Hollywood (siehe Komödien und auch Serien wie "Roseanne" oder "Eine schrecklich nette Familie") und der Musikwelt, allen voran dem Hiphop, die Proletentum, neureiche Attitüden und ein archaisches, aggressives Kampfverhalten zum neuen Goldstandard gemacht haben. Ironischerweise haben dabei natürlich nicht die Minderpriviligierten selbst die Fäden in der Hand gehabt. Aber das Ergebnis ist gleich: Seit den Nullerjahren kann man gesellschaftsschichtsunabhängig in Jogginghose vor die Tür gehen, offen Tattoos tragen, kann man mit seinen Muskeln prahlen oder damit, wie viel Bier man am Ballermann säuft. Hat man in den 60ern Muhammad Ali beim "Fechten mit der Faust" zugeschaut, weil er nicht nur Sportler, sondern eine Bürgerrechtsikone war, so wird heute Mike Tyson verehrt, weil er sich wie ein wildes Tier verhalten hat, und MMA breitet sich aus – Gladiatorenkämpfe, die die asiatischen Kampfkünste um all das beraubt haben, was an ihnen kulturell und geistig war. Frauen laufen figurunabhängig in hautengen Leggins rum, geben so entweder mit ihrer Disziplin an oder mit der Absenz von Disziplin, wobei entscheidend ist, dass man heute offen mit Dingen angeben kann, ohne sofort sozial abgestraft zu werden. Sex und Intimität sind im Grunde wertlos geworden, Beziehungen nie exklusiv, weil der Katalog mit Alternativen immer nur einen Klick entfernt ist. Auch hier steht mehr und mehr das Physische im Vordergrund.
Auf der anderen Seite sind wir kultur- und geistskeptisch geworden: Während Grass, Walser, Frisch und Co. in der zweiten Hälfte des 20. Jh. noch für ihre hochintellektuellen Leistungen gewürdigt wurden, schlägt heute jedem Kulturschaffenden, der in geistig höhere Sphären vordringen will, Misstrauen bis hin zu Verachtung entgegen – Chancen auf Erfolg haben gefühlt nur noch Minderprivilegierte und Aufsteiger, so scheint es mir. Es ist im Grunde unmöglich geworden, ein sprachkunstfertiges Gedicht oder lange Sätze zu schreiben, ohne die spöttische Parodie derselben nicht schon selbst mitzudenken.
Warum ist das eigentlich alles so? – Ist es nicht eigentlich egal, wo jemand herkommt? Entscheidet nicht, was am Ende als Gedanke und Werk für sich steht? Und sollte es nicht genau das Ziel sein, vor allem seinen Kopf und weniger seinen Körper zu benutzen?
Die ständige, rückblickende Demontage von Kulturgrössen wegen irgendwelchen Nazi-Vergangenheiten passt übrigens auch in diesen Krieg gegen Leistung und Status: Früher hat die Gesellschaft ihrer Elite das meiste vergeben, heute wird wirklich alles zu einer massiven Kritik aufgebläht, solange man jemanden damit von einem Sockel stoßen kann.
Ich sage damit nicht, dass wir weiter in blinde Heldenverehrung verfallen sollten. Aber ich wundere mich schon, ob es so klug ist, wenn wir als Gesellschaft überhaupt niemanden mehr als Referenz und Elite anerkennen und stattdessen bei Instagram und Co. immer mehr Aufmerksamkeit und Bewunderung über Leute auskippen, die einfach mal gar nichts draufhaben im geistig-kulturellen Sinne.
Und ich frage mich auch, ob wir unsere Werte wirklich vor allem aus der Arbeiterklasse schöpfen sollten, wo ja gerade der härteste Kampf um die Ressourcen herrscht und humanistische Werte vielleicht gerade nicht geheiligt werden. Klar, es ist eine Wahrheit, dass erst das Fressen und dann die Moral kommt – und solche Logiken deutlich abzubilden, ist reizvoll und fesselnd und authentisch. Aber dient uns dieses Abbilden vom Leben als Kampf als moralisches Leitbild?
Darum habe ich oben den Hiphop erwähnt: Anfangs hat er alarmierende Zustände in den "Ghettos" dokumentiert und abgebildet. Aber dann ist dieser Lifestyle mehr und mehr zum sozialen Leitbild geworden und heute will jeder Zweite Gangster sein (oder ein turbokapitalistischer Player à la Wolf of Wallstreet).
In meinen Augen würde es überhaupt nicht schaden, wenn wir wieder mehr Elite und Hochkultur zulassen als Gesellschaft. Das heißt ja nicht, die Arbeiterklasse per se abzuwerten. Es heißt nur, klar zu benennen, wo Menschen sich proaktiv in den Zustand des Menschseins begeben, wo sie reflektieren, verfälschen, verändern, erdichten usw. Der Mensch wird ja nicht durch das nackte Überleben zum Mensch, sondern durch all das, was er da oben drauf pfropft.
Wie siehst du das?
Nachtrag:
Mir fällt übrigens auch noch auf, dass es umgekehrt hochklassistisch ist, die Absenz von Sicherheiten, Bildung und Privilegien zum Ausweis von echter "Arbeiterschaft" zu machen. Arbeit ist doch im eigentlichen Sinne keine soziale Kategorie, sondern eine Tätigkeit. Ob jemand "ein echter Arbeiter" ist, sollte sich in meinen Augen daran festmachen, ob und wie er die entsprechenden Tätigkeiten ausführt.
Wenn ein Adliger pünktlich um sieben Uhr auf der Baustelle steht, den ganzen Tag das tut, was er tun soll, seine Kollegen gut behandelt usw., dann ist er vielleicht kein erbrechtlicher, aber ein guter, vielleicht sogar ein "echter" Arbeiter und wird unabhängig von seiner Herkunft auf der Baustelle Respekt erfahren. Und er wird sich natürlich auch zu einem hohen Grad in seine Kollegen hineinversetzen können, denn so schwer ist es ja nun auch nicht, sich gewisse weitere Dinge vorzustellen, wenn man sich einen Gutteil der Erlebniswelt schon erschlossen hat.
Und auch in der moralischen Bewertung kann man die Sache umdrehen: Anstatt von einem privilegierten "Touristen" zu sprechen, der voyeuristisch ein anderes Milieu ausschlachtet, kann man genauso gut sagen: Er hatte nicht die für sein eigenes Milieu typischen Scheuklappen auf und war sich selbst für nichts zu schade. Aus einem Defizit wird im Handumdrehen ein Ausweis von Charakter und Größe.