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Wir waren eine Band
Cleo studiert jetzt Psychologie in Kiel. Sie hat mich vollkommen durchschaut und in Einzelteile zerlegt. Psychologinnen lernen das ja. Sie müssen im Studium in einen Spiegel schauen und ihre Pupillen justieren, bis sich die Seele dreidimensional erhebt. Bildfreudige Kinder kennen ähnliche Verfahren aus den Magischen Bildern, die in Vorschulklassen zirkulieren. Aus einem Vielfarbenbild erhebt sich eine dreidimensionale Form, ein Nilpferd oder ein Reiter vor einer Mühle.
Ich arbeite lieber mit dem Ohr. Für The Channel, unsere ehemalige Band, schrieb ich die Texte. Ich legte mein Ohr auf die Zeilen und fühlte die Buchstaben auf langen Bahnen eine Schleife hoch und eine Rampe herunterfahren. Sie führten lange Kreise aus, Loopings und Möbius-Schleifen bis zum Mathe-Tod und formten Knoten, die mich schwindelig in den kreativen Zweifelsinn trieben. Mein Ohr ist nicht absolut rein, aber für Juso-Feste oder zur Untermalung eines Schulkonzerts hat es ausgereicht. Ich denke aber, dass mein Ohr mehr konnte. Es hätte einer besseren Förderung gebraucht, die präzise die Kanäle benennt, über die Buchstaben in Hoch- und Tieftöne intoniert werden.
Unser Sänger hieß Frank. Auch ihn hat Cleo vollkommen durchschaut. Seine Einzelteile hat sie sachgerecht geordnet, beschriftet und eingetütet wie die Teebeutel in Teetütchen einer Teekiste. Die Teetütchen beschreiben zwischenmenschliche Ätherdinge wie Harmonie, Entspannungsdistel oder Solidarischen Lavendel.
"Die Scharniere quietschen", sagt Cleo.
Frank ölt die Scharniere.
"Das eine Fach ist unquadratisch."
Frank quadriert das eine Fach.
"Was denn das? Bluthitze?"
Frank entfernt den Teescherzartikel und entsorgt ihn in der Wertstofftonne.
"Manchmal", sagt Cleo: "kann es helfen, sich seine soziale Rolle als Tier vorzustellen. Man sollte seine soziale Identität auf ein Tier übertragen. Das qualitative Testverfahren Tier und Selbst dient dazu, frühkindliche Konflikte aufzuspüren und so postkindliche Konflikte zu entschärfen."
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Ich kreise zu Boden und lande sanft auf den Resten großer Tiere. Sie haben gelebt und sie haben erlebt. Jetzt arbeite ich mich an ihnen ab. Ich nähre mich von tierischem Aas und verwandle es in chemische Energie. Ein guter Aasgeier respektiert das erlebte Leben. Gesättigt öffnet er seine kargen Flügel und steigt hoch. Ich habe Respekt. Ich bin ein sehr respektvoller Aasgeier. Das Gegenteil eines respektvollen Aasgeiers ist der Sandwurm. Er frisst den Sand auf, den wir im Winter brauchen, um unsere Straßen zu streuen. Der winterliche Oberschenkelhalsbruch ist Schuld des Sandwurms. Die Einweisungen und Überlastungen der Rendsburger Stadtchirurgie sind seine Schuld. Trotzdem mögen die Menschen den Sandwurm. Cleo zum Beispiel liebt den Sandwurm, sagt sie. Sie mag seine fette Kraft und seine Gier nach Sand. Sie schätzt seine evolutionäre Fitness. Aasgeier hingegen dienen der biologischen Resteverwertung. Den Aasgeier verachten die Menschen. Ein typischer Sandwurm heißt Frank. Ich denke, dass jeder Aasgeier eines Tages einen Sandwurm zieht. Das macht man unter Aasgeiern eben so. Es ist wie mit den Möwen am Rendsburger Bahnhof: Auch sie stehlen die Fische aus den Brötchen der Touristen.
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Der Frank und seine Freundin Cleo, die ich in Tier und Selbst als Drachenfee einordne, befinden sich zehn Meter hinter mir. Wir haben vor drei Stunden zum letzten Mal ein Fest musikalisch untermalt. Tja, da sitze ich also. Ich kann sie nicht sehen. Ich höre aber ihre Rufe. Ich denke, sie verschlingen sich gegenseitig zu einer nackten, hautfarbenen Kugel. Sie rollt im schmalen Kleinbus, ein japanisches Modell, gegen die Innenwand und klopft und beult den Lack nach außen aus. Aus ihrem Inneren dünstet ein giftiges Gas aus, das die Scheiben gelblich beschlagen lässt. Vielleicht eine seltene Form von Schwefelwasserstoff. Ich weiß es nicht.
Manchmal sorge ich mich um die Statik des Kleinbusses. Eine Island-Böe oder ein Kugelblitz und der Kleinbus fällt zur Seite. Vom Winde verdrängt. Und bleibt liegen. Bleibt lange liegen. Fährt die Achse aus und markiert die Position für Schlepp- und Rettungsdienst. Die Reifen leuchten in der Dunkelheit rötlich und blinken wie die Luftschutzlichter der Windräder.
Ich kenne ihr Ritual. Ihre Prozedur der Kugelwerdung und Kugelteilung. Ich kenne es so gut, dass ich ihren Anfang und das Ende bestimmen kann. Bisher nahm ich die Prozedur einfach ab.
Ich lege mein Ohr auf die Kniescheibe und horche meine inneren Tonfolgen ab. In der linken Hosentasche halte ich den Autoschlüssel. Ich erhebe mich. Ich laufe die Schritte zum Kleinbus und schiebe die Tür auseinander.
Die Kugel plumpst in den Rastplatzsand. Sie ist behaart, etwa hüfthoch und riecht streng nach altem Ei. Ich gehe in die Knie und gebe der Kugel einen Kugelstoß. Ersteres ist wichtig, da ein gesunder Geist nur auf einem gesunden Rücken thronen kann. Die Kugel rollt fort. Ich sehe sie die lange Landstraße herunterrollen, an Weiden der Milchviehwirtschaft entlang, bis zum Horizont. Dann steige ich in den Kleinbus und fahre in die andere Richtung.